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Erschienen in: Psychotherapie Forum 1-2/2023

Open Access 12.06.2023 | originalarbeit

Genderkompetenz: Leer- oder Lehrstelle?

Gendersensibilität und Genderkompetenz von österreichischen Psychotherapeut:innen

verfasst von: Brigitte Schigl, Corina Ahlers

Erschienen in: Psychotherapie Forum | Ausgabe 1-2/2023

Zusammenfassung

Gender ist eine nach wie vor unterbelichtete Therapeut:innen- (und Patient:innen)Variable der Psychotherapieforschung. Dieser Beitrag definiert Gendersensibilität und Genderkompetenz und stellt vier qualitative Studien vor, die Aussagen dazu in Bezug auf österreichische Psychotherapeut:innen liefern: Die qualitativen Daten der ersten beiden Studien resultieren aus einer Sekundäranalyse, in der Aussagen zum Thema Sprechen über Sexualität sowie leibliche Berührung in der Psychotherapie untersucht wurden. Eine weitere Arbeit beschäftigt sich direkt mit der Genderkompetenz von Psychotherapeut:innen im Prozess der Zielvereinbarung am Beginn der Psychotherapie. Eine Studie aus dem systemischen Feld analysiert Briefe Studierender an Patient:innen (Einzelpersonen, Paare, Familien). Die kritischen Analysen aller Daten verweisen auf eher klischeehafte Vorstellungen von Gender bzw. aus Identifikation resultierende Interaktionen und relativ wenig diesbezügliche Reflexion seitens der Psychotherapeut:innen. Allerdings auch, dass Gendersensibilität angestoßen werden kann und vielfach bei Studierenden ein Wunsch nach mehr Information und Auseinandersetzung damit besteht.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Gender und Gendersensiblität als Therapeut:innenvariable in der Psychotherapieforschung

Gender als Thema in der Psychotherapieforschung ist nach wie vor unterbelichtet. In den Designs und Publikationen empirischer Studien wird Gender zumeist als Sex in Sinne einer binären Variable als Zugehörigkeit zum weiblichen oder männlichen Geschlecht konzipiert (Schigl 2018). Die Untersuchungen diskriminieren dann weibliche und männliche Psychotherapeut:innen bzw. Patient:innen danach, wer den besseren Outcome der bzw. durch die Behandlung erzielt. Die quantitativen Ergebnisse sind uneinheitlich, generell werden jedoch kaum Gendereffekte auf den Therapieoutcome festgestellt. Betrachtet man die Zusammensetzung der therapeutischen Dyade so deuten einige Ergebnisse auf eine Überlegenheit der Same-Gender-Dyade hin (Schmalbach et al. 2022). In qualitativen Studien wird klar, dass die verschiedenen Genderkombinationen verschiedene Dynamiken im therapeutischen Prozess evozieren, die dann in unterschiedliche (typische) Risiken und Vorteile münden (Tolle und Stratkötter 1998; Schigl 2022).
Wie kommen diese unterschiedlichen Dynamiken nun zustande? Sozialkonstruktivistische und dekonstruktivistische Perspektiven erklären Gender als durch unsere in Sozialisation und Enkulturation geprägte, eingeleibte Interaktion: Wir stellen Gender je nach sozialer Situation mit Menschen unterschiedlicher Genderzugehörigkeit unterschiedlich her (Schigl 2022), dies geschieht auch in der Psychotherapie.
Die Handlungen von Psychotherapeut:innen werden in Untersuchungen zumeist als gender-stereotyp beschrieben: Therapeutinnen werden aus Sicht der Patient:innen als emotionsfokussierter und fürsorglicher, Therapeuten hingegen problemfokussierter und direkter wahrgenommen, was jeweils manche hilfreich, andere als hinderlich bewerten (Gehart und Lyle 2001). Es sind zumeist unbewusste Stereotypisierungen und Vorurteile, die die Passung und auch den Outcome der jeweiligen therapeutischen Dyade beeinflussen – der Unconscious Bias ist eine menschliche Grundkonstante.
Da dieser unreflektiert und unhinterfragt zu Verwerfungen oder gar Fehlverläufen im therapeutischen Prozess führen kann, ist es eine Forderung an Psychotherapeut:innen und jene, die sie ausbilden, Gendersensibilität und Genderkompetenz zu praktizieren bzw. vermitteln. Gendersensibilität ist dabei als Wissen um Gender und dessen Implikationen, Gender Kompetenz die Umsetzung dieses Wissens im psychotherapeutischen Prozess konzipiert (Schigl 2018, S. 169 f.). Sie beinhaltet einerseits eine bewusste und theoriegeleitete Analyse von Praxissituationen, andererseits auch eine aus vertiefter Selbsterfahrung erwachsene Awareness der eigenen Person als gendered individual mit den Implikationen auf Fühlen, Denken und Handeln im sozialen Kontext. Gendersensibilität und Genderkompetenz bedeuten somit:
  • Atmosphären und Szenen im therapeutischen Prozess mit den Patient:innen in Hinblick auf Gender wahrzunehmen und zuzuordnen,
  • sie aus einer gendersensiblen Haltung mithilfe theoretischem und aus Selbsterfahrung und Selbstreflexion erwachsenem Gender-Wissen zu analysieren und verstehen; inkl. eigenes Doing Gender in den Blick zu nehmen > Gendersensibilität,
  • um dann im Prozess mit den Patient:innen entsprechend zu (re)agieren, d. h. je nach Situation Gender Dynamiken anzusprechen, ggf. zu Doing Gender zu modifizieren und starre Schablonen auszuweiten > Genderkompetenz (Schigl 2018, S. 174 f.).
Owen et al. (2009) schlussfolgern aus der Outcome-Analyse der verschiedenen Dyaden von über 300 Patient:innen/Therapeut:innen-Paaren, dass manche Therapeut:innen gute Ergebnisse mit Frauen, andere mit Männern und einige mit Patient:innen beider Geschlechter erreichen konnten. Sie konzipieren Genderkompetenz daher als die Fähigkeit von Psychotherapeut:innen mit Patient:innen unterschiedlicher Gender in unterschiedlicher Zusammensetzung einen guten Outcome zu erzielen. Genderkompetenz sei damit ein zentraler Faktor für den Erfolg von Psychotherapie.
Wie ist es nun mit der Gendersensibilität und Genderkompetenz von österreichischen Psychotherapeut:innen in Ausbildung oder mit abgeschlossener Graduierung bestellt?

Daten zu Gendersensibilität von Psychotherapeut:innen in Österreich

Im Folgenden werden drei Studien vorgestellt, die ein Streiflicht auf die Gendersensibilität von in die österreichische Psychotherapeut:innen-Liste eingetragenen Therapeut:innen werfen.
Eine Studie beschäftigt sich mit dem Thema des Sprechens über Sexualität (Gilli 2019) bzw. eine weitere mit dem Thema der leiblichen Berührung in der Psychotherapie (Siller 2021). Beide Aspekte sind stark gender-konnotiert und eignen sich gut als Lackmustest für die Gendersensibilität von Psychotherapeut:innen. Die dritte Studie hat explizit Gendersensibilität in der Zielvereinbarung am Beginn des psychotherapeutischen Prozesses zum Thema (Groinig 2022).
Die Daten aller drei Studien bestehen aus Transkripten von leitfadengestützten, problemzentrierten Interviews. Dabei wurden in einem Fall (leibliche Berührung) ausgewiesene psychotherapeutische Expert:innen, bei den anderen beiden (Zielvereinbarung, Sexualität) ein Sample von Psychotherapeut:innen in der Praxis befragt. Bei zwei Datensätzen (Sexualität, Berührung) wurde von der Autorin (Brigitte Schigl) eine Sekundäranalyse der Interviewdaten mittels einer an Kellers (2008) wissenssoziologischer Analyse angelehnten kritisch-hermeneutischen Analyse durchgeführt. Dabei wurden für jedes Interview einzeln inhaltliche Kategorien durch offenes Kodieren erstellt und in einem zweiten Schritt verglichen, zusammengeführt und interpretiert. Die Daten der Studie zur Zielvereinbarung wurden mittels kritischer Diskursanalyse interpretiert.

Gendersensibilität beim Thema Sexualität in der Psychotherapie

Der erste Datensatz basiert auf den Leitfaden-Interviews mit acht Pychotherapeut:innen (unterschiedlicher Therapieverfahren). Die kritische Sichtung dieser Transkripte förderte folgende Ergebnisse in Bezug auf Gendersensibilität zutage (Schigl und Gilli 2020): Therapeut:innen thematisieren Sexualitäten v. a. im Kontext heterosexueller Paarbeziehungen. Sexualität und sexuelle Orientierung als Identitätsthema, als Lebens- und Erfahrungsmodus wird dabei in einer heterosexuellen Paar-Matrix konzipiert. Homosexualität taucht in den Interviews nur kurz, andere, queere Genderidentitäten nie auf. Hier blieben die Psychotherapeut:innen in einem heteronormativen Unconscious Bias verhaftet.
Die Dynamik entlang der Zusammensetzung in der therapeutischen Dyade wurde von keine:r/m der Interviewten aktiv angesprochen und erst auf Nachfragen eingeräumt, dass die eigene Geschlechtszugehörigkeit in Zusammenhang mit jener der Patient:in eine Rolle spielen könnte. Immer lag das Hauptaugenmerk auf der Genderzugehörigkeit der Patient:in, eigenes Doing Gender wurde in der Qualität des Sprechens über Sexualität nicht in den Blick genommen. So fanden es weibliche wie männliche Befragte leichter, mit weiblichen Patient:innen über Sexualität ins Gespräch zu kommen. Vor dem Hintergrund von Doing Gender ist dies jedoch völlig unterschiedlichen Dynamiken zuzuschreiben: In der homogen männlichen Dyade können Konkurrenzen hier eine Offenheit schwieriger machen, in der homogen weiblichen Dyade wird erfahrungsgemäß mehr Nähe und Vertrauen artikuliert (Schigl 2018).
Alle Befragten geben an, dass sie sich rückblickend in der Ausbildung mehr Anschauung und Üben im Ansprechen von Sexualität gewünscht hätten. Sie hätten ihre Praxis und Sicherheit dazu erst nach der Psychotherapieausbildung in späteren Fortbildungen erarbeiten müssen. Die Psychotherapie-Ausbildungsgruppen sparen dieses Thema (wie Gender generell) weitgehend aus.

Gendersensibilität in Bezug auf leibliche Berührung im Rahmen von Psychotherapie

Der zweite Datensatz ist analog dem obigen Vorgehen aus einer kritischen Analyse von fünf Expert:inneninterviews zur leiblichen Berührung hervorgegangen (Schigl et al. 2022). Alle Interviewpartner:innen erwähnen in verschiedenen Zusammenhängen Gender in Bezug auf Berührung in der Psychotherapie. So wird etwa darauf verwiesen, dass bei intensiver Berührung, wie etwa „Haltearbeit“ ein Kissen zwischen Therapeut:in und Patient:in platziert werden sollte, um die Intimität der körperlichen Nähe abzumildern. Berichtet wird von sexualisierten Atmosphären sowohl bei männlichen wie auch bei weiblichen Therapeut:innen. Interessant ist, dass dabei von jenen, die das ansprechen, dies immer im Zusammenhang mit der gender-heterogenen Dyade thematisiert wird. Es scheint, als ob für die Befragten sexualisierte Interpretationen allein im heterosexuellen Begehrensraum stattfänden. Auch die Warnung, dass bei eigener Bedürftigkeit der Therapeut:innen Berührungen im Rahmen der Therapie nicht durchgeführt werden sollten, wird nur auf den heterosexuellen Kontext bezogen. Explizit angesprochen wird das Thema von intendiert sexualisiertem und damit missbräuchlichem Einsatz von Berührung in der Psychotherapie nur einmal. Diversity Themen wie soziale Herkunft oder Alter finden sich auch nur bei einer (weiblichen) Interviewten.
Der Diskurs um Traumatisierung wird in Zusammenhang mit leiblicher Berührung von den Expert:innen oft thematisiert. Dabei wird v. a. auf die Gefahren von Berührung im Sinne einer Re-Traumatisierung durch Triggern alter Berührungserinnerungen aus „den Archiven des Leibes“ hingewiesen. Allerdings sprechen die Befragten nie über aktive sexuelle Übergriffe, wie sie auch in der Psychotherapie möglich und dokumentiert sind. Es wird nur eine Re-Traumatisierung, als biografisches Erinnern bei leiblicher Berührung in der Psychotherapie, nicht aber eine originale Traumatisierung durch die dortige leibliche Berührung in den Raum gestellt.
Generell wird das Thema Macht in der therapeutischen Beziehung, wie es sich im Feld von leiblicher Berührung besonders deutlich zeigt, nicht explizit gemacht und auch nicht mit Gender in Verbindung gebracht. Es wird zwar allgemein von einem „informed consent“ mit den Patient:innen gesprochen und die Wichtigkeit einer guten therapeutischen Beziehung hervorgehoben, diese aber nicht im Hinblick auf Doing Gender in der Berührung analysiert.

Gendersensibilität in der Zielvereinbarung

Die Transkripte von Interviews mit sieben Psychotherapeut:innen zur Zielvereinbarung anhand deren letzter Patient:innen-Aufnahmen in ihre Praxis wertete Groinig (2022) mittels kritischer Diskursanalyse aus.
Dabei stellte sich heraus, dass alle Psychotherapeut:innen erst auf Nachfrage Gender als Kategorie reflektieren. Themen der Patient:innen wie Mutter- bzw. Vaterschaft oder Probleme in Partnerschaften werden von den Befragten nicht als genderrelevant gelesen. In ihren diagnostischen Überlegungen geben die Psychotherapeut:innen der Beziehung zur Mutter vor dem Hintergrund traditioneller Kleinfamilien-Matrix größte Bedeutung und haben andere Sozialisationsinstanzen weniger im Blick.
Einige Interviewte verneinen auch auf Nachfragen einen Einfluss von Gender in der Interaktion mit Patient:innen und produzieren so Genderblindheit; einige sehen sehr wohl das Gender der Patient:innen bedeutsam, nehmen sich selbst als gendered individual in der Interaktion mit ihnen aber nicht in den Blick. Und wenn, dann wird dies wieder recht stereotypisierend z. B. mit Vermittlung einer „Frauensicht“ in Verbindung gebracht. Die Zuschreibungen von Psychotherapeut:innen zu Weiblichkeiten und Männlichkeiten entspringen offenbar einem differenztheoretischen, binären Denken. Die Befragten replizieren weitgehend Gender-Stereotypisierungen in Bezug auf ihre Patient:innen: Frauen werden mit Schwäche, Sanftheit und (Für)Sorge in Verbindung gebracht und eher passiv gesehen; Männer dagegen mit Durchsetzungsfähigkeit, auch Gewalt sowie Stärke und Aktivität konnotiert.
Bezüglich weiterer Diversity-Variablen und Intersektionalitäten reflektieren die interviewten Therapeut:innen migrantische Herkünfte ihrer Patientinnen v. a. bei Frauen als einschränkend – problematisierten aber etwa traditionelle österreichische bäuerliche Milieus in Bezug auf dortige Annahmen zu weiblichen Rollen nicht. Hier wird Gender selektiv wahrgenommen.

Daten zur Gendersensibilität von Studierenden der Systemischen Familientherapie in Österreich

Das Datenmaterial setzt sich aus insgesamt 61 Briefen systemischer Familientherapeut:innen in Ausbildung zusammen, welche an Patient:innen gerichtet sind, und zwar nach der Beobachtung von Sitzungen an der psychotherapeutischen Ambulanz der ÖAS. Als nachträgliche Reflexion von Therapeut:innen im Sinne der Eigenresonanz stellen diese Briefe eine narrative Intervention (Freedman und Combs 1996) dar, die hier statt der sonst üblichen Methode des Reflektierenden Teams (Andersen 1990) eingesetzt wird. Die Narrative der Studierenden sollen formal als selbstreflexive Resonanz verfasst sein und alternative Sichtweisen zum dargestellten Problem für die Patient:innen verdichten. Die Texte werden an die Patient:innen gemailt. 25 der Briefe richten sich an drei Einzelklientinnen, 13 an zwei heterosexuelle Familien und 23 Briefe an fünf heterosexuelle Paare.
Gendersensibilität im Sinne von Schigl (2018, S. 174) ist bei der Verfassung der Briefe keine explizite Vorgabe an die Studierenden. Fachspezifisch ist das Vermeiden von Stereotypisierungen und Vorurteilen allerdings eine systemische Grundregel (Andersen 1991). Wechsel der Perspektiven in der Identifikation mit allen problemerhaltenden Personen und Flexibilität im Umgang mit den Beteiligten wird von den Studierenden erwünscht. Sie müssen lernen, auch jene Patient:innen zu verstehen, die mit den eigenen Werten und Positionen im Leben wenig konform gehen. Die konstruktivistische Grundlagentheorie systemischer Therapie impliziert somit auch die Selbstreflexion der eigenen Genderposition als Lernprozess in der Ausbildung.
Die Briefe wurden von der Zweitautorin des Artikels mittels einer kritischen Analyse mit Fokus auf Genderinhalte (Fent 2022) dahingehend durchforstet, ob und wie Gendersensibilität bei den Studierenden als Tacit Knowledge (Polanyi 1985) sichtbar wird. In der folgenden Darstellung werden jene Aspekte herausgegriffen, welche genderbetreffende Aussagen enthalten. Gendersensible Resonanz wird jeweils auf das einzel-, paar- oder familientherapeutische Setting bezogen (Ahlers 1999).
In 14 von 25 Briefen an drei Einzelpatientinnen werden themenangepasst Genderperspektiven erwähnt: Die weiblichen Patientinnen sprechen in der Therapie über Kinderplanung, Karriere und Partnerschaft, was bei den durchgehend weiblichen Studierenden Texte zur weiblichen Autonomie und Unabhängigkeit in Resonanz bringt. Es fallen Metaphern wie „durch das Leben surfen“, aber auch Aussagen zu Lebensstilen wie z. B. die Bekräftigung, Lebensorte nach den eigenen Bedürfnissen zu bestimmen, ohne Rücksicht auf normative Beziehungsvorstellungen. Weibliche Unabhängigkeit dem (männlichen) Partner gegenüber steht im Zentrum. Es sind Texte, welche traditionelle Beziehungsvorstellungen hinterfragen und das Recht von Frauen betonen, ihr Leben frei zu gestalten und sich nicht abhängig zu machen. Die weiblichen Studierenden identifizieren sich offenbar stark mit den weiblichen Patientinnen und wollen sie auf keinen Fall patriarchalen Vorstellungen untergeordnet wissen.
Die 23 Briefe an heterosexuelle Paare enthalten acht gendersensible Aussagen, die sich auf diverse Problemfelder beziehen. Manche von ihnen lesen sich metaphorisch: Eine gleichwertige Partnerschaft „auf Augenhöhe“, wo man sich als „Sparringspartner:innen begegnet“; eine Frau, die statt „Treibholz zu sein, endlich die Welle selbst reitet“; die Suche nach der finanziellen Unabhängigkeit der migrierten Südamerikanerin, die ihr Studium in Österreich nicht nostrifizieren kann und nun, hoch qualifiziert, wenig Geld verdient; kulturelle Differenz im Zusammenhang mit der Erziehung von Töchtern; eine Frau, die „die Hosen anhat“, weil sie sexuell mehr vom Mann will als er von ihr bzw. der Mann, der „nur kuscheln“ möchte; der Wunsch der Ehefrau nach einer „offenen Beziehung“, die der Mann nicht akzeptiert; ein Hinterfragen der Rollenaufteilung im Paar mit der stillenden Mutter, die dem Mann „keinen Sex gibt“. Es sind Texte, die das „Ungewöhnliche“, das „aus der Reihe tanzen“ zu traditionellen Modi im Doing Gender herausstreichen. Sie sprechen sowohl den Frauen wie auch den Männern Mut zu, musterunterbrechende Positionen einzunehmen bzw. beizubehalten. Angelehnt an die Themen der therapeutischen Sitzungen werden bei diesen Texten alternative Handlungsweisen zu normativen Geschlechtervorstellungen in den Raum gestellt.
Anders ist es bei den 11 Briefen an zwei heterosexuelle Familien. In beiden Systemen zeigen sich im Thema der Sorge um erwachsene Kinder normative Rollenbilder: Die sorgenvollen Mütter, zwischen den Generationen vermittelnde Väter und Söhne wie Töchter, die sich gegen Bemutterung wehren: Heteronormativ werden Mütter und Väter, Söhne und Töchter genderstereotyp definiert, patriarchale Rollenzuschreibungen werden von den Studierenden in ihren Briefen nicht hinterfragt. Für die Studierenden, den erwachsenen Kindern im Alter näher als deren Eltern, ist eine gelingende Ablöse und Abgrenzung der Kinder und dessen Akzeptanz seitens der Eltern die einzig zulässige Vorstellung. Eine solche allerdings wäre in diversen kulturellen Kontexten mit anderen Wertehierarchien anfechtbar.
Das jeweilige Setting (Einzel/Paar/Familie) bzw. die damit angesprochenen Problemfelder und Adressat:innen der Briefe bedingen offenbar das Ausmaß an Gendersensibilität der Studierenden. Sie wird in den Briefen an heterosexuelle Familien wenig sichtbar, bei den Texten an die drei weiblichen Patient:innen hingegen wird die Identifikation der Studentinnen mit der Position einer autonomen Weiblichkeit in heterosexuellen Beziehungen evident. Am meisten genderbetreffende Aussagen enthalten die Briefe an Paare. In genderkritischer Analyse kann man sagen, dass das Paar im Patriarchat den Kampf der Geschlechter um mehr oder weniger normative Positionen quasi in sich trägt. Er ist des Paares Unconscious Bias, der Therapeut:innen die systemisch geforderte Haltung der Neutralität (Selvini-Palazzoli et al. 1981) abverlangt. Durch sie wird unter den Partner:innen und zur Therapeutin eine konstruktive Arbeitshaltung installiert. Technisch wird keiner/m der beiden Partner:innen ein Vorteil in der Beziehung zu Therapeut:innen eingeräumt. Teilweise durchbrechen Studierende diese Vorgabe, indem sie in den Briefen gendersensible, kritisch hinterfragende Kommentare zur Zweierbeziehung in den Raum stellen. Die Briefe wurden nebeneinander an „die Frau“ und „den Mann“ verschickt. Der Text wäre anders ausgefallen, wenn der Brief an „das Paar“ adressiert worden wäre. Dann hätten Studierende die Allparteilichkeit gegenüber beiden im Paar der gendersolidarischen Haltung vorziehen müssen. Es zeigt sich damit, wie sehr Genderkompetenz vom therapeutischen Setting und der eigenen Geschlechtszugehörigkeit abhängig ist.

Conclusio für Ausbildung und Praxis

Aus den Daten der ersten drei Studien lässt sich schlussfolgern, dass fertig ausgebildete Psychotherapeut:innen in ihrem Denken tendenziell einer traditionellen heterosexuellen Matrix verhaftet sind.
Doing Gender als Dynamik, die im Prozess zwischen Therapeut:in und Patient:in emergiert und Beziehung und Prozess prägt (Schigl 2018) wird von ihnen nicht proaktiv in den Blick genommen. Wenn sie (wie in einigen Studien in der Datenerhebung) darauf angesprochen werden, nehmen sie eher die Geschlechtszugehörigkeit der Patient:innen in den Blick, denn die gemeinsame Interaktion zu betrachten. Es gibt wenig Breite in der Reflexion nicht-traditioneller Lebens- und Beziehungsformen. Auch die Systemische Familientherapie unterliegt einem normativen „Familienmythos“, also der Prävalenz der unzerstörten Kernfamilie (Ahlers 2018) genauso wie der Vorstellung einer priorisierten Beziehungs- und Lebensweise, welche vorgibt, weniger defizitär zu sein. Obwohl Systemische Therapie verlangt als Psychotherapeut:in eine nicht normative Haltung einzunehmen, ist sie hier selbst normativ. Dieses Paradoxon wird von Studierenden und Lehrenden des systemischen Fachspezifikums nicht gesehen.
Studentinnen der systemischen Familientherapie scheinen Gender je nach ihrer Identifikation mit den Patient:innen als relevant zu erachten. In der weilblich-weiblichen Identifikation versuchen sie Handlungsweisen anzustoßen, die nicht den traditionellen Frauen- bzw. Familienbildern entsprechen. Damit kommen sie in eine paradoxe Situation: Sie sollen lernen, im Mehrpersonensystem „neutral“ oder „allparteilich“ zu bleiben. Gendersensibilität scheint durch die Vorgabe „geschlechtsneutral“ zu sein, konterkariert zu werden. Dieses mittlerweile überholte bzw. kritisierte Konzept aus der Pionierzeit der Familientherapie (Hare Mustin 1978; Kirschenhofer 2019) wird in der Ausbildung wenig in Frage gestellt, obwohl es einer systemischen sozialkonstruktivistischen Grundannahme (wie Doing Gender) widerspricht.
Insgesamt zeigt sich in allen Daten, dass Gendersensibilität im Sinne von Erkennen, welche Themen und Dynamiken im therapeutischen Prozess gender-konnotiert sind, sich selbst im eigenen Doing Gender in den Blick zu nehmen sowie bezüglich Gender eine breite Perspektive einzunehmen, bei österreichischen Psychotherapeut:innen sicher noch mehr gefördert und bekanntgemacht werden muss.
Bezüglich der Ausbildung zur/m Psychotherapeut:in brauchen wir Lehrende, die diese Perspektive mitbringen und vermitteln. Gender ist ein Querschnittsthema in der Psychotherapie und sollte prozessbegleitend immer wieder als Analysekategorie verwendet werden (Schigl 2021). Hilfreich könnte es etwa sein, theoriegeleitet und in Selbsterfahrung folgende Fragen zu bearbeiten:
  • Wie ist für mich Geschlecht definiert? Biologisch, sozial, als persönliche Geschlechtsidentität?
  • Was sind meine Vorannahmen zu verschiedenen Gender? Welche Bewertungen sind darin enthalten?
  • Wie sehe ich das Verhältnis der Geschlechter in verschiedenen sozialen Räumen? Wobei impliziere ich Handlungsbedarf, in welche Richtung?
  • Welche (Norm)vorstellungen in Bezug auf Sexualität/(Zusammen)Leben in romantischen Beziehungen und Partnerschaften habe ich?
  • Wie sehr fühle ich mich selbst als „Frau“/„Mann“/weitere Gender-Identität? Aufgrund welcher Phänomene?
  • In welchen Situationen handle ich in meinem Leben gemäß der binären Genderstereotypisierungen?
Gendersensible und genderkompetente Supervision kann für angehende wie graduierte Psychotherapeut:innen hier eine Hilfe sein. Sie kann Gender in den Blick nehmen, wenn es zu Verwerfungen im therapeutischen Prozess kommt. Denn oft stehen Gender troubles hinter festgefahrenen Themen oder Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehung. Eine gendersensible Analyse als eine Perspektive der Betrachtung in der Supervision und Intervision kann helfen, dann in der therapeutischen Situation wieder genderkompetent handeln zu können.

Interessenkonflikt

B. Schigl und C. Ahlers geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
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Metadaten
Titel
Genderkompetenz: Leer- oder Lehrstelle?
Gendersensibilität und Genderkompetenz von österreichischen Psychotherapeut:innen
verfasst von
Brigitte Schigl
Corina Ahlers
Publikationsdatum
12.06.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Psychotherapie Forum / Ausgabe 1-2/2023
Print ISSN: 0943-1950
Elektronische ISSN: 1613-7604
DOI
https://doi.org/10.1007/s00729-023-00226-y

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