Die bedürfnisangepasste Behandlung
Anfang der 1970er Jahren entwickelte die Arbeitsgruppe um Alanen die bedürfnisangepasste Behandlung im Kontext der Erstbehandlung von Patient_innen mit psychotischen Krisen. Das wichtigste Merkmal dieses Behandlungsansatzes waren „Therapieversammlungen“ bzw. Netzwerkgespräche, die bei erstmaligem Auftreten einer psychischen Krise gleich zu Beginn mit dem Patienten, seinen Familienangehörigen und anderen wichtigen Personen seines Netzwerks durchgeführt und über den gesamten Behandlungsprozesses je nach Bedarf fortgesetzt wurden (Alanen
1997). Die Therapieversammlungen waren strukturell in weitere Behandlungsmöglichkeiten eingebettet, die bedarfsorientiert flexibel in Anspruch genommen werden konnten (Aderhold et al. (Hrsg.)
2003; Aderhold und Greve
2010)
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Multiprofessionelle ambulante mobile Teams
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Krisendienst über 24 h
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Akutstation im Krankenhaus
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Eventuell eine Krisenwohnung (erstmals im Parachute-Projekt in Schweden ab 1996)
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Individualpsychotherapie
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Kunsttherapie, Musiktherapie, Ergotherapie
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Unterstütztes Arbeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt (später hinzugekommen)
Dabei wird in Anlehnung an Ciompi (
1982) von einem integrativen biopsychosozialen Krankheitsmodell ausgegangen, das psychische Krisen stets im Zusammenhang mit belastenden Lebenssituationen konzeptualisiert. Auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung kann nach diesem generischen Modell als eine Störung aufgefasst werden, deren Ätiologie weitestgehend auf eine Wechselwirkung zwischen angeborenen und erworbenen Beeinträchtigungen, späteren psychosozialen Belastungen (z. B. durch traumatische Erfahrungen, familiäre Konflikte) sowie mangelnden kompensatorischen Ressourcen zurück geführt wird (siehe Schore
1997).
Im Zuge jahrelanger praktischer Erfahrungen wurden Grundprinzipien der bedürfnisangepassten Behandlung formuliert. Hierzu zählen (Alanen
1997, S. 196 ff.; Aderhold et al. (Hrsg.)
2003, S. 68 f.):
1.
Die therapeutischen Aktivitäten werden in jedem Fall individuell geplant und flexibel ausgeführt, so dass sie den wirklichen, veränderlichen Bedürfnissen der Patient_innen ebenso entsprechen wie den Menschen, die ihr persönliches soziales Netzwerk (meist ihre Familie) bilden.
2.
Die Patient_innen sollen in Situationen, die ihre Behandlung betreffen, anwesend sein. Sie gelten als Expert_innen ihrer eigenen Lebenssituation. Wenn die Patient_innen beteiligt werden, so ist dies hilfreich, die Realitätskontrolle zurückzugewinnen. Es ist Aufgabe der Mitarbeiter_innen, die Gespräche so zu moderieren, dass dies möglich wird.
3.
Es werden regelmäßig gemeinsame Treffen von Mitarbeiter_innen mit Patient_innen, Familienangehörigen und/oder anderen wichtigen Personen aus dem Netzwerk ihrer Beziehungen durchgeführt. Dies beginnt mit einem intensiven anfänglichen Assessment, wenn die Patient_innen in die Behandlung kommen. Wiederholte, gemeinsame Erfahrungen von Patient_innen und allen Beteiligten, Beobachtungen und Hypothesen in Therapieversammlungen und anderen Situationen führen zu einem gemeinsamen Verstehensprozess im therapeutischen System.
4.
Verschiedene therapeutische Zugänge sollten sich gegenseitig ergänzen anstelle eines „Entweder/Oder“-Vorgehens. Therapeutische Aktivitäten (wie verschiedene Therapieformen, psychopharmakologische Behandlung und rehabilitative Maßnahmen) sollen in einem übergreifenden Behandlungsplan integriert werden. Als Voraussetzung für eine integrierte Behandlung ist die notwendige Kooperation mit Personen und Einrichtungen herzustellen.
5.
Untersuchung und Behandlung sind durch eine psychotherapeutische Haltung bestimmt. Dies bezieht sich auf den Versuch zu verstehen, was passiert ist, was weiterhin mit den Patient_innen und den Personen im sozialen Netzwerk geschieht und wie dieses Verstehen als Basis für die Unterstützung genutzt werden kann. Eine Haltung dieser Art bezieht auch ganz wesentlich die Beobachtung der eigenen emotionalen Reaktion ein.
6.
Die Behandlung soll die Qualität eines kontinuierlichen Prozesses erreichen und aufrechterhalten. Dies bedeutet, dass Sitzungsroutinen bzw. schematische Abfolgen zu vermeiden sind.
7.
Eine Nachuntersuchung der Wirksamkeit der Behandlungsmethoden im Einzelfall ist wichtig, auch hinsichtlich der Auswirkung und der Weiterentwicklung des gesamten Behandlungssystems.
Wie Alanen (
1997, S. 214 ff.) betont, haben die Therapieversammlungen sowohl eine informative, diagnostische als auch eine therapeutische Funktion. So werden alle wichtigen Netzwerkmitglieder auf den gleichen Informationsstand gebracht, wodurch abgestimmte und verbindliche Behandlungsvereinbarungen im Sinne der Patient_innen getroffenen werden können. Gleichzeitig führen die Informationen aller Netzwerkmitglieder zu einer komplexen Sichtweise auf die aktuelle Situation. Durch die Anerkennung der Bedürfnisse aller Beteiligten und durch die Anregung produktiver Kommunikationsprozesse können auch Konflikte oder Spannungen zwischen den einzelnen Netzwerkmitgliedern (bspw. Familienangehörigen, Partner_innen) abgebaut werden.
Das Netzwerktreffen
Die zentrale therapeutische Arbeitsform des Offenen Dialoges bildet dabei das Netzwerktreffen, womit eine Begegnung aller wichtigen persönlichen und professionellen Bezugspersonen der Patient_innen gemeint ist, die etwas zur aktuellen Situation beitragen können. Das Netzwerktreffen sollte möglichst die erste professionelle Reaktion auf eine Krise darstellen und im weiteren Behandlungsverlauf immer dann stattfinden, wenn ein Teil der Beteiligten dies für sinnvoll erachtet. Angeleitet und moderiert wird das Treffen von mindestens zwei Mitgliedern eines multiprofessionellen therapeutischen Teams, das anlässlich einer Krise oder eines wichtigen Ereignisses beauftragt wird. Bei komplizierten Problemlagen können auch weitere Teammitglieder – meist nur vorübergehend – hinzugezogen werden.
Zu Beginn kommt jede(r) Anwesende zu Wort. Gelingt es den Professionellen, respektvoll zu sein, jedem aktiv zuzuhören und ausreichende emotionale Sicherheit zu gewährleisten und durch interessierte offene Fragen, das nachfragende Aufgreifen von zuvor gesprochenen Worten und andere systemische Frageformen wie den zirkulären Fragen den Austausch der Netzwerkmitglieder anzuregen, entsteht ein gemeinsamer dialogischer Prozess.
Oft befinden sich die Menschen in anfänglichen Therapieversammlungen in extremen Lebenssituationen mit tiefen emotionalen Erfahrungen. Am Beginn steht oft ein Gefühl der Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit. Dieses darf jedoch zugelassen werden und kann eine Chance sein, um ein Gemeinschaftsgefühl zu entwickeln. Auch Therapeut_innen können mit intensiven Gefühlen reagieren und bewegen sich in einem Feld jenseits therapeutischer Technik.
Besonders bedeutsam ist dabei jedoch, dass die Mitglieder des therapeutischen Teams aus ihrem gesamten körperlichen Sein heraus reagieren und aufrichtig daran interessiert sind, was jede einzelne Person im Raum zu sagen hat. Sie vermeiden dabei jede Anmutung, dass jemand etwas Falsches gesagt haben könnte. Indem das Team die Alltagssprache der Klient_innen verwendet und aufgreift, erleichtern die Fragen der Teammitglieder das Erzählen der Erfahrungen auf eine Art, in der die alltäglichen Details und die problematischen Emotionen durch die Ereignisse enthalten sind. Indem sie dann die übrigen Netzwerkmitglieder um Kommentare zu dem Gesagten bitten, helfen die Teammitglieder, ein vielstimmiges Bild des Ereignisses entstehen zu lassen. Wenn dieser Prozess den Netzwerkteilnehmer_innen ermöglicht, ihre jeweilige eigene Stimme zu finden, können sie sich selbst Antworten geben. Alle Anwesenden erzeugen dadurch einen gemeinsamen Sprachraum zur Annäherung des Verständnisses der benutzen Worte.
Der Raum für neue Bedeutungen entsteht dabei nicht in jedem Einzelnen, sondern im interaktionellen Raum zwischen den Gesprächsteilnehmer_innen während der dialogischen Praxis. Jede neue Antwort kann dabei die vorhandenen Bedeutungen verändern, insofern ist der Dialog offen und niemals abgeschlossen. Nicht endgültige Beschreibungen oder Erklärungen sind das Ziel, sondern der Dialog selbst ist ein gegenseitiges Handeln, das Subjekt-Subjekt-Beziehungen erzeugt, die auch die Therapeut_innen einbeziehen.
Wirklichkeit, Wahrheit und Selbst werden als Ergebnis sozialer und kultureller Prozesse aufgefasst. Sprache bildet dabei nicht Wirklichkeit ab, sondern bringt diese hervor. Verschiedene Wahrheiten sind damit unausweichlich. Es kann demnach immer nur eine vorübergehende subjektive oder situativ gemeinsam empfundene Wahrheit entstehen. Sie entsteht durch Bezogenheit, Engagement und Hingabe und in einem dafür geeigneten Kontext. Diese polyphone Wahrheit braucht viele gleichzeitige Stimmen. Menschliche Begegnungen werden als grundsätzlich einzigartig und einmalig aufgefasst, sodass sich in jedem wahrhaft dialogischen Gespräch immer wieder neue Begegnungen (sogenannte „Begegnungsmomente“) (Stern
2007) und Wege des Miteinanders eröffnen können.
Damit werden die Erzählungen, die subjektiven Erfahrungen und ihre Bedeutungen, das Aussprechen von bisher Ungesagtem bis hin zu traumatischen Erfahrungen und tiefgreifenden Dilemmata weitaus wichtiger als die Symptome, die erst im Licht dieser Erzählungen verständlich werden können. So können neue psychologische Bedeutungen von Symptomen und die gemeinsame Erfahrung dieses Prozesses entstehen.
Das Vorgehen erfolgt stets auf Augenhöhe mit den Patient_innen und allen Beteiligten und stellt die Ziele und Wünsche, Ressourcen und Stärken in den Fokus der Arbeit miteinander. Auch werden meist zwei Mal im Gesprächsverlauf Reflektionen der Professionellen miteinander angeboten. Immer entscheidet das anwesende Netzwerk, ob sie tatsächlich stattfinden. Sie sollten jeweils kurz sein und das subjektiv Wichtige wiedergeben.
Durch das Reflektieren wird dem Netzwerk zum einen deutlich, wie aufmerksam die Professionellen die Dialoge verfolgen, was meist die Ernsthaftigkeit des Gesprächs nach der Reflektion verstärkt. Des Weiteren existieren in jedem Anwesenden neben der geäußerten „Stimme“ weitere und durchaus divergierende innere Stimmen (die sog. innere oder vertikale Polyphonie), die jedoch nicht ausgesprochen werden. Indem zentrale Inhalte der „äußeren Stimme“ gespiegelt werden, werden diese oft gegensätzlichen inneren Stimmen aktiviert und so beginnt ein innerer Dialog. Zugleich werden auch die anderen evtl. im Konflikt stehenden Gesprächsteilnehmer_innen zu Hörenden dieser gespiegelten Inhalte. Werden diese jetzt wertschätzend von anderen wiedergegeben, können sie neu gehört und bereitwilliger aufgenommen werden (sog. Ricochet-Effekt). Auch dies führt oft zu neuen weiteren Dialogen. Die (noch) nicht ausgesprochenen inneren Stimmen sind oft wichtiger als die formulierten. Sie können auch unausgesprochen bleiben, bestimmen jedoch unter Umständen die weitere Entwicklung mit. In späteren Gesprächen werden sie möglicherweise ausgesprochen.
„Die Krise erscheint bald in einem neuen Licht, ein vertieftes Verständnis wird möglich, und oft beginnen konfliktreiche Beziehungen sich konstruktiv zu verändern. Auch das Behandlungssetting wird gemeinsam überlegt und möglichst im Konsens entschieden (Aderhold
2016, S. 26).“ Am Ende werden die wichtigsten Themen und die eventuell getroffenen Entscheidungen zusammengefasst und bei Bedarf ein weiterer Termin vereinbart.
Durch diese Dialoge über Schwierigkeiten und Probleme entsteht die Erfahrung von Handlungsfähigkeit im eigenen Leben. Vorschnelle Schlussfolgerungen und Entscheidungen über die Behandlung werden so vermieden. Die Professionellen werden vor allem zu Helfer_innen mit den Fähigkeiten, Dialoge zu fördern.