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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 2/2014

01.12.2014 | Geburt | Leitthema

Weggelegte Babys: Welche Motive der Mütter sind ausschlaggebend?

Fallbeispiele aus dem Babynest Wilhelminenspital Wien

verfasst von: Dr. H. Siklossy

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 2/2014

Abstract

Einleitung

Nach der anonymen Schwangerenbetreuung gibt es die Möglichkeit der anonymen Geburt, bei welcher Frauen ohne Angabe ihrer Daten in Kliniken ein Kind gebären und legal der öffentlichen Wohlfahrt anvertrauen. Auch stehen Babyklappen zur Verfügung, die eine anonyme Abgabe des Kindes ermöglichen sowie die direkte anonyme Abgabe eines Kindes („Hand-zu-Hand-Übergabe“).

Fallberichte

In den hier vorgestellten Kasuistiken soll auf die Motive und Lebensumstände der Mütter eingegangen werden, die sich von ihrem Neugeborenen oder Säugling trennen. In beiden Fällen trat bei den Müttern eine kurzfristige Realitätsbezugsstörung ein. Sie hatten nicht die Möglichkeit, mit einer außenstehenden Person zu sprechen, während sich ihre Ängste aufbauten, und waren überzeugt, dass Dritte besser für ihr Kind sorgen könnten als sie selbst.

Schlussfolgerung

Über die Einzelfallanalysen kann sehr viel Wissen bezüglich der Motive der Mütter für die Trennung von ihrem Kind gewonnen werden. Für die Erhöhung der Qualität der Interventionen in den Grundversorgungseinrichtungen ist die Nutzung vorhandener Strukturen wichtig, um den Verlauf der physischen, psychischen und sozialen Entwicklung dieser Kinder begleiten und analysieren zu können.
Kaum ein psychosoziales Thema rund um die Geburt eines Kindes wirft so viele Fragen auf, zu denen wir im Vorfeld keine Antworten haben und vermutlich auch in den meisten Fällen nicht bekommen. Welche Mutter, in welcher Verzweiflungslage, in welchem biographischen Zusammenhang hat sich von ihrem Baby getrennt? Wie geht es ihr nach der Abgabe, wie geht es ihr gerade jetzt?
Überblicksmäßig gibt es nach der anonymen Schwangerenbetreuung die Möglichkeit der anonymen Geburt, wo Frauen ohne Angabe ihrer Daten in Kliniken ein Kind gebären können, und es so legal der öffentlichen Wohlfahrt anvertrauen. Es gibt den ebenfalls legalen Ausweg der Babyklappen, die eine anonyme Abgabe des Kindes ermöglichen, sowie die Möglichkeit einer direkten anonymen Abgabe eines Kindes („Hand-zu-Hand-Übergabe“).
Von manchen Kreisen wird die Einführung der vertraulichen Geburt geplant. Dabei würden die Angaben einer im Krankenhaus entbindenden Frau zwar erfasst, aber einige Jahre lang unter Verschluss gehalten werden. Ein Gesetz zur vertraulichen Geburt würde allerdings der anonymen Geburt und dem Babynest vermutlich ein Ende bereiten.

Methodik

Einzelfallanalyse

Bei den Patienten in den untersuchten Fällen handelt es sich um Säuglinge, die anonym im Babynest des Wilhelminenspitals Wien abgegeben wurden [1]. Es folgten:
  • eine medizinische Erstversorgung, Aufnahme auf der Säuglingsstation, Meldung an die Spitalsdirektion und an das Jugendamt sowie
  • eine psychologische und psychotherapeutische Betreuung der Mütter bzw. der Familien im Fall, dass diese aus der Anonymität heraustreten [2].
In zwei Fällen traten die Mütter aus der Anonymität und nahmen Explorations- und Beratungsgespräche in Anspruch. In dem ersten der beiden Fälle kam es zu einer Rückführung des Kindes an seine Eltern. Im zweiten Fall kam es nicht zu einer Rückführung, das Kind wurde fremduntergebracht. Ob es adoptiert wurde, entzieht sich unserer Kenntnis.

Fallbericht 1

Ein eindeutig in einem Spital abgenabelter neugeborener Junge wird ins Babynest gelegt. Der Junge ist gesund und wird auf der Säuglingsstation aufgenommen. Das Jugendamt wird informiert. Nach einigen Tagen meldet sich eine Frau telefonisch, die meint, sie sei die Großmutter des Kindes. Nach kurzer Zeit kommt eine junge Frau, die sich als die Mutter des Kindes vorstellt und auf den Anruf ihrer Mutter verweist. Sie möchte ihr Kind sehen. Es finden ärztliche und psychotherapeutische Gespräche statt. Die Vorgeschichte stellt sich als Folgende heraus: Vor ungefähr einem Jahr sei sie bei einem Motorradunfall mit ihrem Partner schwer verletzt worden. Sie habe multiple Frakturen gehabt und auch einen Beckenbruch, von dem sie sich bis heute nicht erholt habe. Sie sei 18 Jahre alt. Zum Gehen benötige sie einen Stock. Sie sei lange in Spitalsbehandlung gewesen und in der Folge in einem Rehabilitationszentrum in der Nähe von Wien gewesen. Im Zuge dieses Rehabilitationsaufenthalts sei im Rahmen einer bildgebenden Untersuchung ein Kindskopf erkannt und somit eine Schwangerschaft festgestellt worden, die sie nicht wahrgenommen hatte, die verdrängt wurde.
Am Ende des Rehabilitationsaufenthalts wurde sie von ihrem Partner abgeholt, um zurück in ihren Heimatort zu fahren. Beide hatten ihren Wohnsitz nicht in Wien, sondern in einem anderen Bundesland. Auf dem Weg bekam die junge Frau Wehen, so dass das Paar (in der Nähe von Wien) in ein Spital fuhr, wo sie einen gesunden Jungen entband. Bei der Routineuntersuchung des Neugeborenen wurde der jungen Mutter gesagt, dass der Knabe eine leichte Neugeborenengelbsucht hatte, dies aber nicht besorgniserregend sei.
Nach wenigen Tagen wurde sie mit ihrem Baby entlassen. Das junge Paar übernachtete in einer Pension und spätestens zu diesem Zeitpunkt dürften die Ängste um die Gesundheit des Babys hochgekommen sein. Die Mutter missinterpretierte die Aussage des Arztes und verstand sie so, dass ihr Kind eine Behinderung habe. Sie machte sich Vorwürfe, denn sie hatte ja den Motorradunfall gehabt und brachte ihre Behandlung mit einer möglichen Behinderung des Kindes in Zusammenhang. Die Eltern entschieden, sich von ihrem Kind zu trennen, suchten und fanden die Informationen über das Babynest an der Außenmauer des Wilhelminenspitals. Nach einer anonym geführten telefonischen Nachfrage im Sekretariat der Kinderabteilung im Wilhelminenspital fuhren sie in den 16. Bezirk und legten ihr Kind in das Babynest hinein.
Einige Tage später meldete sich zuerst die Großmutter im Sekretariat, da ihre Tochter ohne ihr Kind nach Hause kam und zufällig zeitgleich ein Bericht über ein anderes weggelegtes Kind in den Medien war. Die Sekretärin vermittelte, dass die Kindesmutter uns anrufen soll. Es wurde schließlich mit der Kindesmutter und dem zuständigen Jugendamt ein erster Besuchstermin an der Säuglingsstation vereinbart.
Bei dem Erstgespräch mit der jungen Frau fanden wir sie zeitlich und örtlich orientiert, durchaus gesprächsbereit und an der Nähe zu ihrem Kind interessiert. Sie habe nachgedacht und sei mit ihrem Partner und durch die Unterstützung ihrer Familie zum Entschluss gekommen, ihr Baby doch anzunehmen. Es stellte sich heraus, dass das Baby ihr zweites Kind war, die Eltern hatten ein Mädchen im Alter von 3 Jahren. In der Folge fanden psychotherapeutische Sitzungen mit den Eltern statt, auch das dreijährige Mädchen konnten wir kennenlernen.
Der soziale Hintergrund sowohl der Mutter als auch des Vaters waren schwierig. Dennoch hatten sie es geschafft, möglichst gute Eltern für ihr erstes Kind zu sein, das einen in seiner psychomotorischen Entwicklung knapp altersentsprechenden Eindruck machte. Das Kind wies ein sicheres Bindungsverhalten zu seiner Mutter auf, was positiv gewertet wurde in Hinblick auf den Rückführungswunsch der Eltern.
Es folgte eine Zeit der Mitaufnahme der Mutter an der Säuglingsstation, der häufigen Gespräche mit Ärzten, Schwestern, einer Psychologin. Die Mutter zeigte sich in einem ausreichenden Maße reflexionsfähig, ihre Schuldgefühle und ihre Ängste, die sie vor und nach der Geburt geplagt hatten, konnten in dieser Anfangsphase bearbeitet werden.
Es erfolgten mehrere Helferkonferenzen mit der zuständigen Jugendwohlfahrt, deren SozialarbeiterInnen aus ihrem Bundesland nach Wien kamen.
Durch die Unterstützung der Jugendwohlfahrt konnte die Familie komplett und mit einem guten Gefühl unsererseits nach einigen Wochen nach Hause entlassen werden. Der Vater wurde von seiner Arbeit freigestellt, um die gehbehinderte Mutter zu unterstützen. Ein telefonischer Kontakt fand nach der Entlassung regelmäßig mit der Jugendwohlfahrt statt, um zu erfahren, wie es der Familie geht. Die letzte Information war, dass – als der Junge 2 Jahre alt wurde – es der jungen Familie gut ginge und dass die Familienintensivbetreuung Schritt für Schritt aufgelockert wurde.

Fallbericht 2

Der zweite Fall folgte kurz nach dem ersten. Auch hier wurde im Babynest Alarm geschlagen, und das Team holte diesmal einen 9 Monate alten männlichen Säugling heraus. Der Säugling erwies sich als gesund. Das Jugendamt wurde informiert. Dem Kind war ein Brief an die Helfer beigelegt, zunächst kaum leserlich und verständlich. Verständlich war jedenfalls, dass der Brief ein Hilferuf war mit der Bitte, das Kind möglichst gut zu versorgen.
Die Mutter meldete sich einige Tage später, als das Kind noch auf unserer Säuglingsstation aufgenommen war. Sie sei 28 Jahre alt, stamme aus einem ehemaligen osteuropäischen Land, war ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung, „sans papiers“, also illegal in Österreich. Sie erzählte, sie sei schwer an Krebs erkrankt, habe einen schlechten Blutbefund, mache sich Sorgen, dass sie bald ihr Kind gesundheitsbedingt nicht mehr versorgen könne und dass sie bald sterben würde. Aus diesem Grund habe sie das Leben ihres 9 Monate alten Jungen in die Obhut der Menschen gelegt, die ihn aus dem Babynest herausholen würden.
Die Gespräche wurden gemeinsam mit unserem Abteilungsvorstand, Prof. Dr. Andreas Lischka, geführt, und er begleitete die junge Mutter in der Folge persönlich auf die onkologische Abteilung, um eine Untersuchung der Frau durchzuführen. Die Untersuchungsergebnisse ergaben überraschenderweise, dass die Frau bei völliger Gesundheit war.
In den psychotherapeutischen Gesprächen zeigte sie sich sehr anhänglich und schutzsuchend. Sie hatte in ihrem Heimatland eine Vorgeschichte mit Gewalterfahrungen und Prostitution. In Wien lebte sie am Existenzminimum, vermutet wurde illegale Prostitution. Sie erzählte, dass der Junge ihr zweites Kind sei, das erste Kind sei im Alter von knapp einem Jahr noch in ihrem Heimatland verstorben. Sie trug ein Foto des ersten Kindes mit sich, konnte aber die Todesursache nicht näher erklären. Es klang nach einem plötzlichen Kindstod. In Fall dieser Mutter war keine Rückführung möglich gewesen. Die Frau rief mich in den ersten 2 Jahren alle paar Monate an und bedauerte traurig, ihr Kind nicht bei sich zu haben und keinen Kontakt zu ihrem Kind zu haben.

Diskussion

Den beiden Fällen ist gemeinsam, dass erstens eine kurzfristige Realitätsbezugsstörung eingetreten ist und zweitens beide Frauen nicht die Möglichkeit hatten bzw. die Möglichkeit in Anspruch genommen hatten, mit einer privaten außenstehenden oder professionellen Person zu sprechen, als sich ihre Ängste aufbauten. Drittens waren sie der Überzeugung, dass sich Dritte besser um ihr Kind kümmern würden, als sie selbst es könnten.

Stand der retrospektiven Forschung in Österreich

Im letzten Jahrzehnt entstand eine kontroverse Diskussion darüber, ob die Einrichtung von Babyklappen/Babynestern bzw. die anonyme Geburt ein geeigneter Lösungsansatz für die Problematik der weggelegten Neugeborenen bedeutet, da Kindern das Recht auf Wissen über ihre Abstammung genommen würde.
Eine von Klier et al. [3] an der Universitätsklink für Kinder- und Jugendheilkunde der Medizinischen Universität Wien im Jahr 2012 veröffentlichte Studie zeigt, dass die gesetzliche Regelung der anonymen Geburt im Jahr 2001 die Zahl der Neonatizide in Österreich im Vergleich zum vorhergehenden Jahrzehnt deutlich reduzierte. Die anonyme Geburt wird als effektives Mittel für ungewollt schwangere Frauen gesehen, um diesen in ihrer schwierigen Situation zu helfen und sie vor, während und nach der Geburt medizinisch und psychosozial zu betreuen.
Die Babyklappe/das Babynest wird als wichtiges Zusatzangebot gesehen, das Leben rettet, wenn die zahlreichen, vorgelagerten Hilfsangebote nicht gegriffen haben. Die Babyklappe wird jedoch weniger in Anspruch genommen als das Angebot der anonymen Geburt.
Das Babynest wird als wichtiges lebensrettendes Zusatzangebot gesehen
Eine von der Abteilung Jugendwohlfahrt, dem Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend Wien 2013 veröffentlichte retrospektive Studie [4] stellt die Frage, ob es in Österreich durch die Ermöglichung der anonymen Kindesabgabe aus dem erarbeiteten Datenmaterial zu einem signifikanten Rückgang im längerfristigen Trend der Neonatizide kommt. Die absolute Zahl und die Häufigkeit von Neonatiziden sind in Österreich seit 1975 stetig um etwa 70–80 % zurückgegangen. Erst seit 2004 scheint der Rückgang zu stagnieren. Ein spezieller Rückgang der Neonatizidfälle durch die Einführung der anonymen Geburt ist von Orthofer & Orthofer nicht festgestellt worden [4]. Es besteht ein erkennbarer leichter Trend zu steigenden anonymen Geburten, aber zugleich auch ein steigender Trend zu mehr Rücknahmen der Kinder durch die Mutter. Insgesamt ist ein leichter Rückgang der Kinder zu verzeichnen, deren Eltern dauerhaft anonymisiert sind.

Multifaktorielle Ursachen für die Kindesabgabe

Professionell Versorgende, die das Baby schützend übernehmen, stehen chronologisch gesehen auf der zweiten Seite. Der erste Aspekt, warum es zur anonymen Kindesabgabe gekommen ist, bleibt in den überwiegenden Fällen verborgen. Die Risikogeburt – und als solche ist die Geburt eines Findelkindes aus psychosozialer, aber auch aus biologischer Sicht zu sehen – stellt für die Mutter eine massive psychosoziale Belastungssituation dar. Aufgrund der Bedrohlichkeit des Ereignisses nimmt sie für die Frauen die Dimension einer traumatischen Krise an. Die Entscheidung, sich von dem Neugeborenen zu trennen, es wegzulegen, das Neugeborene in das Babynest zu bringen, stellt hohe Anforderungen an die Bewältigungs- und Entscheidungskräfte der Mutter, möglicherweise des Vaters und der Familie.
In vielen Aspekten sind die Lebensumstände der Frau schwierig. Ein Negieren der Realität der Schwangerschaft und ein Ignorieren der herannahenden Geburt bestehen in vielen Fällen [5]. Spezielle Faktoren wurden mehrfach in der Literatur zu den Risikofaktoren für Neonatizide beschrieben, insbesondere die Angst der Frau vor der Ablehnung aus nahestehenden Personen ihres Umfelds [6].
Fehlende materielle und psychische Bewältigungskräfte sowie fehlendes Vertrauen in die soziale Umwelt in Hinblick auf Unterstützung kommen hinzu. Eine psychische Ausnahmesituation insbesondere nach der Geburt kann zu Panikreaktionen bzw. Kurzschlusshandlungen führen, von der spontanen Kindesweglegung bis zu einem Neonatizid [7].
Im Fall von geleugneten bzw. vor der Umwelt geheimgehaltenen Schwangerschaften konnte jedoch auch nachgewiesen werden, dass ein gewisser Prozentsatz der Mütter in der Lage gewesen sind, selbst ihr Kind weiter zu versorgen [8].

Erfahrungen aus den Einzelfallanalysen

Die intensive, multiprofessionell geführte Einzelfallanalyse der zwei beschriebenen Fälle zeigt, dass selbst in der traumatischen Extremsituation einige Mütter (möglicherweise auch Väter) dennoch über ausreichende Ressourcen verfügen, um das Babynest ausfindig zu machen und – in der Angst um ihr Kind – es in schützende, versorgende Hände zu übergeben. Es ist in jedem Fall als ein Akt der Verantwortung zu werten, der aus einer psychosozialen Not, aus Insuffizienzgefühlen und Verzweiflung entsteht. Bezieht man den Begriff Identität auch auf die elterliche Ebene, so ist die mütterliche bzw. elterliche Identitätsentwicklung in diesem Zusammenhang extrem belastet. Im Fall der Rückführung haben die Eltern die angebotenen Hilfsmaßnahmen im Rahmen des Spitals und in der Folge im Rahmen der Jugendwohlfahrt gut annehmen können.
Jeder Fall ist einzigartig. Wenn das Baby von dem Kinderarzt/der Kinderärztin und der Kinderschwester aus dem Babynest geholt wird, geht es in erster Linie darum, seinen Gesundheitszustand festzustellen und seine Gesundheit zu sichern. Es wird auch genau dokumentiert, wie das Baby ins Babynest gelegt wurde, die Decke, in die es eingewickelt war, die Worte voller Sorge und Hoffnung auf helfende Menschen, die auf einem Blatt Papier – oft unleserlich – aufgeschrieben wurden, liebevolle Beigaben, Information darüber, ob das Baby getrunken hat und wie viel es wovon getrunken hat.
Eine Kindesabgabe im Babynest ist in allen Fällen als Ausdruck tiefer Verzweiflung einerseits und von hohem Verantwortungsbewusstsein andererseits zu sehen.

Aspekte der Identität von Findelkindern

In der Klärung ethischer und rechtlicher Fragestellungen in Bezug auf Identität wird vor allem der Aspekt der Auseinandersetzung des Kindes bzw. des Erwachsenen mit der eigenen Abstammung unter diesen speziellen Umständen des Lebensanfangs in den Vordergrund gestellt.
Wenn man sich die Begriffe „Identitätsausweis“ (in Österreich „Personalausweis“), „carte d’identité“, „ID card“ näher bringt, so zeigt es, dass die rechtlichen Fragestellungen sich eher mit weitgehend objektiv erfassbaren Merkmalen der Identifizierung von Menschen beschäftigen. Die Geisteswissenschaften jedoch verstehen unter Identität darüber hinaus noch etwas anderes.
Der anonymen Geburt und der Babyklappe/den Babynestern wird vorgeworfen, Kinder ohne Wurzeln hervorzubringen. Dabei entsteht der Eindruck, dass durch eine unbekannte Abstammung eine positive Identitätsentwicklung des Menschen nicht möglich wäre.
Leben ist die Basis für jeden Grundrechtschutz, und wir sind über jedes gerettete Kind froh. Man könnte sagen „vor der Identität kommt das Leben“.
Vor der Identität kommt das Leben
Artikel 7 der UN Kinderrechtskonvention besagt: Das Kind ist unverzüglich nach seiner Geburt in ein Register einzutragen und hat das Recht auf einen Namen von Geburt an, das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben, und soweit möglich („as far as possible“) das Recht, seine Eltern zu kennen und von ihnen betreut zu werden [9].
Die Identität eines Menschen ist ein komplexes Gebilde und nicht etwas, das man erhält, sondern sie entwickelt sich über Jahre. Für diese Entwicklung sind vor allem die erlebten Bindungen und die Kommunikation mit den wichtigsten Bezugspersonen entscheidend. Verschiedene Dimensionen der Identität, z. B. die biologische, soziale oder ethnische Identität, lassen sich darstellen. Mit jeder Adoption, ob mit Zustimmung der Mutter (Eltern), nach einer anonymen Geburt oder aus dem Ausland, kommt für ein Kind als weitere Ebene die soziale, ethnische Identität dazu. In der Persönlichkeitsentwicklung, insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der biologischen oder ethnischen Herkunft, hat es natürlich Auswirkungen, ob ein Kind seine leiblichen Eltern und Verwandten, sein Herkunftsland kennt oder nicht. Es ist jedenfalls eine Fehleinschätzung, allein von der Tatsache, ob ein Kind seine leiblichen Eltern kennenlernen und deren Daten erfahren kann, den positiven Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung eines adoptierten Kindes abhängig zu machen.
Eine positive Identitätsentwicklung – nach dem am Ende des letzten Jahrhundert verstorbenen Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker Erik Erikson [10] – baut sich in der Abfolge und Bewältigung altersgebundener Entwicklungsphasen und Entwicklungsaufgaben auf, beginnend mit der Erfahrung des Urvertrauens, der Entwicklung der Autonomie, der Freude am Lernen, der Entwicklung eines geschlechtsspezifischen Selbstbildes. Wenn die Entwicklung durch emotionale Mangelerfahrungen oder durch Bindungsstörungen gestört verläuft, kann es nicht zu einem positiven Selbstbild und einem sicheren Identitätsgefühl kommen.
Antworten auf die Frage nach ihrer Herkunft haben nicht nur Adoptivkinder nach Adoptionsfreigabe, anonymer Geburt oder Weglegung. Auch hier ist oft die Antwort trotz Suche nicht befriedigend. Die Frage nach dem Vater wird bei vielen Kindern nicht beantwortet. Auch Kinder allein erziehender Mütter quälen sich mit dem Gedanken an den Vater, wenn der sich ausschließlich durch Ablehnungshaltung und Abwesenheit auszeichnet (Tab. 1).
Tab. 1
Chanson Vox Angeli
Si seulement je pouvais lui manquer
Il suffirait simplement, qu’il m’appelle, qu’il m’appelle, d’où vient ma vie, certainement pas du ciel
Lui raconter mon enfance, son absence, tous les jours, comment briser le silence qui l’entoure
Aussi vrai que de loin je lui parle,j’apprends tout seul à faire mes armes,aussi vrai que j‘ arrête pas d’y penser,si seulement je pouvais lui manquer
Est ce qu’il va me faire un signe,manquer d’amour n’est pas un crime,j‘ ai qu’une prière à lui adresser,si seulement je pouvais lui manquer
Je vous dirais simplementqu‘ à part ça tout va bien,à part d’un père je ne manque de rien,je vis dans un autre monde, je m’accroche tous les jours,je briserai le silence qui m’entoure
Aussi vrai que de loin je lui parle,j‘ apprends tout seul à faire mes armes,aussi vrai que j‘ arrête pas d’y penser,si seulement je pouvais lui manquer
Est ce qu’il va me faire un signe,manquer d’amour n’est pas un crime,j‘ ai qu‘ une prière à lui adresser,si seulement je pouvais lui manquer
Es würde einfach reichen, dass er mich ruft, dass er mich ruftWoher kommt mein Leben? Bestimmt nicht vom Himmel
Ihm meine Kindheit erzählen in seiner Abwesenheit, jeden TagWie soll man die Stille brechen, die einen umgibt?
Auch weit weg spreche ich mit ihmIch lerne ganz alleine meine Kraft aufzubauenWie könnte ich wahrlich aufhören, daran zu denkenWenn ich ihm nur, fehlen könnte
Ist das nicht ein Zeichen von ihmFehlende Liebe ist kein Vergehen?Ich habe eine Bitte an ihnWenn ich ihm nur fehlen könnte
Ich würde euch außerdem einfach sagenDass alles gut gehtAußer einem Vater fehlt es mir an nichtsIch lebe in einer anderen Welt, ich hänge jeden Tag daIch werde die Stille brechen, die mich umgibt
Auch weit weg spreche ich mit ihmIch lerne ganz alleine meine Kraft aufzubauenWie könnte ich wahrlich aufhören, daran zu denkenWenn ich ihm nur fehlen könnte
Ist das nicht ein Zeichen von ihmFehlende Liebe ist kein Vergehen?Ich habe eine Bitte an ihnWenn ich ihm nur fehlen könnte
Die Ergebnisse der Analyse beider beschriebenen Fälle können nicht die Frage beantworten, ob bei Nicht-Vorhandensein bzw. Nicht-Inanspruchnahme des Angebots Babynest ein Neonatizid bzw. Infantizid stattgefunden hätte. Jedenfalls kann angenommen werden, dass in den beschriebenen Fällen die Entscheidung der Mutter/Eltern für das Babynest die sicherste und verantwortungsvollste anonyme Abgabe für beide Kinder gewesen ist. Ebenso verhält es sich mit den anderen anonym abgegebenen Säuglingen. Es ist die Summe der Angebote der legalen Abgabe für die Mutter, die den Gesamtschutz der Kinder ausmacht.
Im ersten Fall standen das Negieren der Schwangerschaft, die belastende bis traumatische Biographie der Mutter sowie die Nicht-Inanspruchnahme von gesundheitsbezogenen Angeboten im Vordergrund. Im zweiten Fall hat die subjektiv für die Mutter ausweglos erscheinende Gesamtsituation sie dazu bewegt, ihr Kind in schützende Hände abzugeben.

Fazit und Ausblick

Über die Einzelfallanalysen können wir sehr viel Wissen und Verständnis für die Motive der Mütter gewinnen, ihr Kind wegzulegen. Die betrifft sowohl die anonyme Betreuung der anonym Gebärenden, die komplette Anonymität garantiert, als auch die von manchen Kreisen geforderte vertrauliche Geburt.
Es wäre für die Erhöhung der Qualität der Interventionen in den Grundversorgungseinrichtungen von Bedeutung, wenn vorhandene Strukturen genutzt würden, um die Beobachtung und den Verlauf der physischen, psychischen und sozialen Entwicklung aller dieser Kinder zu begleiten und analysieren zu können. Im Rahmen der Entwicklungsambulanz am Wilhelminenspital werden beispielsweise Frühgeborene und kranke Neugeborene in ihrer Entwicklung routinemäßig bis zum Schulbeginn, also bis ins 6. oder 7. Lebensjahr, diagnostisch und therapeutisch begleitet. Es wäre kaum ein zusätzlicher struktureller und personeller Aufwand, ehemals anonym geborene und weggelegte Kinder, alle Findelkinder, in einer solchen Struktur in ihren ersten Lebensjahren, gemeinsam mit ihren Adoptivfamilien bzw. bei Rückführungen an die Mutter gemeinsam mit ihrer leiblichen Mutter bzw. Eltern zu betreuen.
Nur durch das wissenschaftliche Zusammenführen einer größeren Fallzahl ist es möglich, auch wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zur Identitätsentwicklung von Findelkindern zu erhalten [11]. Diese Erkenntnisse würden sich direkt auf den zukünftigen Umgang mit der Findelkind-Thematik auswirken.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. H. Siklossy gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag enthält keine Studien an Menschen oder Tieren. Alle Personen, die über Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts zu identifizieren sind, haben hierzu ihre schriftliche Einwilligung gegeben. Im Falle von nicht mündigen Personen liegt die Einwilligung eines Erziehungsberechtigen oder des gesetzlich bestellten Betreuers vor.
Literatur
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Zurück zum Zitat Lischka A, Siklossy H, Brunner O, Pietschnig B (2009) Kinderklinik Glanzing im Wilhelminenspital: Was wird aus unseren Findelkindern? Anregung zu einer bundesweiten Studie zu Babynest-Kindern. Lischka A, Siklossy H, Brunner O, Pietschnig B (2009) Kinderklinik Glanzing im Wilhelminenspital: Was wird aus unseren Findelkindern? Anregung zu einer bundesweiten Studie zu Babynest-Kindern.
Metadaten
Titel
Weggelegte Babys: Welche Motive der Mütter sind ausschlaggebend?
Fallbeispiele aus dem Babynest Wilhelminenspital Wien
verfasst von
Dr. H. Siklossy
Publikationsdatum
01.12.2014
Verlag
Springer Vienna
Schlagwörter
Geburt
Pädiatrie
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 2/2014
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-014-0199-2

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