Einleitung
Die Behandlung im häuslichen Umfeld (Home Treatments, HTs) von Patient:innen ist eine vielversprechende Alternative zur stationären Behandlung, bei der Kinder und Jugendliche psychiatrische Betreuung zu Hause unter Aufsicht ihrer Betreuungspersonen erhalten und dabei die Infrastruktur ihrer Familien genutzt wird. Fachkräfte für psychische Gesundheit besuchen die Patient:innen in ihrem Zuhause und behandeln Kinder und Jugendlichen in ihrer vertrauten Umgebung. Obwohl sich die Durchführung von HTs in Dauer und Intensität unterscheiden können, besteht das übergeordnete Ziel in der Regel darin, die Notwendigkeit einer stationären Behandlung zu verkürzen oder obsolet zu machen, und dabei die tägliche Routine der Patient:innen und ihre soziale Teilhabe aufrecht zu erhalten [
1,
2]. Während der COVID(„coronavirus disease“)-19-Pandemie ist das Interesse an HTs gestiegen, da sich diese während Lockdowns, Quarantäne und Zeiten des Social Distancing als vorteilhaft erwiesen haben.
Bereits vor der Pandemie waren die stationären Behandlungskapazitäten in Österreich begrenzt, was zu einer gesteigerten Nachfrage nach dem Einsatz von HTs beigetragen hat [
1]. Die Anwendung von Behandlungen im häuslichen Umfeld ist bereits in einigen Ländern gut etabliert [
2]. In Österreich gehen der Einsatz und die Integration in bestehende Behandlungs- bzw. Versorgungskonzepte mit verschiedenen Herausforderungen einher, wie beispielsweise begrenzte personelle und finanzielle Ressourcen. Dabei sind fortlaufende Evaluierungen im Rahmen der Implementierung notwendig, um eine erfolgreiche Umsetzung sicherzustellen [
3].
Gründe für die Ablehnung bzw. Nichtanwendung von HTs sind vielfältig und umfassen beispielsweise die Angst vor Stigmatisierung oder mangelndes Wissen über verfügbare Versorgungsoptionen. Zusätzlich hindern Barrieren, wie strukturelle Herausforderungen oder Transportprobleme, den Zugang im Bereich der psychiatrischen Versorgung [
2]. Die Folgen verzögerter oder ausbleibender therapeutischer Intervention können eine reduzierte Lebensqualität, soziale, familiäre und schulische Schwierigkeiten sowie mögliche chronische Verläufe sein [
6].
Im Jahr 2020 löste die COVID-19-Pandemie starke emotionale Belastung und Ängste bei Kindern und Jugendlichen aufgrund von Schulschließungen, eingeschränkten sozialen Kontakten und Reisebeschränkungen aus [
7]. Darüber hinaus sind während der Beschränkung der Bewegungsfreiheit die Anzahl an Fällen von Kindesmissbrauch, verschärft durch temporäre Kontaktabbrüche zu Personen aus den Unterstützungsnetzwerken wie beispielsweise Lehrpersonen oder entferntere Familienmitglieder, gestiegen [
8]. Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat sich die Anzahl der jungen Menschen, die an depressiven Symptomen leiden, in einigen europäischen Ländern während dieser Zeit mehr als verdoppelt, was zu einer doppelt so hohen Prävalenz depressiver Symptome im Vergleich zu älteren Altersgruppen geführt hat [
9]. Auch die Anzahl an Personen mit Anorexia nervosa ist in dieser Zeit angestiegen, wobei HTs besonders bei dieser Patient:innengruppe zum Einsatz gekommen sind. Vor diesem Hintergrund erscheint es wichtig, wirksame Strategien und Behandlungsoptionen zu entwickeln und umzusetzen, die auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten sind [
10].
Eine Vielzahl von Faktoren trägt zu den zunehmenden Herausforderungen in der psychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen bei. Im Jahr 2017 wiesen österreichische Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 10 und 18 Jahren eine Punktprävalenz von 23,9 % und eine Lebenszeitprävalenz von 35,8 % für mindestens eine psychische Störung auf [
4]. In Deutschland lag die Persistenzrate psychischer Störungen innerhalb von 2–5 Jahren bei über 50 % [
2]. Etwa 50 % der Kinder, die eine psychiatrische Untersuchung benötigen, erhalten häufig erst sehr spät oder gar keine Behandlung [
5].
Die Vorteile von HTs liegen in der Einbindung des persönlichen Umfelds von Patient:innen und dem Wegfallen des Bedarfs an ständiger Aufsicht durch Fachpersonal der psychiatrischen Versorgung [
11]. Im Gegensatz zur stationären Behandlung, die bei jungen Patient:innen ein Gefühl der Isolation hervorrufen und die Autonomie sowie Teilnahme am täglichen Leben beeinträchtigen kann, wird durch den Einsatz von HTs eine Fortsetzung der sozialen und emotionalen Entwicklung in der jeweiligen vertrauten Umgebung ermöglicht. HTs steigern das Verantwortungsbewusstsein der Patient:innen für ihre eigene Genesung und erhöhen die Unterstützung durch Eltern bzw. Betreuungspersonen durch die Verbesserung der Handlungsfähigkeit und des Wissens im Rahmen der Behandlungen zu Hause [
12]. Die direkte Umsetzung von Veränderungen im Alltag der Patient:innen scheint auch langfristig positive Auswirkungen auf die Stabilität der Behandlungseffekte zu haben.
Des Weiteren kann der Übergang von der stationären zur ambulanten Behandlung unterstützt werden [
11]. Der Einbezug des sozialen Umfelds von Patient:innen erweist sich als besonders unterstützend für den Behandlungserfolg [
13]. Die Zufriedenheit scheint mit dem Einsatz von Behandlungen im häuslichen Umfeld ebenfalls höher zu sein als im Vergleich zu anderen Behandlungsformen. Eine vierjährige Nachuntersuchung hat ergeben, dass ca. 70 % der Eltern mit den HT-Erfahrungen zufrieden waren, während dies nur bei 37 % der Eltern von Kindern, die eine stationären Behandlungen durchlaufen haben, der Fall war [
6]. Laut Graf et al. [
11] empfehlen mehr als 80 % der befragten Patient:innen und Eltern HTs weiter. Studien legen nahe, dass mit HTs trotz der nicht notwendigerweise geringeren Kosten im Vergleich zu stationären Behandlungen eine ebenso hohe Wirksamkeit die Behandlungserfolge betreffend erzielt werden kann [
11].
Die Umsetzung von HTs kann in einigen Fällen herausfordernd sein, insbesondere wenn die Anfahrtswege zu den Patient:innen lang sind. Patient:innen können HTs aufgrund von Bedenken hinsichtlich der Stigmatisierung in ihrer Nachbarschaft ablehnen. Häufig wollen Eltern sich nicht aktiv am Veränderungsprozess zu Hause beteiligen, was potenziell Konflikte zur Folge haben kann.
Studien legen nahe, dass grundsätzlich eine Vielzahl an Erkrankungen mit einem HT-Konzept behandelt werden kann [
2]. Beim Vergleich unterschiedlicher HTs weltweit können sich die Häufigkeit der Besuche, die Dauer der Programme, die Arten der Therapie, das Alter, die Indikationen, die behandelnden Berufsgruppen und die Messgrößen der Evaluation unterscheiden [
14,
15]. Diese Unterschiede führen zu einer begrenzten Übertragbarkeit internationaler Leitlinien und einem Mangel an vergleichbaren, evidenzbasierten Ergebnissen im Rahmen der Forschungen zu HTs [
16].
Die Zeitpunkte der Ergebnismessungen der Wirksamkeit von HTs sollten sorgfältig gewählt werden und sowohl den Zeitpunkt des maximalen Nutzens während oder kurz nach Beendigung der HTs als auch eine Follow-up-Erhebung miteinschließen. Dies kann sich als vorteilhaft für die Aufdeckung eines möglichen Rückgangs oder eine Rückkehr zu einem früheren Entwicklungsstadium oder Verhaltensmuster sowie die Messung der Stabilität von Behandlungseffekten erweisen [
17].
Häufig untersuchte Ergebnisbereiche in der HT-Forschung, einschließlich beispielhafter Messinstrumente und Ergebnisvariablen, werden nachfolgend beschrieben:
-
Der Schweregrad der Symptome kann mithilfe der Health of the Nation Outcome Scales for Children and Adolescents (HoNOSCA) bewertet werden [
18].
-
Das Funktionsniveau kann mit Maßen wie der Globalen Einschätzung des Funktionsniveaus (GAF) oder der Skala für globale Beurteilung von Kindern (CGAS) bewertet werden. Der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) kann für klinische Bewertungen, Evaluierung von Ergebnissen und Screenings verwendet werden [
2].
-
Die Lebensqualität wird häufig mithilfe des KIDSCREEN-27-Fragebogens gemessen [
19].
-
Die Zufriedenheit von Patient:innen und Eltern mit der Behandlung wird oft als Ergebnisparameter verwendet und mithilfe von Fragebögen wie dem ZUF‑8 beurteilt [
20].
-
Zusätzlich zu patient:innenzentrierten Ergebnissen wird das psychosoziale Umfeld oft durch die Messung der Fähigkeiten von Betreuungspersonen beurteilt, beispielsweise mit dem CASK [
21].
-
Die Gesamtkosten der Behandlung werden aus wirtschaftlichen Gründen in der Regel berechnet und berücksichtigen Faktoren wie die Gesamtanzahl der Behandlungszeit, globale Effekte oder Wiedereinweisungen [
13].
-
Diagnosebezogene Ergebnisbereiche können den Body-Mass-Index, Menstruationszyklen oder spezifische Fragebögen umfassen, die beispielsweise bei anorektischen Patient:innen verwendet werden [
12].
Neben den oben genannten Messinstrumenten verwenden viele Studien individuelle, selbst entwickelte Fragebögen und Ergebnisvariablen.
Das Ziel der vorliegenden Studie war es, die Erfahrungen und Ansichten von Expert:innen zu HTs zu erfassen, wobei ein spezieller Fokus auf die Evaluierung dieser Art der Behandlungs- bzw. Versorgungsform gelegt wurde.
Methoden
Insgesamt wurden acht Expert:innen aus den Berufsfeldern der Ärzteschaft der Kinder- und Jugendpsychiatrie (n = 2), klinischen Psychologie (n = 1), Sozialpädagogik (n = 3), Sozialarbeit (n = 1) und Gesundheits- und Krankenpflege in der psychiatrischen Versorgung (n = 1) für die Durchführung der Interviews, darunter zwei männliche und sechs weibliche Expert:innen ausgewählt. Die Personen waren jeweils aktiv an HT-Programmen der Universitätsklinik Tulln beteiligt. Die semistrukturierten Interviews dauerten durchschnittlich 25 Minuten und wurden persönlich am Universitätsklinikum durchgeführt. Die geführten Interviews wurden jeweils aufgezeichnet und entsprechende Gesprächsnotizen gemacht.
Alle Inhalte wurden anonym transkribiert und mithilfe der Datenanalyse-Software MAXQDA ausgewertet [
22]. Die Analyse erfolgte nach einem thematischen Analyseansatz nach Braun und Clarke (2006) und umfasste die Generierung von ersten Codes nach der Einarbeitung in die Daten und der Identifizierung latenter Themen. Anschließend folgten die Überprüfung und Benennung der Themen [
23]. Mithilfe eines KI-Add-ons für MAXQDA wurde anschließend ein deskriptiver Bericht erstellt und manuell analysiert, um ein umfassendes Verständnis der Inhalte der Expert:innen-Interviews zu gewinnen.
Ergebnisse
Hauptthemen und Unterthemen bzw. Kategorien aus der thematischen Analyse der Interviews mit acht Expert:innen der Universitätsklinik Tulln sind in Tab.
1 angeführt. Insgesamt wurden 291 Antworten der teilnehmenden Expert:innen sowie 88 Kodierungen aufgefunden. Es wurden vier Hauptthemen identifiziert: wichtige Aspekte, Anforderungen, Evaluation und mögliche Verbesserungen in Zusammenhang mit HTs. Da mehrere Expert:innen ihre Ansichten zum Thema Schulverweigerung während der Interviews geteilt haben, wurden die Aussagen als eigenes Thema angeführt und eine zusätzliche Kategorie für verbleibende Zitate erstellt, die keiner anderen Kategorie zugeordnet werden konnten oder mit einem bestimmten HT-Programm in Verbindung stehen. Die beiden Kategorien werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit jedoch nicht näher diskutiert, da dies den Umfang überschreiten würde.
Tab. 1
Themen und Unterthemen bzw. Kategorien aus der thematischen Analyse von Expert:innen-Interviews betreffend HTs
Wichtige Aspekte | – | 104 | – |
Vorteile von HTs | 78 | – |
Indikatoren | 18 | „Wir haben auch Patient:innen mit wenigen sozialen Kontakten, die zu Hause sitzen und sich nicht trauen, nach draußen zu gehen und etwas Neues auszuprobieren.“ |
Diagnostik | 14 | „… um zu sehen, wie der Alltag aussieht, wie die Umgebung ist … hier können wir Informationen sammeln, die wir sonst nicht bekommen würden, weil die Familien nicht darüber nachdenken und uns deshalb nicht darüber informieren würden.“ |
Methodische Vorteile | 33 | „… was erreicht wird, an neuen Kompetenzen, kann viel direkter umgesetzt werden, wenn man sie bereits in dem Umfeld erlebt hat, in dem man lebt.“ |
Familie | 13 | „… um zu sehen, ob es in der Familie psychische Erkrankungen gab oder ob es Familiengeheimnisse gibt, die einen Einfluss haben könnten.“ |
Nachteile von HTs | 22 | „Das Ausweichen, das manchmal passiert [während stationärer Behandlungen], dass das Kind sozusagen übergeben wird – natürlich versuchen wir dem entgegenzuwirken, aber manchmal kann es aufgrund von Überlastung notwendig sein.“ |
Vergleichbarkeit HTs | 4 | „Es gibt kaum andere vergleichbare Behandlungsmethoden. Das ist einfach eine sehr spezielle Art von Intervention.“ |
Anforderungen | – | 55 | – |
Patient:innen | 13 | „Es muss ein Leidensdruck vorhanden sein, der mit der Erkenntnis einhergeht, dass Veränderung notwendig ist, ein Verlangen nach Veränderung.“ |
Organisatorische Anforderungen | 24 | „Ein weiterer Aspekt von HTs ist die Flexibilität, man muss nicht nur einfach mit Patient:innen arbeiten, sondern auch mit der ganzen Familie, mit der man Kontakt hat – ihren Geschwistern und Eltern.“ |
Familie | 18 | „Ich glaube, dass mehr Vertrauen seitens der Familie benötigt wird.“ |
Evaluation | – | 64 | – |
Methoden | 13 | „So viele Teile der Familie oder Schule wie möglich einzubeziehen, zum Beispiel Kindergarten, Schule, Institutionen, einfach die sozialen Kontexte zu reflektieren.“ |
Ergebnisse | 35 | „Zufriedenheit oder ob sie kleine Dinge nennen können, die sich geändert haben – nicht nur ob, sondern auch welche spezifischen Dinge sich geändert haben.“ |
Zeitliche Aspekte | 16 | „Ich denke, es wäre sinnvoll, mittel- und langfristige Veränderungen zu messen.“ |
Mögliche Verbesserungen | – | 24 | – |
Betreffend die Therapie | 8 | „Das Problem ist, dass wir noch keine eigene HT-Gruppe haben, was bedeutet, dass der soziale Aspekt fehlt. Die Kinder und Jugendlichen haben uns, aber sie kommen nicht mit ihren Peers in Kontakt.“ |
Organisatorische Verbesserungen | 16 | „Wir brauchen ein stabiles Team. Es fehlen Stunden, unterschiedliche Zeitpläne, es gibt einfach bürokratische Hürden, die es uns sehr schwer machen.“ |
Schulverweigerung | – | 12 | – |
Rest | – | 32 | – |
Gesamt | – | 291 | – |
HTs können eine niedrigschwellige Behandlungs- bzw. Versorgungsoption darstellen
In den Expert:innen-Interviews wurden wichtige Aspekte wie Vor- und Nachteile von HTs aufgedeckt. Neben der einfachen Durchführbarkeit im Alltag der Patient:innen wird als wesentlicher Vorteil von HTs die umfassende Anwendbarkeit beim Vorliegen verschiedenster Störungen wie beispielsweise sozialer Phobien beschrieben. Die Mehrzahl der befragten Expert:innen berichten, dass HTs eine niedrigschwellige Behandlungs- bzw. Versorgungsoption für Patient:innen darstellen. Die Verwendung verschiedener diagnostischer Methoden und Verfahren sowie die Förderung eines tieferen Verständnisses für den Alltag und die Umgebung der Patient:innen werden ebenfalls als vorteilhaft angesehen. Insbesondere während Gesundheitskrisen umfassen methodische Stärken ein geringeres Infektionsrisiko aufgrund des verminderten Kontakts zu anderen Personen.
Die Expert:innen berichten von einem häufig reibungslosen Behandlungsverlauf und einem hohen Maß an Kooperation während der Behandlungen. Darüber hinaus wird von einem engeren Beziehungsaufbau und von weniger schwerwiegenden Beziehungskonflikten in dem Setting berichtet. HTs werden an die Bedürfnisse der Patient:innen angepasst und sind leichter in ihren Alltag integrierbar. Die multidisziplinäre Ausrichtung stellt dabei einen wichtigen Aspekt dar. Für manche psychiatrischen Störungen oder beispielsweise suizidalen Indikationen berichten die Expert:innen jedoch, dass ein stationärer Aufenthalt gegebenenfalls vorteilhafter gegenüber HTs ist, eine Pause vom Alltag sowie gegebenenfalls mehr Struktur bieten kann.
Ein weiterer methodischer Vorteil ist der Miteinbezug des gesamten Familiensystems. Folglich werden HTs auch als gewinnbringender für Familienmitglieder angesehen, die sich mit der psychischen Erkrankung ihrer Kinder isoliert fühlen. Expert:innen für psychische Gesundheit können schneller erreicht werden, was die Hilfestellung bedarfsweise erleichtert. Die meisten befragten Expert:innen betonten, dass im Rahmen von HTs intensiver gearbeitet werden kann. Weiters wird festgestellt, dass HTs teils schwer mit anderen Interventionen vergleichbar sind. Es wurden auch Nachteile von HTs genannt, wie beispielsweise die Frustration der Beteiligten, wenn sich keine Verbesserungen einstellen. Herausforderungen bestehen darin, realistische und erreichbare Ziele zu setzen. Einige Kontraindikationen, wie aggressives Verhalten oder schlechte körperliche Gesundheit, wurden ebenfalls aufgezeigt.
Mehrere Anforderungen betreffend die Patient:innen und deren Familien wurden berichtet, wobei vorrangig organisatorische Anforderungen aufgezeigt wurden. Wenn es um die Gesundheit der Patient:innen geht, wird ein Mindestmaß an körperlicher Gesundheit für die Behandlung vorausgesetzt. Für einige Gruppen von Patient:innen, wie beispielsweise stark suizidale Personen, eignet sich diese spezielle Form der Behandlung zu Hause nicht. Die Festlegung von Zielen wird als unerlässlich angesehen, und die Bereitschaft zur Veränderung sollte bei den Patient:innen vorhanden sein.
Wenn eine Behandlung bei Patient:innen zu Hause begonnen wird, ist ein hohes Maß an Compliance und Vertrauen von Patient:innen und deren Familien für die Erreichung von Behandlungserfolgen erforderlich. Organisatorische Anforderungen beinhalten die Gewährleistung der Sicherheit von Therapeut:innen bei der Behandlung aggressiver Patient:innen oder Familienmitglieder. HTs sollten nicht über einen längeren Zeitraum als notwendig angewendet werden. Organisatorische Anforderungen umfassen beispielsweise die Dokumentation, keine zu langen Anfahrtswege (maximal 30 Minuten Fahrzeit) oder die Bereitstellung eines separaten Raums in der Wohnung von Patient:innen, in dem die Behandlungen stattfinden können. Gesundheitsfachkräfte sollten bei der Versorgung von Patient:innen eine gewisse Flexibilität aufweisen. Eine klare und offene Kommunikation mit allen beteiligten Personen während der Behandlung ist wünschenswert.
Organisatorische Anforderungen umfassen auch die Zusammenarbeit mit Schulen, der Jugendhilfen oder ähnlichen Institutionen. Die angemessene Behandlungsdauer wird von den verschiedenen Expert:innen unterschiedlich eingeschätzt. Während einige Expert:innen angeben, dass sechs Wochen intensives HT ausreichen, schlagen andere vor, die Dauer der intensiven Behandlung zu individualisieren sowie wiederkehrend HTs durchzuführen, wenn die Notwendigkeit dafür besteht.
Die Evaluation sollte den Miteinbezug verschiedener Evaluator:innen umfassen
Ein besonderer Schwerpunkt der Studie liegt auf der Evaluation und den Ergebnisvariablen von HTs. In Bezug auf die Evaluation von HTs und angewendete Methoden können Bewertungen von den Patient:innen selbst, den Betreuungspersonen, Therapeut:innen oder externen Personen vorgenommen werden. Individuell zugeschnittene Evaluierungen spielen eine bedeutende Rolle bei der methodischen Herangehensweise. Expert:innen weisen auch auf die Wichtigkeit des Austauschs mit Kolleg:innen während Teamtreffen hin. Während des Evaluierungsprozesses können verschiedene Kriterien, wie Symptome, das Erreichen von Behandlungszielen, Änderungen der psychosozialen Funktionsfähigkeit, die Lebensqualität, der Behandlungserfolg, Compliance der Patient:innen, Veränderungen in der familiären Dynamik, berichtete Erfahrungen mit professioneller Hilfe, ambulante/stationäre Behandlungen während laufender HTs oder die Zufriedenheit mit der Behandlung, miteinbezogen werden.
Die Expert:innen empfehlen ebenfalls die Verwendung von Evaluierungsergebnissen externer Beobachter:innen. Die Evaluation kann dabei verschiedene Bereiche, wie die Familie, das Zuhause, die Arbeit, die Schule sowie das soziale Umfeld, umfassen. Die Verwendung von individuell zugeschnittenen Parametern für die Evaluierung, wie das Erreichen vereinbarter wöchentlicher Ziele und die Einbindung der Schule und des sozialen Umfelds, sind ebenfalls sinnvoll für die Messung von Behandlungserfolgen. Regelmäßige Teamtreffen und -diskussionen sowie individuelle und nicht standardisierte Evaluationen bieten sich an, um die Wirksamkeit des aktuellen Behandlungsansatzes zu bewerten und mögliche Anpassungen vorzunehmen.
Die Festlegung von Kriterien wurde als herausfordernd beschrieben, da Patient:innen häufig komplexe (familiäre) Probleme aufweisen. Hinsichtlich zeitlicher Aspekte sind kontinuierliche Zielbewertungen zu berücksichtigen. In Bezug auf Follow-up-Erhebungen gehen die Meinungen der befragten Expert:innen auseinander. Mehrere Expert:innen halten eine einjährige Evaluierungsperiode für zu lang, wenn mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet wird, da innerhalb dieses Zeitraums viele Lebensveränderungen zum Tragen kommen. Andererseits wurden regelmäßige Follow-up-Erhebungen bis zum Erreichen der gesetzlichen Volljährigkeit der Patient:innen vorgeschlagen.
Im Hinblick auf mögliche Vorschläge für Verbesserungen wurden häufig organisatorische Aspekte genannt. Diese umfassen beispielsweise die Erhöhung von Ressourcen, dediziertes Personal, das sich ausschließlich auf HTs konzentriert, sowie die flexible Planung von Terminen. Patient:innen profitieren von dem Miteinbezug mehrerer Berufsgruppen und Therapeut:innen mit zusätzlichen Qualifikationen. Die Therapiedauer sollte prozessorientiert ausgelegt sein und für jede Person individuell angepasst werden, wobei sich der Miteinbezug von Gleichaltrigen für soziale Interaktionen während dieser Zeit positiv auf die Therapieeffekte auswirken können.
Diskussion
Die Erkenntnisse, die aus den Interviews mit den Expert:innen gewonnen wurden, sollen zu einem klareren und umfassenderen Verständnis der Behandlungen im häuslichen Umfeld für Kinder und Jugendliche in der psychiatrischen Versorgung beitragen. Einer der wichtigsten Vorteile von HTs, der von den Expert:innen wie auch anderen Studienautor:innen [
2] genannt wurde, liegt in den umfassenden Anwendungsmöglichkeiten von HTs bei verschiedenen psychiatrischen Störungen, die im privaten Umfeld der Patient:innen durchgeführt werden. Durch die geringe Anzahl von Kontraindikationen scheinen HTs speziell für den Einsatz bei Erkrankungen in dieser Altersgruppe geeignet zu sein. HTs werden als eine niedrigschwellige Option für Kinder und Jugendliche betrachtet, die unter Umständen sonst keine professionelle Hilfe in Anspruch nehmen würden, was negative, gesundheitliche Folgewirkungen nach sich ziehen kann [
6].
Ein weiterer Vorteil ist der
Outreach-Ansatz von HTs, mit dem Potenzial, eine große Anzahl von Patient:innen zu erreichen, die sich unter anderem in stationärer Behandlung befinden [
2], was auch von den Expert:innen der vorliegenden Studie berichtet wurde. Im Allgemeinen wird ein schnelleres Erfassen der persönlichen Situation der Patient:innen, ihres Alltagslebens und ihres sozialen Umfelds als vorteilhaft beschrieben. Der berichtete familienzentrierte Ansatz, der für den Behandlungserfolg mitentscheidend ist, wurde auch von anderen Autor:innen angeführt [
11,
24].
Nach Ansicht der Expert:innen bieten die Erkenntnisse, die während der Hausbesuche gewonnen werden, wertvolle Informationen, die während der Anamnese in stationären Behandlungssettings möglicherweise nicht in dem Umfang gesammelt werden können. Die Beobachtung der Umgebung der Patient:innen und der Interaktionen mit Familienmitgliedern liefern Informationen, die ein tieferes Verständnis der zugrunde liegenden Zustände und verdeckten Probleme sowie deren Auswirkungen auf Patient:innen fördern können. Generell kann dies auch einen individuelleren Therapieansatz ermöglichen. Laut Lay et al. [
24] trägt der Miteinbezug von Familien in die Behandlung dazu bei, elterliche Verantwortung und eine kontinuierliche soziale und emotionale Entwicklung in der vertrauten Umgebung zu adressieren [
12]. Die aktuelle Expert:innen-Befragung hebt hervor, dass durch den Miteinbezug von Familienmitgliedern bzw. Betreuungspersonen deren potenzieller Bedarf an Hilfe und Unterstützung schneller erkannt werden kann, einschließlich der Bereitstellung geeigneter Maßnahmen.
Die größte Herausforderung, die von fast allen befragten Expert:innen hinsichtlich der Festlegung realistischer und erreichbarer Ziele für Kinder und Jugendliche während der Therapie berichtet wurde, treffen neben HTs auch auf andere Behandlungssettings zu. Die berichteten höheren Anforderungen umfassen den intensivierten und persönlicheren Kontakt, der für Fachkräfte im Bereich der psychischen Gesundheit sehr fordernd sein kann und bei der Organisation von HTs berücksichtigt werden sollte. Da HTs wie berichtet tendenziell eher weniger Struktur bieten als eine stationäre Behandlung, eröffnet dies auch die Möglichkeit für individuellere Behandlungsansätze für psychiatrische Patient:innen, um ihre individuellen Wünsche und Bedürfnisse anzusprechen. In der Literatur wird von Unterschieden in der Umsetzung von HTs berichtet [
14,
15], was die Vergleichbarkeit im Allgemeinen schwieriger macht. Aufgrund verschiedener Einschränkungen können HTs als eine spezielle Behandlungs- bzw. Versorgungsform angesehen werden, die mitunter nicht so einfach mit anderen Ansätzen vergleichbar sind.
Die wichtigsten Anforderungen für HTs umfassen realistische Zielsetzungen, Compliance und den Aufbau von Vertrauen, wobei alle Personen auf ein gemeinsames Ziel hinarbeiten. Dies kann sich von stationären Aufenthalten unterscheiden, wo ein stärker auf den Patient:innen ausgerichteter Ansatz verfolgt wird und Eltern bzw. Betreuungspersonen möglicherweise weniger intensiv in die Behandlung eingebunden sind. Es erfordert oft zusätzliche Anstrengungen von Fachkräften der psychischen Gesundheit, um die Familien der Patient:innen zu motivieren. Der soziale Miteinbezug von Gleichaltrigen wird von den Expert:innen aufgrund ihres wertvollen Beitrags zum Genesungsprozess der Patient:innen während HTs empfohlen und sollte stärker gefördert werden.
Ein besonderer Schwerpunkt der vorliegenden Studie liegt auf der Evaluation von HTs. Neben den berichteten Kriterien wie Schweregrad bzw. Vielfalt der Symptome, psychosoziale Funktionsfähigkeit und Lebensqualität wurde von vier der acht Expert:innen Zufriedenheit als ein besonders bedeutsamer Parameter für den Evaluationsprozesses vorgeschlagen. Angesichts der oftmals höheren Behandlungszufriedenheit im Vergleich zur stationären Behandlung über einen längeren Zeitraum [
6] wie auch der häufigen Weiterempfehlung [
11] sollte Zufriedenheit als wesentlicher Parameter angedacht werden.
Die berichteten Outcome-Parameter überschneiden sich teilweise mit den bereits häufig angewandten Parametern [
18‐
20] und den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation zur Bewertung der Behandlung von Personen mit psychischen Störungen [
25]. Der Einbezug der Erfahrung mit professioneller Hilfe als Ergebnisparameter betont die kontinuierliche psychiatrische Unterstützung, die dazu beitragen kann, die Fähigkeit der Patient:innen zu verbessern, sich selbst zu helfen, indem sie bei Bedarf um Unterstützung ansuchen. Hierbei kann die Inanspruchnahme von ambulanten Behandlungen als mögliche Ergebnisvariable herangezogen werden, um die Bereitschaft der Patient:innen zu überprüfen, sich bei Bedarf Hilfe zu suchen. Geeignete Ergebnisparameter für die Messungen im Allgemeinen vorzuschlagen wurde hierbei als herausfordernd beschrieben.
Der Umstand, dass sich Einschätzungen von Patient:innen signifikant von jenen der Kliniker:innen und Betreuungspersonen unterscheiden können [
2], kann durch den Miteinbezug mehrerer Evaluator:innen adressiert werden, um eine umfassendere und zuverlässigere Bewertung der Behandlungsergebnisse zu erhalten. In Bezug auf zeitliche Aspekte stellen Schmidt et al. [
15] fest, dass sich die Ergebnisse bei HTs innerhalb kürzerer Beobachtungszeiträume im Vergleich zu stationären Behandlungen nicht unbedingt als vorteilhafter erwiesen haben, die Behandlungserfolge über einen längeren Zeitraum jedoch stabiler zu sein scheinen. Einige Expert:innen der vorliegenden Studie empfehlen eine kontinuierliche Evaluation während der Behandlung, einschließlich der Evaluierung durch Angehörige der Patient:innen, während die Meinungen hinsichtlich der Dauer der Nachbeobachtungszeiträume variieren.
Multidisziplinäre Zusammenarbeit und organisatorische Anpassungen stellen wichtige Faktoren dar
Hinsichtlich der Verbesserungen in Zusammenhang mit dem Einsatz von HTs können zusätzliche Schulungen, die verstärkte Einbindung von sowie der vermehrte Austausch zwischen den verschiedenen Berufsgruppen dazu beitragen, den multidisziplinären Ansatz von HTs zu unterstreichen und zu verbessern. Dies ermöglicht den Einbezug einer Vielfalt an Perspektiven und diversifiziert die Versorgung von Patient:innen. Die Ausweitung von HTs erfordert erhöhte personelle sowie finanzielle Ressourcen als wesentliche Voraussetzungen für den Einsatz in Österreich [
3]. Die Durchführung von HTs durch Gesundheitsfachkräfte, die sich vorrangig, ohne zusätzliche Beteiligung an stationären Behandlungen den HTs widmen, erfordert sorgfältige Überlegungen während der Erstellung von Versorgungsplänen für Patient:innen und im Rahmen des Personalmanagements.
Die gewonnenen Erkenntnisse sollen zukünftig dazu beitragen, den Einsatz und den ganzheitlichen Ansatz dieser speziellen Behandlungs- bzw. Versorgungsform für Kinder und Jugendliche in der psychiatrischen Versorgung zu verbessern.
Fazit für die Praxis
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HTs können eine niedrigschwellige Behandlungs- und Versorgungsoption für Kinder und Jugendliche mit psychiatrischen Erkrankungen darstellen.
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Die direkte Beobachtung der Umgebung von Patient:innen und die Interaktionen mit Familienmitgliedern im häuslichen Umfeld liefern Informationen, die zu einem tieferen Verständnis des Alltags und möglicher verdeckter Probleme sowie ihrer Auswirkungen auf Patient:innen führen können.
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HTs können einen individuelleren Therapieansatz darstellen.
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Wichtige Anforderungen bzw. Voraussetzungen umfassen realistische und erreichbare Zielsetzungen, Vertrauensaufbau sowie Compliance der Patient:innen.
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In die Evaluation von HTs sollten mehrere Evaluator:innen miteingebunden werden, um umfassendere und zuverlässigere Ergebnisse zu erhalten.
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Neben den berichteten Ergebnisparametern, wie Schweregrad der Symptome, psychosoziale Funktionsfähigkeit und Lebensqualität, stellt die Zufriedenheit der Patient:innen einen bedeutsamen Parameter dar.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Es wurden keine Patient:innen oder Teilnehmer:innen aus ethisch gefährdeten Gruppen mit einbezogen. Für die angeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Die Teilnahme der Expert:innen an den Interviews erfolgte freiwillig. Sie wurden vor dem Interview über den Zweck der Studie, den Datenschutz und das Verfahren informiert. Die Interviews wurden anonymisiert, und es wurden keine gesundheitsbezogenen Daten erhoben. Daher war keine Genehmigung einer Ethikkommission erforderlich. Die Daten wurden im Rahmen des Bachelorprojekts von Frau Johanna Zauner erhoben.
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