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Erschienen in:

Open Access 21.11.2023 | originalarbeit

Mediennutzung Heranwachsender: Eine Herausforderung in Public Health-Dimension … in all seiner diagnostischen Tragweite

verfasst von: Manfred Cassens, Carolin Zeller

Erschienen in: Psychotherapie Forum | Ausgabe 3-4/2023

Zusammenfassung

Der Beitrag fokussiert das seit den 2000ern gestiegene pathogene Mediennutzungsverhalten von Heranwachsenden im Alter von 6 bis 18 Jahren. Auf Deutschland bezogen betrifft dies auf der empirischen Basis freiwilliger Selbstauskünfte (2023) 4,3 von ca. 11 Mio. Heranwachsenden. Auffällig ist, dass sowohl stationäre als auch ambulante sekundär- und tertiärpräventive Versorgungen dieser Gruppe in vielen bis sehr vielen Fällen sog. F‑Diagnosen eine mediennutzende Komorbidität aufweisen. Diese ist jedoch sowohl nach ICD 10 als auch nach ICD 11 nur schwerlich klassifizierbar. Hinzu kommt, dass Stand 2023 im Rahmen der ärztlichen Diagnostik adäquate Tools zur eindeutigen Befundung fehlen. Evidenzbasis ist eine auf einer Literaturrecherche basierende Sekundärdatenanalyse (gem. AGENS-Standard), eingegrenzt auf deutsche und englische Sprache und ein Zeitfenster von 2016 bis 2023, zudem vier themenzentrierte Leitfadeninterviews mit international expertierten Personen. Die Daten wurden einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Die Ergebnisse beider Datenquellen wurden trianguliert und abschließend einer qualitativen Induktion zugeführt. Die Forschungsarbeit verfolgte die Ziele, einerseits themenrelevante potenzielle Lücken in der ICD-11 zu identifizieren und andererseits Lösungsmöglichkeiten für diagnostische Tools vorzuschlagen. Im Sinne einer psychotherapeutischen Präventionsarbeit kommt der Beitrag zum einen zum Ergebnis, dass auch die in der ICD 11 erweiterten diagnostischen Kategorien die Abhängigkeitsphänomene neuer Medien nicht hinreichend erfassen. Zum anderen wird im Ergebnis mit dem Ambulanten Assessment eine Vorgehensweise beschrieben, deren Einsatz im Forschungskontext einen wesentlichen Beitrag zur Lösung bestehender Probleme leisten kann.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Die steigende Bedeutung von Medien in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen

Um den Forschungsfragen nach epidemiologischem Ausmaß des problematischen Umgangs Heranwachsender mit Medien inklusive dementsprechendem Kontrollverlust und den diesbezüglichen diagnostischen Tools nachzugehen, wurde von der Erhebungstechnik her ein empirisch sozialwissenschaftlich qualitatives Literatursurvey (Booth et al. 2012) sowie vier themenzentrierte Leitfadeninterviews (Gläser und Laudel 2010) durchgeführt. Vom Forschungsdesign her stellen ein Methodenmix aus Praxisforschung und Dokumentenanalyse die Basis dar. Primäres Einschlusskriterium hierfür war die Aktualität der identifizierten Beiträge sowie die Expertise der Befragten im deutschen Sprachraum. Von der Auswertungstechnik her wurde eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2023) durchgeführt, so dass die vorliegenden Daten zum Zweck des induktiven Schlusses adäquat verdichtet wurden. Um die Wissenschaftlichkeit zu gewährleisten, wurden die global verwendeten qualitativen Gütekriterien von Lincoln und Guba (1985) angewendet. Im Gegensatz zu vergleichbaren Gegenvorschlägen berücksichtigt dieser Ansatz die Hinzuziehung eines externen Forschungsaudits, das die Güte der Dimensionen „Bestätigbarkeit“, „Zuverlässigkeit“, „Vertrauenswürdigkeit“ und „Übertragbarkeit“ sicherstellt (vgl. Döring 2023). Die Erweiterung des deutschen Drogenaffinitätsberichts für Jugendliche um den „Teilband Computerspiele und Internet“ im Jahr 2011 (BZgA 2020) indiziert zudem, dass die Nutzung neuer Medien nicht nur Chancen bietet, sondern für einen großen Teil der Heranwachsenden auch Gefährdungs- und Abhängigkeitspotenziale impliziert. Mehrere aktuelle Studien kommen im Zusammenhang präferierter Domänen übereinstimmend zu ähnlichen Ergebnissen, indem zwischen 60 und 70 % der Heranwachsenden das Internet unproblematisch nutzen (forsa 2021; mpfs 2022; Bitkom 2022). Der Begriff „problematisch“ bezieht sich dabei im vorliegenden und im diagnostischen Kontext primär auf die Mediennutzungszeiten. Dahingehend ist der Bitkom-Studie zu entnehmen, dass die durchschnittliche Nutzungszeit online-fähiger Geräte in den wichtigen Pubertätsphasen zwischen 13 und 15, sowie zwischen 16 und 18 Jahren mit durchschnittlich 140 bzw. 166 min pro Tag sehr hoch ist und somit trotz aktuell fehlender, definierter Grenzwerte als problematisch bezeichnet werden kann. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung kommt in ihrer vergleichbar angelegten Drogenaffinitätsstudie 2019 bereits auf ein arithmetisches Mittel von 205 min (vgl. BZgA 2020); Hansen et al. liegen in einer weiteren ähnlich konzipierten Studie – ebenfalls in Vor-COVID-Zeiten – bereits bei 243 min (vgl. Hansen et al. 2022, S. 435). Die Stichprobengröße lag jeweils zwischen 920 und 1250 Befragten. Bei aller Toleranz für die neuen Medien und deren Präsenz von frühen kindlichen Lebenswelten bis zum Abschluss der Adoleszenz wirkt es auf viele „Digital Immigrants“ vermutlich befremdlich, dass laut Selbstauskunftsbefragung von Bitkom Research (2022) bereits 21 % der sechs- bis neunjährigen Kinder in Deutschland ein eigenes Smartphone besitzen; das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI 2023) ergänzt, dass 19 % der Kinder dieser Altersgruppe ohne Aufsicht im Internet surfen und Apps benutzen dürfen. In der Altersgruppe 13- bis 15-Jähriger besitzen laut Bitkom-Studie sogar 95 % ein eigenes Smartphone (NGes = 920 Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 18 Jahren); Das Internationale Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI 2023) ergänzt hier bezogen auf die Altersgruppe von 10 bis 13 Jahren, dass bereits 65 % ohne Aufsicht im Internet surfen und Apps benutzen dürfen. Eine derart frühzeitige Adaption an ein eigenes Smartphone, das in vielen Fällen sogar selbstverantwortlich genutzt werden darf, stellt nach hier vertretener Auffassung eine risikoexponierte Situation vulnerabler Kinder und Jugendlicher in Richtung problematischem Umgangs mit den neuen Medien dar. Hinzu kommt, dass die bereits referenzierte Bitkom Research-Studie (2022) zum Ergebnis führte, dass lediglich 28 % der Eltern den eigenen Kindern Vorgaben hinsichtlich der Nutzung digitaler Medien setzen, dies machen mehr als 2/3 (68 %) jedoch nicht.

Probleme Heranwachsender im Nutzungsverhalten und daraus resultierende entwicklungspsychologische Gefährdungspotenziale

Im Fokus von Kindern und Jugendlichen stehen diverse und zugleich umfangreiche Entwicklungsaufgaben in sehr kurzen, häufig aufeinander aufbauenden Abschnitten. Bevor auf Fehlanpassungen im Zusammenhang von Mediennutzungsverhalten eingegangen wird, soll an dieser Stelle in gebotener Kürze vergegenwärtigt werden, welch immense Entwicklungsaufgaben in den hier fokussierten Altersgruppen von Heranwachsenden zu bewältigen sind, die in der Folge in Schlagworten aufgelistet werden. Dabei gilt es stets zu beachten, dass Kinder und Jugendliche nicht die passiven Rezipienten ihrer Umwelt sind, sondern dass sie sich aktiv mit ihr auseinandersetzen; dies betrifft selbstverständlich auch das adaptive Lernen innerhalb des ‚smart home‘ und des ‚smart classrooms‘. Als wesentliche Entwicklungsschritte sind für die frühe Kindheit zu nennen: die prä- und postnatale physische Entwicklung, zudem die Motorik- und Sensorikentwicklung sowie die frühe Eltern-Kind-Interaktion und Bindung (vgl. Lohaus und Vierhaus 2019, o. S.). Darüber hinaus sind im Einzelnen die zu differenzierenden Funktionsbereichen während des Heranwachsens von Relevanz: Kognition, Emotion, Sprache, Selbstkonzept, Geschlechtertypisierung, Soziale Beziehungen zur Familie und zu Gleichaltrigen sowie Moral (vgl. Siegler et al. 2021, o. S.).
Glüer (2018) diskutiert die negativen Einflusspotenziale neuer Medien in Bezug auf veränderte Adaptionsformen hinsichtlich der folgenden ebenfalls schlagwortartig erfassten Dimensionen: Selbstdarstellung, Konversation, Austausch von Inhalten, Präsenz, Beziehungen, Status und Gruppen. Viele dieser entwicklungspsychopathologisch hoch relevanten Aktivitäten werden auf Social Media-Dienste konvergiert und finden mittlerweile häufig bis sehr häufig im virtuellen Raum statt. Glüer (ebd.) nennt im Kontext von psychologischen Entwicklungsaufgaben Heranwachsender zwar die Vorteile Anonymität, Asynchronität und Zugänglichkeit. Aktuelle Studien (u. a. Barrett-Maitland und Lynch 2020; Engels 2018) weisen jedoch nicht nur darauf hin, dass Kinder und Jugendliche genau hierauf häufig verzichten, indem sie dementsprechend auf sozialen Medien nur allzu leichtfertig persönliche Daten posten; dieser Effekt wird als ‚Privacy Paradox‘ bezeichnet (Barth und de Jong 2017). Dies ist vielmehr auch der Grund dafür, dass sie unerwünschte Nachrichten erreichen. So berichten in der schweizerischen Jugend-Aktivitäten-Medien-Erhebung (Külling et al. 2022) bereits 19 % der zwischen 12- und 13-Jährigen, einmal von einer fremden Person online mit unerwünschten sexuellen Absichten angesprochen worden zu sein. In der darüberliegenden Altersgruppe der 14- und 15-Jährigen waren dies bereits 41 %. Diese Werte indizieren, dass die Selbstverletzung des Privacy Paradox nicht unbedingt ohne ungewollte Konsequenzen bleibt. Erschwerend hinzu kommen die missbräuchliche oder gar suchtartige Nutzung von ‚Social Media‘ und Computerspielen bei bis zu vier von 10 Heranwachsenden (BZgA 2020). In diesem Kontext sei am Rande die erhöhte Vulnerabilität und Prävalenz für Mädchen hinsichtlich der pathogenen Nutzung von sozialen Medien erwähnt (u. a. Großegger 2021; Reinhard 2016). Bei den Burschen verhält es sich umgekehrt hinsichtlich des (nahezu) unkontrollierten Spielens am Computer (ebd.). Dass die Nutzung von neuen Medien missbräuchlich oder sogar in Suchtform mittlerweile anerkannt und etabliert ist, zeigt nicht nur deren Aufnahme in die Drogenaffinitätsstudie, sondern vielmehr auch deren Integration in das Klassifikationssystem der ICD 11 (Rumpf et al. 2020). Zusammenfassend indiziert dies: Mit den kindlich-jugendlichen Krisenphasen verbunden sind ‚typische‘ psychische Störungen und Entwicklungsauffälligkeiten, die in der Gesundheitsberichterstattung adäquat dokumentiert sind. Exemplarisch sind im Kontext die Studie „Health Behavior in School-aged Children“ (HBSC) und die „Studien zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) des Robert Koch-Instituts (RKI 2020, Baumgarten et al. 2019) zu nennen. Problematische Mediennutzung oder gar die Abhängigkeit von Medien ist hier im Gegensatz zur Drogenaffinitätsstudie immer noch kein Hauptthemenfeld. Im Kontext der beschriebenen Entwicklungsaufgaben und Medien bedingter Krisen Heranwachsender sollte nicht nur die Epidemiologie nun um die pathogenen Einflussmöglichkeiten der neuen Medien erweitert werden.

Die optimierungsbedürftige Diagnostik von Medienmissbrauchs- und Abhängigkeitsverhalten bei Heranwachsenden

Das amerikanische ‚Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders‘ führt in seiner aktuell fünften Fassung (DSM‑5, 2013) – als vorbehaltliche Forschungsdiagnose – seit dessen Implementierung das diagnosefähige Störungsbild „Internet Gambling Disorder“ (Petry und O’Brian 2013). Auch die aktuell in ihrer Etablierung befindliche ‚International Classification of Diseases and Related Health Problems‘ in elfter Fassung (ICD-11-GE) integriert die Problematik unter der Klassifikation ‚Glücksspiel- und Computerspielstörung‘. Klassifiziert ist demnach einerseits die Diagnose ‚Computerspielstörung oder abhängiges Computerspielen‘ (Gaming Disorder, ICD-11-Code 6C51). Im Gegensatz zur dichotom ausgerichteten Vorgängerversion ICD-10, bei der Computerspielen lediglich indirekt und zumeist unter den Codierungen ‚Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle‘ (ICD-10 Code F.63.8) oder aber unter ‚Sonstige näher bezeichnete Persönlichkeits- und Verhaltensstörung‘ (ICD-10 Code F.68.8) klassifiziert wurde, ist es nun andererseits auch möglich, die Vorstufe einer Störung, die gewohnheitsmäßige Nutzung als ‚Gefährliches Computerspielen‘ (‚Hazardous Gaming‘, ICD-11-Code QE22) zu klassifizieren. Dieser Erweiterung in der neuen ICD-Fassung entspricht einer Adaption an ein sich erweiterndes ätiologisches Krankheitsverständnis. Dieser neuen Klassifikation folgte einem 2021 von einer Expertenkommission vorgelegten Positionspapier (Rumpf et al. 2021, S. 181–185). Kritisiert werden muss an dieser Stelle aufgrund der zuvor erfolgten Ausführungen zur Mediennutzung durch Heranwachsende, dass aktuell die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (SNS), die primär den femalen Präferenzen entspricht, genauso (noch) nicht klassifiziert ist, wie weitere relevante Störungen; die befragten Experten nennen hier die Pornografie-Nutzungsstörung (PNS) und die Shoppingstörung (ShS). Was die diagnostische Grundlage von gewohnheitsmäßiger Mediennutzung oder gar einer Störung betrifft, so liegen anhand von Biomarkeranalysen erste neurobiologische Korrelationen für die in der ICD 11 angegebene Computerstörung und die aktuell noch nicht aufgeführten Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung (SNS) seit 2017 vor (vgl. Tereshchenko und Kasparov 2019; Park et al. 2017). Für eine übergangsweise Frist, die durchaus noch die Dauer einer Dekade in Anspruch nehmen kann, bleibt somit flächendeckend immer noch der unbefriedigende Weg, als diagnostisches Tool die empiriebasierten Fragebögen in Form von Selbstauskünften zu nutzen. Die befragten Experten unterstrichen im Rahmen der Leitfadeninterviews die Probleme empirischer Konstruktbildungen in Form von fünf Problembereichen:
  • Fehlende oder ungenügende Operationalisierung
  • Unscharfe Mehrdeutigkeit, die zu Missverständlichkeiten führt
  • Fehlender Bezug zum Verhalten
  • Fehlende Kompatibilität mit international anerkannten diagnostischen Klassifikationen und
  • Terminologisch bedingte Stigmatisierungspotenziale
Hinzu kommt, dass die im Rahmen der Erstellung dieses Beitrages analysierten etablierten Testmanuale vor allem die zeitliche Nutzung von Medien fokussieren, wie dies auch im Vorfeld zur Explikation kam. Dies entspricht nicht dem ökologischen Verständnis von Suchtentstehung, die multifaktorieller Natur ist (vgl. Tretter 1998). Dies impliziert zusammenfassend, dass additiv hinzukommend zur Tatsache fehlender, jedoch relevanter Klassifikationsinstrumente die aktuell in der Diagnostik verwendeten Testmanuale für als nicht hinreichend befunden werden müssen.

Entwicklungsleistungen bedürfen der permanenten Verhaltens- und Verhältnisprävention

Die vorliegenden Studien indizieren zum einen, dass – auf der Basis von Selbstauskünften – bis zu vierzig Prozent der Heranwachsenden gewohnheitsmäßig und somit riskant Medien nutzen, von denen bis zu ca. neun Prozent sogar abhängig sein können. Da es sich bei den empirischen Umfragen um freiwillige Selbstauskünfte handelt und zudem Probleme bei der Konstruktentwicklung sowie der Operationalisierung attestiert werden, kann davon ausgegangen werden, dass die vorliegenden Studien, die primär Nutzungszeiten fokussieren, als problematisch zu bewerten sind. Dabei wird jedoch erkennbar, dass es sich bei dem problematischen oder gar dem suchthaften Mediennutzungsverhalten von Heranwachsenden um ein Problem von bevölkerungsmedizinischer Dimension handelt. Die zuvor angeratene Entwicklung eines diagnostischen Tools für eine alters- und störungsgerechte Anamnese medialer Nutzungsgepflogenheiten unter ökologischen Ponderabilien (s. unten) ist dringend als Basis zur Prävention einer ‚Volkskrankheit‘ indiziert. Eine präventive Surveillance sollte daher im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung für Kinder in der U‑Untersuchung und für Jugendliche in der J1-Untersuchung zeitnah in Erwägung gezogen werden. Dies betrifft vor allem Pädiaterinnen, Pädiater, Hausärzte und Hausärztinnen. Deutlich differenzierterer Testmanuale bedarf es jedoch auch sowohl für eine adäquate psychotherapeutische Anamnese als auch Therapie, die nicht nur Nutzungszeiten und genutzte Medien fokussiert, sondern einen ökologischen Ansatz wählt. Dieser ist letztlich auf Helmut Knötig (1972) und die ‚Wiener Schule‘ rückführbar: Dabei resultieren Abhängigkeit und abhängigkeitsnahes Verhalten aus Wechselbeziehungen zwischen Betroffenen und ihren Lebenswelten; letztere sind dabei mehrdimensional ausgelegt. Im Vergleich zu anderen Abhängigkeitserkrankungen ist über die Ökologie der Mediensucht noch wenig bekannt. Daher wird im Rahmen dieses Beitrages und im Kontext von Diagnostik einstweilen davon abgeraten, weiterhin mit standardisierten empirischen Verfahren vorzugehen, wie dies aktuell der Fall ist. Vielmehr wird empfohlen in einer Übergangsphase mit qualitativen, offen explorativen Methoden zu arbeiten. Allgemein ausgedrückt geht es dabei generell darum, in geisteswissenschaftlicher Tradition „ganzheitlich und rekonstruktiv lebensweltliche Phänomene zu untersuchen“ (Döring 2023). Narrative bis teilstandardisierte Interviews sind hierbei ein wesentliches Element (Helfferich 2014; Küsters 2014). Empfohlen wird bereits auf dieser ersten Stufe die Anwendung eines Ambulanten Assessment-Verfahrens, das bis dato primär in der Generierung quantitativer Daten etabliert ist (Reichert et al. 2021; Fahrenberg et al. 2007). Mit diesem offenen Ansatz werden die Nachteile standardisierter, rekonstruktiver Testverfahren überwunden, so dass detailliertere Erkenntnisse über die Ökologie der hier behandelten Mediensüchte generiert werden können, dies im Hinblick auf eine bislang nur ansatzweise erfolgte Theorie- und Modellbildung. Ein anfangs qualitatives Vorgehen mittels narrativer, maximal jedoch teilstandardisierter Interviews ermöglicht es zudem, das Denken und Handeln von Heranwachsenden in größerer Komplexität zu erfassen, als dies bei aktuell verwendeten standardisierten Fragebögen der Fall ist, die zudem von Erwachsenen für Kinder und Jugendliche entwickelt wurden. In einem Folgeschritt können auf dieser Basis erste, auf die vier weiter oben beschriebenen Mediensüchte (Spiel‑, Kauf‑, Porno‑, Social Mediasucht) Operationalisierungsversuche unternommen werden, die dann in einem zweiten Ambulanten Assessment münden. Hierbei wäre es indiziert, bereits mit einem Kurzfragebogen anzusetzen, der eine zeitlich wenig umfangreiche Beantwortung ermöglichen kann. Seit Einführung Ambulanter Assessments in den 1980er-Jahren ist es etabliert, digitale Tools zu verwenden; anfangs waren dies v. a. Diktafone. Mittlerweile können aufgrund der eingangs erwähnten Nutzungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen Smartphones eingesetzt werden. Selbstverständlich ist bei deren Anwendung auf die besonderen Regelungen der Datenschutzgrundverordnung zu achten. Aufgrund der Vergütungsproblematik derartiger Verfahren erscheint deren Anwendung im psychotherapeutischen Alltag derzeit wenig sinnvoll, die Einreichung als Forschungsprojekt beim „Gemeinsamen Bundesausschuss“ (G-BA) demgegenüber intendiert. In der Folge dieses Mixed Methods-Ansatzes sollte es möglich sein, entsprechend differenzierte Fragebogenmanuale abzuleiten, die hinsichtlich Alter und Medium spezifizierter zum Einsatz kommen können. Dies dürfte zu einer ökologischen Anamnese und Therapie einen erheblichen Beitrag leisten.

Fazit

Induktiv verdichtend lässt sich daher beide Forschungsansätze triangulierend feststellen:
  • Neue Medien haben spätestens ab der mittleren Kindheitsphase hohe Abhängigkeitspotenziale.
  • Deren – adäquate – Diagnostik sollte sehr zeitnah in die Kinder- und Jugendvorsorgeuntersuchungen integriert werden.
  • Weder sind derzeitige Testmanuale genügend spezifiziert, noch sind die Abhängigkeispotenziale ausreichend differenziert in der ICD-11 abgebildet.
  • Konkrete Anwendungsforschung ist daher indiziert, um perspektivisch bessere Anamnese und Therapie leisten zu können.

Interessenkonflikt

M. Cassens und C. Zeller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
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Metadaten
Titel
Mediennutzung Heranwachsender: Eine Herausforderung in Public Health-Dimension … in all seiner diagnostischen Tragweite
verfasst von
Manfred Cassens
Carolin Zeller
Publikationsdatum
21.11.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Psychotherapie Forum / Ausgabe 3-4/2023
Print ISSN: 0943-1950
Elektronische ISSN: 1613-7604
DOI
https://doi.org/10.1007/s00729-023-00239-7

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