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Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 2/2014

01.12.2014 | Leitthema

Die späte Suche nach meinem Vater

verfasst von: V. Harwanegg

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Sonderheft 2/2014

Zusammenfassung

Kinder, die ihre Mutter oder ihren Vater nicht kennen, sind häufig ihr Leben lang auf der Suche nach Antworten auf die Frage ihrer Abstammung und ihrer Identität. In diesem Beitrag schildere ich meine eigene Suche nach meinem Vater im Alter von 62 Jahren. Durch intensive Recherchen gelang es mir schließlich, meinen Vater ausfindig zu machen und mehr über sein Schicksal als griechischer Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkrieges in Österreich zu erfahren. In diesem Zusammenhang werden auch der historische Kontext sowie die Situation vieler Zwangsarbeiter aus dieser Zeit beleuchtet. Das Kennenlernen meines Vaters nach all den Jahren war einer der bedeutendsten Momente in meinem Leben.
Wenn die Eltern unbekannt sind, wirkt sich das in jedem Fall auf die Identitätsfindung eines Kindes aus. Ich persönlich fand meinen Vater erst über 60 Jahre nach meiner Geburt. Mein ganzes Leben hat mich die Frage nach meiner Herkunft, nach meinem Vater beschäftigt und nie losgelassen. Im Folgenden erzähle ich meine eigene Geschichte über die Suche nach meinem Vater, um die Bedeutung dieses Themas zu verdeutlichen.

Mein Leben

Ich wurde im August 1944 geboren. Meine Kindheit verbrachte ich im Wien der Nachkriegsjahre. Als Kind bekam ich die Bedeutung dieser Zeit allerdings noch nicht so mit. Dennoch prägten mich diese Jahre. Meine Taufpatin Dr. Margarete Jablkovski war Primarärztin im Haus der Barmherzigkeit in Wien. Die Internistin nahm sich meiner besonders an und zählte neben meiner Mutter und meinen fünf Geschwistern zu meinen wichtigsten Bezugspersonen. Nachdem ich den Kindergarten besucht und die Schule abgeschlossen hatte, erlernte ich den Beruf des Tischlers. Nach meiner absolvierten Prüfung beschloss ich, nach mehr zu streben, und begann, neben meiner Tätigkeit als Tischler die Abendschule zu besuchen. Es folgten 43 Jahre in einem Geldinstitut, davon 25 Jahre als Zentralbetriebsratsvorsitzender und Gewerkschaftsfunktionär. Während meiner Tätigkeit als Gemeinderat und Landtagsabgeordneter war ich u. a. im Personalausschuss beschäftigt. Dort hatte ich die Funktion des Arbeitgebervertreters für 62.000 Bedienstete der Stadt Wien inne. In gewisser Art und Weise bildete das einen Gegensatz zu meiner Gewerkschaftsfunktion, aber ich war auch in anderen Ausschüssen, wie im Wohnungsausschuss und vor allem im Kontrollausschuss. In letzterem beschäftigte ich mich auch mit Prüfungen, etwa jener des Wilhelminenspitals. Damals hatte ich zum ersten Mal mit dem Thema „Kinder mit unbekannten Eltern“ zu tun.

Mein Vater

Mein Vater wurde im April 1919 in Kozani in Nordgriechenland geboren. In den Kriegsjahren gab es dort Partisanentätigkeiten. Damals war schon der Vater meines Vaters im Widerstand tätig. Aus diesem Grund wurde mein Vater 1942 in Athen verhaftet und nach Wien in ein Arbeitslager geschickt, wie tausende andere Griechen und Südländer. Es handelte sich um ein Außenlager des berüchtigten Hauptlagers Mauthausen. Dies ist insofern von Bedeutung, weil im Hintergrund die Beziehung zu meiner Mutter eine große Rolle spielte. Mein Vater war in Wien und Umgebung als Zwangsarbeiter tätig. Unter anderem musste er in Kittsee/Burgenland Wehranlagen für die Nazis errichten (Abb. 1) und in der Wiener Rüstungsindustrie tätig sein – für einen Widerstandskämpfer wie ihn eine ganz besonders unvereinbare Tätigkeit.
Kurz nach seiner Ankunft in Wien lernte mein Vater in der Nähe des Lagers meine Mutter kennen. Sie wohnte bei ihren Eltern in der Klosterneuburgerstraße im 20. Bezirk. Sie verliebten sich und gingen eine Beziehung ein, die – wenn sie bekannt geworden wäre – für beide dramatische Folgen gehabt hätte (Abb. 2). Mein Vater wäre sofort ins Hauptlager nach Mauthausen gekommen, und meine Mutter wäre sicherlich als „deutsches Mädchen“ eingesperrt worden, weil Beziehungen mit Gastarbeitern streng verboten waren. Doch meine Mutter und mein Vater schafften es, ihre große Liebe geheim zu halten. Daraus entstand ich.
Im August 1944 kam ich zur Welt. Meine Mutter war damals 28 und mein Vater 24 Jahre alt. Die Beziehung endete jedoch nach dem Kriegsende überraschend von heute auf morgen. Nicht meine Eltern hatten ihre Beziehung beendet, sondern sie wurden getrennt. Mein Vater wurde nach Kriegsende mit rund 20.000 anderen Zwangsarbeitern sofort wieder nach Griechenland abgeschoben. Da Wien schwer zerbombt war und es große Probleme in der Versorgung der Bevölkerung gab, wurden Zwangsarbeiter sofort wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt.
Das hatte zur Folge, dass mein Vater sich nicht einmal von meiner Mutter und von mir verabschieden konnte. Er versuchte später, wieder einzureisen, was aber im 20. Bezirk, also in der sowjetischen Besatzungszone, nicht möglich war. Erst 1955 unternahm er einen erneuten Einreiseversuch, aber da hatte sich familiär leider einiges verändert. Meine Mutter hatte einen neuen Partner kennengelernt. Sie wollte für mich und meine drei Geschwister wieder einen Mann an ihrer Seite haben. Daher konnte sie die Beziehung zu meinem Vater nicht mehr aufrechterhalten und hat sämtliche Briefe, auch die an mich, zurückgehalten, und alle Kontaktversuche meines Vaters energisch abgelehnt.

Frage der Identitätsfindung

Jeder Mensch möchte seine Herkunft kennen und über seine Abstammung Bescheid wissen – und so war es selbstverständlich auch bei mir. Zudem war nicht zu übersehen, dass ich vom äußeren Erscheinungsbild eher einen südländischen Typ darstellte. Deswegen wurde ich wegen meiner damals noch sehr schwarzen Haare und meiner Augenbrauen schon in meiner Kindheit immer gefragt: „Wer ist dein Vater?“ Ich verstand in dieser Zeit schon, was mit dieser Frage gemeint war. Immer wieder kam ich nach Hause und fragte meine Mutter: „Sag mir mal, wer ist denn mein Vater und wo lebt er? Kann ich mit ihm reden?“ Das hat meine Mutter immer abgewehrt und gesagt: „Du hast keinen Vater, auch in der Geburtsurkunde steht keiner drinnen, also lass mich in Ruhe, das Thema ist erledigt.“
Als ich 10 Jahre alt war, fragte ich zum ersten Mal auch meine Taufpatin Frau Prim.a Jablkovski: „Du warst ja dabei bei meiner Taufe, kannst du mir wenigstens sagen, wer mein Vater ist?“ „Ja, dein Vater ist ein Grieche, aber mehr darf ich auch nicht sagen“, antwortete sie. In meiner gesamten Jugend und später auch im Erwachsenenalter entstand immer wieder die Frage „Wer ist mein Vater?“ Bei allen Behördengängen, bei meiner Hochzeit. Immer dann, wenn ich meine Geburtsurkunde vorlegen musste, sagte ich: „Ich habe keinen Vater, das können Sie hier nachlesen.“ Dieses Dilemma verfolgte mich mein gesamtes Leben.
Erst nach dem Tod meiner Mutter erhielt ich den entscheidenden Hinweis. Eigentlich hatte sie alle Briefe meines Vaters vernichtet. Erst später habe ich dann von ihm persönlich erfahren, dass er uns regelmäßig geschrieben und meine Mutter ihm auch geantwortet hatte (Abb. 3), sogar Fotos von mir als Kind schickte. Doch eines hatte sie übersehen: Nach ihrem Tod ist ein Kuvert aufgetaucht, ohne Inhalt, aber mit dem Namen des Absenders – eben meines Vaters: Georgios Milos Pitenis, Restaurant Mazedonia, Kozani, Griechenland. Zum ersten Mal hatte ich etwas in der Hand, das mir bei der Suche nach meinem Vater helfen konnte. Sofort begann ich mit intensiven Recherchen.

Umfangreiche Recherchen mit 62 Jahren

Der Erfolg, meinen Vater zu finden, wurde mir durch Karteiunterlagen aus den Kriegsjahren ermöglicht. Ich habe mit dem damaligen Leiter unseres Stadtarchivs Kontakt aufgenommen und bekam die Unterlagen über meinen Vater. Darin fand ich alle Details zu meinem Vater (Abb. 1, Abb. 5). Sogar seine Eltern waren angegeben sowie ihre Wohnorte und Geburtsjahrgänge. Darüber hinaus fand ich heraus, dass die Abschiebung nach Wien am 24.07.1942 erfolgte. Ebenfalls dokumentiert wurden die Einsätze (Abb. 1). Mit diesen Informationen konnten die Recherchen nun richtig beginnen. Durch Zufall saß mir im Gemeinderat eine Kollegin gegenüber (Maria Vassilakou), die aus Griechenland stammt und heute in Wien Vizebürgermeisterin ist. Ich bat sie, mir dabei zu helfen, Kontakte zur griechischen Botschaft herzustellen.
Kurze Zeit später bekam ich einen Termin beim griechischen Botschafter. Nachdem ich ihm meine Geschichte erzählt hatte, sagte er: „Das machen wir. Das wird zwar kompliziert, weil es in Griechenland kein Meldewesen gibt, wie wir es hier in Österreich gewohnt sind, aber wir machen das.“ Über das Außen- und Innenministerium gab er in ganz Griechenland eine Suchmeldung auf. Kaum vorzustellen, welch ein Aufwand das war! Ich war sehr überrascht und ausgesprochen dankbar für diese Bemühungen. Mit Hilfe dieser Unterlagen gelang es verhältnismäßig rasch, meinen Vater ausfindig zu machen. Ich erfuhr, dass er noch lebte und 86 Jahre alt war. Das machte mich unglaublich glücklich. Als ich den Anruf der griechischen Botschaft mit dieser Information erhielt, war ich zufälligerweise gerade auf der griechischen Insel Korfu im Urlaub. Auch ein Brief des griechischen Konsulates in Wien wurde an meine Wohnadresse geschickt (Abb. 4). Weitere Details kamen vom Wiener Landesarchiv (Abb. 5).
Ich erfuhr, dass sich mein Vater derzeit in Nordgriechenland in einem Dorf in den Bergen aufhielt, weil er die sommerliche Hitze in Thessaloniki nicht so gut vertrug. Schon am nächsten Tag war ich dort, nach 250 km über Stock und Stein: Wir fuhren über Feldwege in die teilweise noch schneebedeckten Berge, mit einem Taxi, das ich nach der Fähre am Hafen von Igoumenitsa genommen hatte. Wie der Zufall es wollte, sprach der Taxifahrer auch noch gut Deutsch. Nach mehreren Stunden kamen wir endlich an. Ich muss sagen, dass ich noch heute bei diesen Erinnerungen sentimental werde. Bei dem Gedanken daran kommen mir immer die Tränen. Es war unglaublich, das ganze Dorf war auf den Beinen, es gab einen riesigen Empfang, an dessen Spitze mein Vater war. Als ich ihn sah, wusste ich: „Das ist mein Vater!“ Ich sah ihm ziemlich ähnlich: Er hatte einen Bart wie ich, Grübchen wie ich, es war ganz eindeutig (Abb. 5). Wir sind uns dann nur noch die Arme gefallen, haben beide geweint und einige Minuten lang geschwiegen. Noch heute bin ich voller Emotionen, wenn ich an diese Begegnung zurückdenke.
Die Strapazen der Anreise waren schnell verflogen. Noch dazu gab es einen großen Empfang im Dorf mit Essen und Musik. Leider mussten wir nach wenigen Stunden wieder zurück, um die Fähre nach Korfu rechtzeitig zu erreichen. Das Treffen mit meinem Vaters war, abgesehen von der Geburt meiner Tochter, zweifelsohne das emotionalste Erlebnis meines Lebens. Bei der Geburt meiner Tochter war ich selbst dabei. Ich empfinde es – und das habe ich auch einige Male verschiedenen Ausschüssen gesagt – als Pflicht eines Mannes, bei der Geburt seines Kindes dabei zu sein. Nur dann kann von Anfang an eine Verbindung geschaffen werden, und die Identität des Kindes ist geklärt.
Als wir wieder zurück im Hotel in Korfu waren, merkte ich erst, welche Sensation meine Geschichte für die griechischen Medien darstellte. Es gab zahlreiche Berichte. Ein lieber Freund hier in Wien, der Geschäftsführer der Auslandsjournalisten Prof. Dimitris Dimitrakoudis, hatte offensichtlich im Hintergrund gearbeitet, und ich gab tagelang Fernsehinterviews. Der Grund für das Medieninteresse war mitunter auch der Zusammenhang zwischen meinem Vater und dem Widerstand, gerade in Nordgriechenland, wo Furchtbares passiert ist. Mitunter waren auch Österreicher daran beteiligt [4]. Die 26. Jägereinheit, eigentlich ein Regiment aus Bayern, aber mit vielen Österreichern, hat dort Gräueltaten verübt. Wenn ich in Griechenland bin, werde ich noch immer auf diese furchtbaren Vorfälle angesprochen. Unvorstellbares ist passiert, werdenden Müttern wurde der Fötus herausgeschnitten und vieles mehr. Hierauf möchte gar nicht näher eingehen. Es ist einfach unfassbar, furchtbar und unmenschlich. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass deutsche Soldaten so etwas getan haben.
Das Medieninteresse nahm nicht ab. Im Rahmen eines weiteren Besuchs von meiner Frau und mir in Saloniki, erwarteten uns bereits am Flughafen die Journalisten. Sie drehten ganze Reportagen über uns. Zwar bin ich erfahren im Umgang mit Medien, eine solche Präsenz hatte ich jedoch zuvor noch nicht erlebt. Nach diesem Besuch verbrachte ich die darauffolgenden Urlaube so oft es ging bei meinem Vater in Griechenland (Abb. 6). Häufig flog ich auch hin, wenn mein Vater krank war und ins Krankenhaus musste. Da erlebte ich die Zustände in den griechischen Krankenhäusern hautnah – dort herrschten für mich furchtbare Zustände. Ein Primararzt untersuchte meinen Vater mit einem sehr veralteten EKG-Gerät. Ich sagte zu ihm, ich würde ihm eines von unseren ausgeschiedenen EKG-Geräten aus Wien mitbringen. Um 15 Uhr geschah dann etwas Merkwürdiges: Korruption. Plötzlich gab meine Cousine einer Dame 100 EUR. Ich fragte: „Was ist denn da los bitte? Wieso gibst du ihr Geld?“ Sie antwortete: „Das ist die Nachtschwester.“ Dann sagte ich: „Das könnt ihr euch doch nicht leisten, der Papa war zweieinhalb Monate im Krankenhaus, das bringt uns ja um die Existenz in der Familie!“ Mittlerweile kennen wir die Probleme und Zustände in Griechenland, wobei mir das immer sehr weh tut.
An manchen Sonntagen besuche ich die griechische Kirche. Dort erlebe ich, wie viel kulturelle Leistungen Griechenland für Österreich und Wien bietet. Erst hier habe ich erfahren, wer den Bau des Musikvereinsgebäudes in Wien gesponsert hat, wo im Großen Musikvereinssaal jedes Jahr das weltweit bekannte Neujahrskonzert stattfindet: Der Ringstraßen-Architekt Theophil Hansen war viele Jahre Professor an der Universität in Athen. Der Einfluss der griechischen Antike ist am „Musiktempel“ nicht zu übersehen. In Wien sollte viel häufiger darauf hingewiesen werden, was die Griechen für Österreich und für die europäische Kultur geleistet haben. Wie wird heute ein Volk behandelt, eine Kultur, die eine 4000-jährige Geschichte hat, von der so viel in Österreich und Europa insgesamt als Basis unserer heutigen Kultur übernommen wurde!
Wie ging es weiter? Der intensive Kontakt zu meinem Vater (Abb. 6) blieb bis zu seinem Tod 2011 bestehen. Immer wieder fanden in Griechenland Familientreffen statt. Leider konnte mein Vater aus gesundheitlichen Gründen meinem Wunsch, mich in Wien zu besuchen, nicht mehr nachkommen. Er wäre hier sogar von unserem Bürgermeister Dr. Michael Häupl empfangen worden, dem ich die Geschichte erzählt hatte. Seither nennt er mich „Grieche“. Außerdem hat er angekündigt, meinen Vater zu ehren durch einen besonderen Preis. Doch sein gesundheitlicher Zustand ließ diesen Besuch nicht zu. Nichtsdestotrotz bekam er einen Brief des Bürgermeisters von mir überreicht und einen goldenen Rathausmann als Geschenk, über das er sich sehr freute.
Im Dezember 2011 starb mein Vater schließlich mit 92 Jahren in Thessaloniki (Abb. 7). Ich war sehr dankbar, dass ich 6 Jahre mit ihm verbringen konnte, es war für mich eine ganz tolle Zeit. Ich bin sehr froh, dass ich all die Mühen auf mich genommen habe, um Nachforschungen anzustellen.
Das kann ich auch nur all jenen empfehlen, die auf der Suche nach ihrer familiären Herkunft sind. Kinder haben das Recht zu erfahren, wer ihre Mutter und wer ihr Vater ist. Daher bin ich sehr dankbar für das Symposium von Prof. Lischka und jede Bemühung, diese Kenntnis der eigenen Abstammung zu ermöglichen, zu erleichtern, zu fördern.

Zwangsarbeiter in Österreich

Nur aus Erzählungen und einem unscheinbaren leeren Kuvert von 1957 aus Familienbesitz wusste Volkmar Harwanegg von seinem leiblichen Vater. Tatsächlich beschränkte sich sein Wissen auf den bloßen Namen und die Tatsache, dass sein Vater, Georg Pitenis, Grieche war. Diese geringen Fakten reichten dann aber aufgrund des in Wien praktisch sonst nicht vorkommenden Namens aus, um in den historischen Meldeunterlagen des Wiener Stadt- und Landesarchivs weitere Angaben über den Mann auszuforschen, der von 1942 bis 1945 in Wien als Zwangsarbeiter gelebt hatte (Abb. 1).
Ausgestattet mit genauen Daten (Geburtsdatum, Geburtsort, Namen der Eltern von Herrn Pitenis) konnte er in weiterer Folge mit Unterstützung der griechischen Behörden seinen Vater tatsächlich in Samarina-Grevenion, einem Bergdorf in Nordgriechenland in 2000 m Seehöhe, ausfindig machen, wohin sich der alte Herr während der heißen Zeit des Jahres aus Thessaloniki zurückgezogen hatte.
Auf menschlich sehr berührende Weise demonstriert dieser Fall wieder einmal, welche Bedeutung einer exakten Archivführung zukommt. Nur Archive sind in der Lage, authentische, gesicherte Informationen auf Dauer bereit zu halten und damit einen unverzichtbaren Beitrag zum Gedächtnis der Gesellschaft wie auch zur Rechtssicherheit des/der Einzelnen zu erbringen. Im konkreten Fall hat das Wiener Stadtarchiv wesentliche Hilfestellung geleistet (Abb. 5).
Es ist gar nicht so selten, dass Menschen nicht ausreichend über ihre Verwandten, mitunter sogar über ihre eigenen Eltern Bescheid wissen. Häufig war und ist das der Fall bei Kindern aus gesellschaftlich geächteten Beziehungen, etwa wie im konkreten Fall mit Zwangsarbeitern oder mit Besatzungssoldaten.
So wurden nach 1945 in Österreich etwa 20.000 Besatzungskinder geboren. Sie waren die Folgen von Beziehungen österreichischer Frauen mit Besatzungssoldaten, aber auch die Folge von Vergewaltigungen. Viele von ihnen kennen ihren Vater nicht und suchen ihn seit Jahren.
Besatzungskinder waren – gemeinsam mit ihren Müttern – unterschiedlichen Formen der Diskriminierung und vielen Anfeindungen ausgesetzt. Sie galten als Kinder des Feindes, obwohl ihre Väter de jure keine Feinde mehr waren. Die Besatzungskinder waren über Jahrzehnte hinweg eine unsichtbare Generation, die an den Rand der Gesellschaft und oft auch an den Rand der eigenen Familie gedrängt wurden. Sie waren umgeben von einer Mischung aus Tabuisierungen und Anspielungen.
Ein quantitativ viel größeres Thema sind Zwangsarbeiter: Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden im Deutschen Reich und den von der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten zwischen 7 und 11 Mio. Menschen der Zwangsarbeit unterworfen [6].
Exemplarisch für sie stehen die Erinnerungen von fast 600 früheren Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern aus 27 Ländern in Ost- und Westeuropa, den USA und Israel, die 2005 bis 2006 in dem Projekt „Dokumentation lebensgeschichtlicher Interviews mit ehemaligen Sklaven- und Zwangsarbeitern“ interviewt wurden. Daraus entstand das Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“. Das auf den Interviews basierende Buch Hitlers Sklaven [6] stellt die Biographien von Männern und Frauen, Juden und Roma, Kriegsgefangenen und zivilen „Fremdarbeitern“, Militärinternierten und KZ-Häftlingen in den Zusammenhang der nationalsozialistischen Kriegs- und Besetzungspolitik. Ihre Erinnerungen und Erfahrungen werden analysiert, ihre unterschiedliche Behandlung in der Nachkriegszeit in den verschiedenen Ländern untersucht. Das Werk ist ein „Denkmal anderer Art“ für diese Sklaven der nationalsozialistischen Diktatur.
Wie viele Menschen in einer Region davon betroffen waren, zeigt ein Beispiel aus Griechenland: Alleine auf Kreta wurden 20.000 Menschen verpflichtet, für die Besatzungsbehörden zu arbeiten, größtenteils unter harten Bedingungen in den Bergwerken, weitere 100.000 wurden von der Wehrmacht dienstverpflichtet, darunter ab 1943 auch 16-Jährige. Nach Deutschland wurden 23.000 Personen angeworben, anschließend weitere 12.000 als Zwangsarbeiter und 1000 als Kriegsgefangene [5].
Zwischen 1939 und 1945 gab es in der „Ostmark“, offiziell Alpen- und Donau Reichsgaue, auf dem Gebiet des heutigen Österreichs etwas mehr als eine Million ausländische Zwangsarbeiter, etwa die Hälfte von ihnen im „Landesarbeitsamtsbezirk Wien-Niederdonau“.
Somit wurden etwa 500.000 Zwangsarbeiter in Ostösterreich eingesetzt.
Der Großteil von ihnen wurde der Landwirtschaft zugeteilt [5]. Weitere wichtige Einsatzbereiche waren die Industrie [7], insbesondere die Sparte Maschinenbau, sowie das Baugewerbe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kehrten die meisten von ihnen nach Hause zurück. Tausende, v. a. aus der Sowjetunion, bauten sich in Österreich oder anderen Ländern eine neue Existenz auf.
In Briefen an den Österreichischen Versöhnungsfonds berichteten Betroffene „von harten Arbeitsbedingungen und harten Sanktionen bei beispielsweise Arbeitsverweigerung oder unzureichendem Ausführen von Anweisungen“. In vielen Fällen hatte ein solcher Vorwurf die Einweisung des Zwangsarbeiters in ein Arbeitserziehungslager z. B. in Oberlanzendorf (Bezirk Wien-Umgebung) zur Folge.
Zahlreiche Franzosen, die in den Flugzeugwerken oder Rax-Werken in Wiener Neustadt eingesetzt worden waren, wandten sich beispielsweise an den Versöhnungsfonds. Insgesamt 271 Anfragen (etwa 10 % der aus Österreich an den Fonds gerichteten Anfragen) stammten von bis zu diesem Zeitpunkt in Niederösterreich wohnhaften ehemaligen Zwangsarbeitern. Diese hatten sich aus verschiedenen Gründen nach dem Kriegsende 1945 entschieden, in Österreich zu bleiben und nicht mehr in ihre Heimat zurückzukehren.

Späte Anerkennung

Der Österreichische Fonds für Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit (kurz: Versöhnungsfonds, ÖVF) wurde im Jahr 2000 von der österreichischen Bundesregierung per Gesetz eingerichtet. Er nahm seine Arbeit im Jahr 2001 auf. Ziel des Fonds war es, jenen auf dem Gebiet des heutigen Österreich eingesetzten ehemaligen Zwangsarbeitern eine späte Anerkennung und finanzielle Hilfe zukommen zu lassen [1]. Mit einer symbolischen Zahlung sollte ein Zeichen gegen das von den Zwangsarbeitern erlittene Unrecht gesetzt werden.
Der Fonds wurde mit eine Gesamtsumme von über 430 Mio. EUR gespeist. Bis Dezember 2005 leistete der Versöhnungsfonds freiwillige Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter in Österreich während der Zeit des Nationalsozialismus [2, 3]. Rund 132.000 Menschen aus 70 Staaten haben mehr als 350 Mio. EUR aus diesem Fonds erhalten.
Bis zum Abschluss seiner Arbeiten 2005 bearbeitete der ÖVF ca. 150.000 Anträge und legte zu jedem einzelnen Antrag detaillierte Fallakten an. Damit ist der Aktenbestand des Fonds eine der umfangreichsten in Österreich vorhandenen Sammlungen von Zwangsarbeiterschicksalen. Jede dieser Akten dokumentiert das Schicksal eines Zwangsarbeiters.
Wissenschaftlich analysiert wurden diese Akten vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung (BIK) in Graz im Rahmen eines dreijährigen Forschungsprojekts. Die Ergebnisse wurden in dem Buch Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal [1] zusammengefasst, das auch Aspekte des Themenbereichs „Zwangsarbeit“ beleuchtet, die in bisherigen Forschungen nur am Rande dargestellt wurden. Auf der Basis der Unterlagen des Versöhnungsfonds war nicht nur eine Analyse der Lebens- und Arbeitsumstände während des Zwangsarbeitereinsatzes möglich gewesen, sondern auch der Blick darauf, welche Folgen dies für das weitere Schicksal dieser Menschen hatte [1].
Das BIK wurde 1993 von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner geründet. Es beschäftigt in Graz, Wien und Klagenfurt rund 10 wissenschaftliche Mitarbeiter und projektabhängig zusätzlich bis zu weitere 40 Mitarbeiter. Es entfaltet eine besonders große Breitenwirkung in der in- und ausländischen wissenschaftlichen Forschung, aber auch im öffentlichen Bereich. Über 2000 Pressemeldungen allein zwischen 2005 und 2008 zeugen davon.
Während die Projekte wie das Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ oder die Aufarbeitung der ÖVF-Akten individuelle Schicksale in den Mittelpunkt stellen, ist die Rolle einiger Firmen während der NS-Zeit, wie beispielsweise Swarovski, Österreichische Bundesbahnen und Steyr Daimler Puch, größtenteils noch unerforscht und Gegenstand aktueller historischer Forschung.
Gut erforscht ist hingegen der Einsatz von Zwangsarbeitern in den „Reichswerken Hermann Göring“, der späteren VOEST. Im Jahr 1998 wurden in einem Keller auf dem Werksgelände eine der größten Sammlungen von „Lohn- und Personalunterlagen ehemaliger ZwangsarbeiterInnen“ entdeckt. Der Wiener Historiker Oliver Rathkolb hat auf Basis dieses Fundes das Schicksal von über 20.000 zivilen ausländischen Arbeitskräften in der Stahl- und Rüstungsindustrie des NS-Regimes dokumentiert und analysiert. Den Fokus legte er dabei auf die NS-Wirtschaftspolitik, die umfassende Darstellung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Zwangsarbeiter. Er zeigt, wie das Repressionssystem funktioniert hat [7]. Besonders berücksichtigt wird in Rathkolbs Arbeit die Situation von Frauen, die extreme Ausbeutungssituation von über 7000 KZ-Häftlingen aus dem nahe bei Linz gelegenen Konzentrationslager Mauthausen und die ökonomische Bedeutung der Zwangsarbeit.
Angesichts der Gesamtzahlen wurde mit diesen Forschungsprojekten bisher nur die Spitze des Eisbergs aufgearbeitet. „Es gibt noch viele Schicksale zu erforschen und die heutige Generation an die schrecklichen Vorkommnisse zu erinnern.“

Interessenkonflikt

Keine Angabe.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Bacher D, Karner S (Hrsg) (2013) Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Studienverlag, Wien. ISBN: 978-3-7065-5217-2 Bacher D, Karner S (Hrsg) (2013) Zwangsarbeiter in Österreich 1939–1945 und ihr Nachkriegsschicksal. Ergebnisse der Auswertung des Aktenbestandes des „Österreichischen Versöhnungsfonds“. Studienverlag, Wien. ISBN: 978-3-7065-5217-2
2.
Zurück zum Zitat Feichtlbauer H (2005) Zwangsarbeit in Österreich 1938–1945. (Hrsg: Österreichische Versöhnungsfonds). Wien. Deutsche Ausgabe: ISBN 3-901116-21-4. http://www.versoehnungsfonds.at Feichtlbauer H (2005) Zwangsarbeit in Österreich 1938–1945. (Hrsg: Österreichische Versöhnungsfonds). Wien. Deutsche Ausgabe: ISBN 3-901116-21-4. http://​www.​versoehnungsfond​s.​at
3.
Zurück zum Zitat Freund F, Bertrand P, Spoerer M (2004) Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. De Gruyter Oldenbourg Freund F, Bertrand P, Spoerer M (2004) Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Republik Österreich 1939–1945. De Gruyter Oldenbourg
4.
Zurück zum Zitat Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg) (2002) Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, 2. erweiterte Aufl. Hamburger Edition. ISBN: 3-930908-74-3 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg) (2002) Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941–1944, 2. erweiterte Aufl. Hamburger Edition. ISBN: 3-930908-74-3
5.
Zurück zum Zitat Karner S, Ruggenthaler P (2004) Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiete Österreichs 1939–1945. De Gruyter Oldenbourg, Wien. ISBN: 3-486-56800-0 Karner S, Ruggenthaler P (2004) Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft auf dem Gebiete Österreichs 1939–1945. De Gruyter Oldenbourg, Wien. ISBN: 3-486-56800-0
6.
Zurück zum Zitat Plato A von, Leh A, Thonfeld C (Hrsg) (2008) Hitlers Sklaven: Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich. Böhlau, Wien. ISBN-13: 978-3-205-77753-3 Plato A von, Leh A, Thonfeld C (Hrsg) (2008) Hitlers Sklaven: Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich. Böhlau, Wien. ISBN-13: 978-3-205-77753-3
7.
Zurück zum Zitat Rathkolb O (Hrsg) (2001) NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der „Reichswerke Hermann Göring AG Berlin“ 1938–1945. Bd 1 Gonsa C, Hauch G, John M, Moser J, Perz B, Rathkolb O, Schober MC Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- u. wirtschaftshistorische Studien. Bd 2 Karl Fallend: Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: (Auto-)Biographische Einsichten. Böhlau Verlag, Wien Rathkolb O (Hrsg) (2001) NS-Zwangsarbeit: Der Standort Linz der „Reichswerke Hermann Göring AG Berlin“ 1938–1945. Bd 1 Gonsa C, Hauch G, John M, Moser J, Perz B, Rathkolb O, Schober MC Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: Politik-, sozial- u. wirtschaftshistorische Studien. Bd 2 Karl Fallend: Zwangsarbeit – Sklavenarbeit: (Auto-)Biographische Einsichten. Böhlau Verlag, Wien
Metadaten
Titel
Die späte Suche nach meinem Vater
verfasst von
V. Harwanegg
Publikationsdatum
01.12.2014
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe Sonderheft 2/2014
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-014-0200-0

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