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Ärzte Woche

19.04.2022 | Migrationsmedizin

Ukraine-Krieg: „Die Menschen sind einfach da“

verfasst von: Markus Stegmayr

Wiederholt sich die Flüchtlingskrise 2015? Es scheint nicht so. Im Umgang mit der Fluchtbewegung aus der Ukraine läuft manches anders: Die ukrainische Diaspora nimmt viele Menschen auf, was die staatlichen Stellen und privaten Hilfsorganisationen entlastet. Die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und der Zugang zum Arbeitsmarkt erfolge offener und unbürokratischer, meint der Innsbrucker Soziologe und Autor Erol Yildiz: „pragmatischer“.

„Historisch differenziert“ ist der Begriff, den Yildiz im Interview mehrmals und überaus gerne benutzt. „Viele sozialhistorische Studien zeigen, dass Fluchtbewegungen Normalität sind“, streicht er dazu ergänzend heraus. Man habe also bereits „in der Geschichte einiges an Migrationserfahrungen sammeln“ können, etwa in jüngster Vergangenheit durch die Fluchtbewegung 2015, ausgelöst durch den Krieg in Syrien.

Darauf, ob die politischen Verantwortungsträger aus früheren Fehlern und damaligen Versäumnissen gelernt hätten oder nicht, will sich Migrationsexperte Yildiz nicht festlegen, „augenscheinlich ist aber, dass gegenwärtig anders agiert wird, etwa bei der Residenzpflicht, die damals ja gegolten hat“. Es sei zweifelsfrei gut, dass die „Geflüchteten sich nunmehr frei bewegen können und zu ihren in Europa verstreuten Verwandten reisen und dort unterkommen können“, meint Yildiz. Dadurch lösten sich „viele Probleme schon im Vorfeld“, die ansonsten Staat oder Hilfsorganisationen lösen müssten.

Außerdem habe er den Eindruck, dass in Sachen Anerkennung von Bildungsabschlüssen aktuell deutlicher offener und unbürokratischer gehandelt werde und gesetzliche Spielräume deutlich besser genutzt würden. „Es ist meiner Meinung nach zweifelsfrei wichtig und richtig, dass die Menschen jetzt aktuell möglichst schnell in Arbeitsprozesse und in die Gesellschaft eingebunden werden“, ist Yildiz überzeugt.

Die Tatsache, dass im Moment Geflüchtete verstärkt in Wohnungen oder Klöstern und nicht vorrangig in Wohnheimen untergebracht würden, sei in diesem Kontext ebenfalls positiv zu bewerten. „Viele Konflikte entstehen meiner Überzeugung nach überhaupt erst, weil Menschen an den Rand der Gesellschaft und der Städte und Gemeinden gedrängt werden“, hält er fest.

Ein Problem sei dabei auch, dass Menschen dadurch klar „entwertet werden“, wenn sie weder eine Arbeit noch eine adäquate Wohnmöglichkeit haben, erklärt er. Dabei sollte es um eine Forcierung hin zur Selbstermächtigung gehen: „Wenn das gelingt, dann finden Menschen oft selbst Lösungen bei Problemen. Viele Maßnahmen von Staat und Gesellschaft sind dann hinfällig.“

Dass Integration ein komplexer Prozess ist laut Yildiz dennoch klar vorhersehbar. „Wichtige ökonomische Fragen gilt es rasch zu klären und dabei müssen weitere Ressourcen aktiviert und zum Teil überhaupt erst geschaffen werden“. Ansonsten entstünden, wie historisch schon öfter, abermals Feindbilder, und die Stimmung in der Öffentlichkeit könnte auch kippen.

Die historische Stunde erkennenund nicht hysterisch reagieren

Insgesamt plädiert Yildiz aber auch hier mit einer gehörigen Portion an historischem Wissen geschultem Pragmatismus, der sich gut gegen verhärtete Ideologien und ahistorische Hysterie bei Migrationsfragen in Stellung bringen lasse. Man wisse zwar aktuell natürlich noch nicht ganz genau, welche Veränderungen und Möglichkeiten die Migration aus der Ukraine mit sich bringen werde, könne aber anhand einiger geschichtlicher Beispiele darüber spekulieren und antizipieren.

Vor allem aber gehe es gegenwärtig und auch in näherer und ferner Zukunft darum, mit Migration verbunden „positive Geschichten und Ereignisse klarer oder überhaupt erst sichtbar zu machen“, erläutert Yildiz. Dazu hat er ein Beispiel aus seiner Zeit in Köln parat, wo er studierte und einige Jahre lang gelebt hat: „Dort haben italienische Eiskaffees dazu beigetragen, dass sich eine Open-Air-Kultur etabliert.“

Menschen mit Migrationshintergrund bevölkern die Städte

Dass das niemand mehr wirklich wisse und eben jene Open-Air-Kultur heute selbstverständlich zum urbanen Leben dazugehöre, ist für Yildiz eine Art Idealbild und OptimalZustand. Denn auch in Wien frage sich so gut wie niemand mehr, wie die Gesellschaft der Stadt sich zusammensetze. „Wenn alle Wiener mit Migrationshintergrund die Stadt verlassen müssten, dann wäre die Stadt tatsächlich so gut wie leer“, sagt der türkisch-stämmige Soziologe, dessen Mutter von der Krim kommt.

Urbane Gesellschaft und Kultur“ sei eine Zusammenstellung von unterschiedlichsten Kontexten, Einflüssen und Kulturen, sagt Yildiz. Kulturen seien zudem eigentlich schon immer per se „hybrid“, also in sich heterogen, grundsätzlich schon vermischt und letzten Endes auch ganz und gar nicht einheitlich.

Sind es also wohl auch diese Haltung und dieses Wissen, die einen gelassener und pragmatischer reagieren lassen und ein Denken in „Wir“ und „Die Anderen“ absurd und im Grunde hinfällig erscheinen lässt. „Problematisch sind dabei aber sicherlich Tendenzen zur Nationalisierung und zum Vereinheitlichen von Kultur und deren vermeintlichen Eigenheiten“, führt Yildiz dazu aus. Das führe letzten Endes immer zu „Ein- und Ausschlüssen“ und mache Migranten und Zugewanderte oft zu Außenseitern.

Warum sich nicht an den Niederländern ein Vorbild nehmen?

Statt starr auf das „Wir“ zu beharren, plädiert Yildiz abermals für Offenheit und Pragmatismus. Diesbezüglich könne man sich seiner Meinung nach bei den Niederländern mehr als ein paar Scheiben abschneiden. „In den 1980er-Jahren wurde dort, wie in Deutschland, über das Kommunal-Wahlrecht für Zugewanderte diskutiert“, sagt Yildiz. In Deutschland sei man dann schließlich übereingekommen, dass dieses verfassungswidrig und damit nicht umsetzbar sei, in den Niederlanden habe man aber einfach die Verfassung in diesem Punkt geändert, berichtet er.

Denn: „Diese Menschen sind einfach da, man muss etwas für sie und mit ihnen machen.“ Und diese Menschen würden auch, wie es etwa bei den Gastarbeitern in Österreich in den 1960er-Jahren der Fall gewesen ist, zum Teil nicht mehr weggehen, auch wenn sie politisch gar nicht erwünscht wären.

Wenn diese Menschen also „nun einmal da sind“, gelte es insgesamt und in jeglichen Kontexten und unabhängig von äußeren Ereignissen und Migrationsgründen, einen „lösungsorientierten Pragmatismus“ zu etablieren und zu leben, meint Yildiz.

Was kommt auf unszu und wie reagieren wir?

Der lösungsorientierte Handlungsansatz wird wohl bald noch wichtiger werden, steht für den Soziologen fest. Dann werde letztlich auch nicht so entscheidend, wie viele Leute sich aus dem Kriegsgebiet noch auf den Weg nach Österreich machen, um hier eine neue Heimat zu finden.

Die schiere Anzahl der Flüchtlinge war 2015 Thema: Es sei grundsätzlich natürlich denkbar, dass es auch 2022 „so viele sind, dass es schwierig wird, und eine Überforderung entsteht“, räumt Yildiz ein. Aber hier vertraue er darauf, dass die EU gegebenenfalls Lösungen findet. Und da ist er wieder: der positive Pragmatismus, der Zuwanderung als eine potenzielle Bereicherung sieht und dabei zugleich nicht naiv daran glaubt, dass sich alles „von selbst“ lösen werde.

Andererseits, glaubt der Wissenschaftler, müsse man viele positive gesellschaftliche Entwicklungen nur anstoßen und sich entwickeln lassen – abseits jeglicher Hysterie und von Untergangsszenarien.

Flüchtlingshelfer, die schon 2015 dabei waren und praktische Erfahrung in der Registrierung, Versorgung und Unterbringung der Migranten haben, nennen einen weiteren Unterschied zu damals: Die ukrainischen Flüchtlinge sind eine homogene Gruppe. Man spricht dieselbe Sprache, es gibt keine kulturellen Bruchlinien. 2015 kam es zu Spannungen, brachten die Migranten ihre religiösen Konflikte aus den Herkunftsländern in die Unterkünfte mit.

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Metadaten
Titel
Ukraine-Krieg: „Die Menschen sind einfach da“
Publikationsdatum
19.04.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 16/2022

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