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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 6/2019

Open Access 12.11.2019 | Epilepsien | Neurologie

Prächirurgische Epilepsiediagnostik – öfter ein Thema als viele denken

verfasst von: Dr. Gabriele Schwarz, Dr. Gertraud Puttinger, Prim. PD Dr. Tim J. von Oertzen, FRCP, FEAN

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 6/2019

Zusammenfassung

Epilepsiechirurgie ist eine hochwirksame Therapie mit kurativem Anspruch. Dies belegen inzwischen 3 Studien mit Klasse-1-Evidenz. Bei pharmakoresistenter fokaler Epilepsie mit einer Krankheitsdauer von fast 20 Jahren, mit kürzerer Krankheitsdauer von durchschnittlich 5 Jahren sowie bei Kindern wurde jeweils unabhängig voneinander gezeigt, dass Epilepsiechirurgie dem „best medical treatment“ hochsignifikant überlegen ist.
Mithilfe multimodaler Untersuchungsmethoden (z. B. Langzeit-Video-EEG, hochauflösendes cMRT nach Epilepsieprotokoll, FDG-PET, neuropsychologische Testung, fMRT, ev. iktale SPECT-Untersuchung und Verrechnung mittels SISCOM, Postprocessing des cMRTs, „electric source imaging“ [ESI], Magnetenzephalographie [MEG], invasive Abklärung mittels Stereo-EEG-Elektroden oder subduralen Elektroden und WADA-Test) ist es in der prächirurgischen Epilepsiediagnostik nun möglich, Patienten einen epilepsiechirurgischen Eingriff anzubieten, die früher als schlechte oder aussichtslose Kandidaten für eine Epilepsiechirurgie eingeschätzt wurden.
Hinweise
Literatur bei den Verfassern

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Fallbericht 1

Ein 56-jähriger Linkshänder stellt sich hierorts mit therapieresistenter fokaler Epilepsie rechts vor, Erstmanifestation 1976 im 17. Lebensjahr. Aurasymptome werden negiert. Der Patient hat täglich 2–3 hypermotorische Anfälle mit gelastischer Komponente aus dem Schlaf heraus. In der Video-EEG-Untersuchung sind keine Lateralisationszeichen zu objektivieren. Das iktale EEG zeigt kein lokalisierendes oder lateralisierendes Anfallsmuster. Im interiktalen EEG findet sich eine intermittierende bifrontotemporale Verlangsamung links akzentuiert, keine epilepsietypischen Veränderungen. In der hochauflösenden MRT nach Epilepsieprotokoll wird eine fokale kortikale Dysplasie (FCD) im vorderen Abschnitt des rechten Gyrus cinguli detektiert. Das iktale SPECT und SISCOM zeigen eine iktale Hyperperfusion rechts frontomesial passend zur Lokalisation der FCD (Abb. 1). In der neuropsychologischen Testung erreicht der Patient in Teilbereichen der exekutiven Funktionen (verbales divergentes Denken, sequenzielles visuelles Arbeitsgedächtnis) unterdurchschnittliche Ergebnisse.
Zusammenfassend sprechen die Befunde (Anfallssemiologie, fehlendes lokalisierendes oder lateralisierendes Anfallsmuster, fehlende interiktale epileptische Aktivität, kernspintomographisch nachgewiesene fokale kortikale Dysplasie im vorderen Abschnitt des Gyrus cinguli, hier auch im SISCOM eine iktale Hyperperfusion) für einen Anfallsursprung frontomesial rechts. Nach Frontallappenteilresektion rechts frontomesial ist der Patient anfallsfrei. Histologisch zeigt sich eine fokale kortikale Dysplasie Typ IIb.

Indikationen für prächirurgische Abklärung bei Epilepsiepatienten

Rund ein Drittel aller Menschen mit einer Epilepsie sprechen nur mangelhaft auf eine medikamentöse Therapie an. Die fehlende Anfallsfreiheit führt zu einer Reduktion der Lebensqualität bei Einschränkungen im Beruf und Alltagsleben. Sie führt zu einer erhöhten Rate an Depressionen und Angsterkrankungen und birgt die Gefahr von Verletzungen und SUDEP (plötzlich auftretender, ungeklärter Tod bei Epilepsie).
Für Menschen mit einer fokalen Epilepsie stellt die Epilepsiechirurgie eine hochwirksame Therapie mit kurativem Anspruch dar. Hierfür gibt es inzwischen 3 Studien mit Klasse-1-Evidenz. Bei therapieresistenter fokaler Epilepsie mit einer Krankheitsdauer von fast 20 Jahren, mit kürzerer Krankheitsdauer von durchschnittlich 5 Jahren sowie bei Kindern wurde jeweils unabhängig voneinander gezeigt, dass die Epilepsiechirurgie dem „best medical treatment“ hochsignifikant überlegen ist. Chirurgisch behandelte Patienten zeigten etwa 10- bis 12-mal häufiger eine Anfallsfreiheit als Menschen in der „Best-medical-treatment“-Gruppe. Ähnlich waren auch die Unterschiede in der Steigerung der Lebensqualität. Auch in vielen anderen Studien mit niedrigerer Evidenzklasse wurde gezeigt, dass Epilepsiechirurgie bei 60–70 % der Patienten zu einer langfristigen Anfallsfreiheit führt. Insofern hat Epilepsiechirurgie einen kurativen Anspruch.

Pharmakoresistenz

Voraussetzung für eine prächirurgische Abklärung ist das Vorliegen einer Pharmakoresistenz. Laut Definition der ILAE von 2010 liegt eine Pharmakoresistenz dann vor, wenn durch 2 gut vertragene Antikonvulsiva, die in ausreichender Dosierung und Dauer in Mono- oder Kombinationstherapie eingesetzt wurden, keine anhaltende Anfallsfreiheit erzielt werden kann. Anfallsfreiheit ist definiert als Freiheit von Anfällen über 12 Monate oder mindestens die 3‑fache Dauer des längsten Intervalls zwischen 2 Anfällen. Die Pharmakoresistenz sollte 2–5 Jahre nach Erkrankungsbeginn bewiesen sein.
Pharmakoresistenz sollte 2–5 Jahre nach Erkrankungsbeginn bewiesen sein
Die Austestung der Pharmakoresistenz sollte konsequent und zügig erfolgen, da die Chance auf eine postoperative Anfallsfreiheit bei langer Epilepsiedauer reduziert ist.

Prächirurgische Epilepsiediagnostik

Das Ziel der prächirurgischen Epilepsiediagnostik besteht darin, den Hirnbereich zu lokalisieren und seine Ausdehnung zu bestimmen, der für die Anfallsgenerierung verantwortlich ist und dessen vollständige Entfernung zu Anfallsfreiheit führt. Dies entspricht der epileptogenen Zone.
Die Abklärung erfolgt multimodal und stufenweise entsprechend der Komplexität des Falles (Abb. 2).
Im Rahmen der Basisabklärung werden mithilfe des Langzeit-Video-EEGs anhand von Anfallssemiologie, iktalen und interiktalen EEG-Veränderungen Rückschlüsse auf den Anfallsursprung gezogen und Mimics, wie psychogene Anfälle, ausgeschlossen. Ein hochauflösendes cMRT nach Epilepsieprotokoll liefert Hinweise auf eine epileptogene Läsion. Die neuropsychologische Testung bietet einerseits Anhaltspunkte für die Lokalisation und/oder Lateralisation der epileptogenen Zone, andererseits ist sie zur Abschätzung eines möglichen postoperativen kognitiven Defizits notwendig. Ergänzend wird häufig ein f‑MRT zur Lateralisation der Sprache eingesetzt.
Wenn die Basisuntersuchungen zeigen, dass die elektroklinischen Daten zu der im cMRT nachgewiesenen Läsion kongruent sind und das Nutzen-Risiko-Verhältnis akzeptabel ist, kann eine resektive Epilepsiechirurgie empfohlen werden.
Zeigen sich im cMRT keine oder mehrere Läsionen oder sind die elektroklinischen Daten und die Läsion nicht kongruent, können FGD-PET, iktales SPECT, Postprocessing des MRTs, „electrical source imaging“ oder MEG-Informationen über die Lokalisation der epileptogenen Zone liefern. Selten führen diese Hinweise und eine neuerliche Sichtung des cMRTs direkt zum Nachweis einer epileptogenen Läsion mit der Empfehlung für eine Operation. Die Wahl der entsprechenden Zusatzdiagnostik ist abhängig von der Fragestellung und den zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Häufig kann dadurch eine Hypothese hinsichtlich der Lokalisation der epileptogenen Zone aufgestellt werden, die es im Zuge einer invasiven Abklärung zu bestätigen gilt. Dazu werden entweder Tiefenelektroden (SEEG-Elektroden) stereotaktisch implantiert oder Streifen- und Plattenelektroden subdural eingebracht. Die Lokalisation und Eingrenzung der epileptogenen Zone erfolgt anhand der iktalen und interiktalen EEG-Veränderungen. Mittels Stimulation gelingt es, sowohl kortikale Funktionen und ihre räumliche Beziehung zur epileptogenen Läsion als auch das epileptogene Gewebe durch Auslösen von Anfällen zu bestimmen.

Fallbericht 2

Zugewiesen zur Abgrenzung fraglicher zusätzlicher psychogener Anfälle bei bekannter Epilepsie wird eine 27-jährige rechtshändige Patientin, die seit dem 2. Lebensjahr an Anfällen mit leichter Kopfdrehung nach rechts, Mundwinkelverziehung nach unten, diabolischem Blick und stöhnenden Lauten für 2–3 min mit anschließender sofortiger Reorientierung leidet.
Eine mildere Form dieser Anfälle ist im Vorfeld extern als psychogen interpretiert worden, da sie in Clustern alle 5 min bis zu 30 Mal am Tag aufgetreten sind. Zum Zeitpunkt der Abklärung hat die Patientin etwa 5–10 Anfälle pro Woche.
Medikamentöse Therapieresistenz ist gegeben. EEG und Teile der Anfallssemiologie lassen an einen frontalen Anfallsursprung denken. Ein hochauflösendes cMRT nach Epilepsie-Spezialprotokoll in Narkose durchgeführt, zeigt keine Auffälligkeit. Anhand der multimodalen Bildgebung kann eine Hypothese für eine Anfallsgenerierung am linken medianen Frontallappen erstellt werden, wo Hinweise für eine mögliche fokale kortikale Dysplasie im MRT im „second look“ zu objektivieren sind (Abb. 3). Nach stereotaktischer Implantation von Tiefenelektroden kann die epileptogene Zone bestätigt und ein epilepsiechirurgischer Eingriff durchgeführt werden. Die Histologie ergibt eine fokale kortikale Dysplasie Typ IIb. Die Patientin ist seit dem epilepsiechirurgischen Eingriff durchgehend anfallsfrei.

Klinisches Ergebnis

Bei Menschen mit pharmakoresistenter fokaler Epilepsie kann durch die Entfernung oder Diskonnektion umschriebener Hirnareale häufig Anfallsfreiheit erreicht oder zumindest einschränkende Anfälle gestoppt werden. Die Chance für eine Anfallsfreiheit nach einem epilepsiechirurgischen Eingriff liegt zwischen 50–80 % in unterschiedlichen Patientenkollektiven. Bei erst seit Kurzem bestehender Epilepsiedauer und nachgewiesener Pharmakoresistenz ist die Chance auf Anfallsfreiheit postoperativ höher. Retrospektive Daten mit geringen Fallzahlen zeigen auch bei Älteren über 60 Jahre und bei eingeschränktem IQ nach einer Temporallappenteilresektion ein vergleichbares postoperatives Ergebnis.
Erfolgreiche Epilepsiechirurgie steigert die Lebensqualität hochsignifikant, was sich u. a. durch das verminderte Risiko für Verletzungen oder SUDEP, die Möglichkeit, ein KFZ zu lenken, größere Unabhängigkeit und bessere Chancen am Arbeitsmarkt erklärt.

Fallbericht 3

Eine 69-jährige Frau, die seit dem 30. Lebensjahr unter einer fokalen Epilepsie leidet, hat sich durch Stürze im Rahmen von bilateral tonisch-klonischen Anfällen in den letzten 1,5 Jahren eine Rippen- und eine Radiusfraktur zugezogen. Zusätzlich bestehen eine Osteoporose und rezidivierende depressive Störung mit sozialem Rückzug.
Die Patientin beschreibt zu Anfallsbeginn einen „Stich“ im Kopf und Benommenheit. Die Tochter beobachtet einen starren Blick mit fehlender Reagibilität auf Ansprache für wenige Minuten Dauer mit einer unklaren Anfallsfrequenz. Des Weiteren sind in den letzten 6 Monaten 2 fokal zu bilateral tonisch-klonische Anfälle aufgetreten. Relevante Vorerkrankungen oder Fieberkrämpfe sind nicht eruierbar.
Nachdem eine Therapieresistenz vorliegt mit einer Einnahme von Phenytoin, Carbamazepin, Valproinsäure, Levetiracetam und Lacosamid in ausreichender Dosierung, erfolgt die Durchführung eines Video-EEG-Monitorings. Ein abgeleiteter fokaler Anfall mit eingeschränktem Bewusstsein und Automatismen ohne klinische Lateralisationshinweise und Anfallsmuster links temporal sowie interiktale epileptische Aktivität beidseits temporal linksbetont sprechen für einen Anfallsursprung links temporal. Dazu passend zeigt sich im cMRT nach Epilepsieprotokoll eine Hippokampussklerose links und im FDG-PET ein Hypometabolismus links temporal betont mesial (Abb. 4). In der neuropsychologischen Testung finden sich Beeinträchtigungen der Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung, der Gedächtnisleistungen und der exekutiven Funktionen. Bei einer Hirnsubstanzminderung sind weder anamnestisch noch in der neuropsychologischen Testung und im FDG-PET Hinweise für eine demenzielle Entwicklung nachweisbar.
Bei kongruenten Befunden wird eine selektive Amygdalohippokampektomie links angeboten und durchgeführt. Die Histologie ergibt eine Hippokampussklerose.
Postoperativ ist die Patientin nun seit über 2 Jahren zuletzt unter einer reduzierten Monotherapie anfallsfrei. Die postoperative 1‑Jahres-Kontrolle der neuropsychologischen Testung ergibt eine leichte Verbesserung der verbalen Gedächtnisleistung und exekutiver Funktionen.

Fazit für die Praxis

  • Pharmakoresistenz liegt dann vor, wenn durch 2 gut vertragene Antikonvulsiva, die in ausreichender Dosierung und Dauer in Mono- oder Kombinationstherapie eingesetzt wurden, keine anhaltende Anfallsfreiheit erzielt werden kann.
  • Pharmakoresistenz sollte 2–5 Jahre nach Erkrankungsbeginn bewiesen sein.
  • Bei vorliegender Pharmakoresistenz und fokaler Epilepsie sollte eine Überweisung an ein epilepsiechirurgisches Zentrum erfolgen.
  • Durch einen epilepsiechirurgischen Eingriff ist die Chance auf nachhaltige Anfallsfreiheit bei pharmakoresistenten Epilepsiepatienten um ein Vielfaches besser als durch Umstellung auf ein anderes Antikonvulsivum oder durch Add-on-Therapie eines anderen Antikonvulsivums.
  • Auch Ältere oder Menschen mit einem eingeschränkten IQ profitieren deutlich von einem epilepsiechirurgischen Eingriff.
  • Auch bei primär nicht läsionell oder multifokal imponierenden pharmakoresistenten Epilepsiepatienten ist eine prächirurgische Epilepsiediagnostik indiziert.

Danksagung

Wir bedanken uns bei Prim Dr. J. Trenkler (Institut für Neuroradiologie), Prim. PD Dr. Robert Pichler (Institut für Nuklearmedizin) und Prof. Dr. Andreas Gruber (Universitätsklinik für Neurochirurgie, alle Kepler Universitätsklinikum, Neuromed Campus) für die zur Verfügung gestellten Bilder und Durchführung der epilepsiechirurgischen Eingriffe.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

G. Schwarz, G. Puttinger und T.J. von Oertzen geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Prächirurgische Epilepsiediagnostik – öfter ein Thema als viele denken
verfasst von
Dr. Gabriele Schwarz
Dr. Gertraud Puttinger
Prim. PD Dr. Tim J. von Oertzen, FRCP, FEAN
Publikationsdatum
12.11.2019
Verlag
Springer Vienna
Schlagwort
Epilepsien
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 6/2019
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-019-00592-w

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