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Erschienen in: Urologie in der Praxis 2/2023

Open Access 19.06.2023 | Originalien

Die Beckenbodenschwäche der Frau – klinische Bilder und Therapie

verfasst von: Paul Adam, Fiona Burkhard, Prof. Dr. med. Annette Kuhn

Erschienen in: Urologie in der Praxis | Ausgabe 2/2023

Zusammenfassung

Frauen sind im Allgemeinen bis zu 4‑mal häufiger von Beckenbodendysfunktionen betroffen als Männer. Der Beckenboden ist während des Lebens der Frau grossen Belastungen wie Schwangerschaften, Geburten und hormonellen Veränderungen ausgesetzt und wird zusätzlich durch Adipositas, höheres Lebensalter und chronische Lungenerkrankungen beeinflusst. Das Diaphragma pelvis ist ein komplexes Konstrukt aus Muskeln und Bindegewebe, welches eine Vielzahl an Funktionen übernimmt: Haltefunktion der Becken- sowie Bauchorgane, Kontinenz sowie Sexualfunktion. Bei einer Beckenbodenschwäche können eine oder mehrere dieser Funktionen beeinträchtigt sein und zu dem klinischen Bild einer Urininkontinenz, Stuhlinkontinenz und/oder Descensus genitalis führen.
Eine umfassende Anamnese mit Gewichtung der Symptome sowie eine detaillierte klinische Untersuchung sind wegweisend für die weitere Therapie. An erster Linie stehen meist Lebensstiländerungen und Beckenbodentraining. Bevor eine operative Therapie anvisiert wird, gibt es eine Vielfalt an medikamentösen Therapien zur Verbesserung der Beschwerden und Steigerung der meist initial deutlich eingeschränkten Lebensqualität. Verschiedenartige operative Massnahmen (vaginal, laparoskopisch, offen) stehen im Anschluss an die konservative Therapie zur Verfügung und zeigen meist auch bei minimal-invasiven Operationen eine deutliche Besserung der Beschwerden.
Ziel dieses Artikels ist, eine Übersicht über die klinischen Bilder, Diagnostik und anschliessende Therapie zu vermitteln.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Frauen leiden aufgrund der anatomischen Verhältnisse und anlagebedingter Unterschiede des Beckenbodens 4‑mal häufiger unter Beckenbodenproblemen als Männer.
Risikofaktoren für eine Beckenbodeninsuffizienz bilden Schwangerschaft und Geburt, Adipositas, Menopause, höheres Alter, obstruktive Lungenerkrankungen und Nikotinabusus sowie genetische Faktoren in bis zu 40 % [1].
Nicht nur die Geburten selber, sondern auch bereits die Schwangerschaften bilden einen Risikofaktor für Beckenbodenerkrankungen, und eine primäre Sectio hat nur einen bedingt protektiven Wert für den Beckenboden. Die grösste Veränderung am Beckenboden passiert während der ersten Vaginalgeburt.
Dabei zeigen Studiendaten, dass trotz Risikofaktoren (Multiparität, begleitende Komorbiditäten, hohe Gestationsgewichte) und Entwicklung einer manifesten Belastungsinkontinenz, welche meist unmittelbar vor der Geburt bis zu 12 Monate nach der Entbindung auftritt, diese mit konservativen Massnahmen nach 12 Monaten regredient ist [2]. Für eine individuelle Beratung hinsichtlich des Geburtsmodus steht der UR-CHOICE-Rechner zur Verfügung, mit dem man anhand des maternen Alters, des errechneten Kindsgewichts, der maternen Familienanamnese und Vorgeschichte das Risiko für einen Beckenbodenschaden bei Vaginalgeburt oder bei Sectio errechnen kann (https://​www.​riskcalc.​org.​URCHOICE).
Beckenbodenerkrankungen können sich vielfältig präsentieren und die Lebensqualität, Sexualfunktion und Psyche erheblich beeinträchtigen. Der folgende Artikel gibt einen kurzen Überblick über klinische Bilder und Therapien.

Anatomie

Der weibliche Beckenboden formt mit seinen Muskeln und dazugehörigem Bandapparat den Abschluss des knöchernen Beckens. Mit einer der wichtigsten Muskeln ist der Levator ani mit seinen Anteilen des M. puborectalis, M. pubococcygeus und M. iliococcygeus [3].
Der M. puborectalis entspringt beidseitig der Symphyse und legt eine Schlinge um das Rektum, was zu einer Krümmung zwischen Analkanal und Rektum führt. Der M. pubococcygeus als medianster Anteil schafft die Öffnung für Urethra, Vagina und Anus. Zusammen mit dem M. iliococcygeus übernimmt dieser Anteil die Hebung und Unterstützung der Beckenorgane. Der anteriore Anteil an superfiziellen Muskeln beinhaltet den M. bulbospongiosus und ischiocavernosus. Der posteriore Anteil wird durch den M. sphincter ani externus gebildet.
Die Bindegewebsunterstützung des Beckenbodens und der Vagina wird nach DeLancey [32] in 3 Ebenen unterteilt (Abb. 1). Ebene I beschreibt den apikalen Anteil, welcher aus den sakrouterinen und kardinalen Bändern gebildet wird. Im mittleren vaginalen Drittel bzw. Ebene II wird der Bandhalteapparat aus dem Arcus tendineus, der pubozervikalen Faszie, dem Septum rectovaginale und Anteilen des M. levator ani gebildet. Ebene III bilden die Mm. levator ani, transversus perinei superficialis und deren angrenzende Faszien.
Die Blutversorgung erreicht den Beckenboden v. a. über die parietalen Äste der A. iliaca interna. Die neurologische Versorgung übernimmt der Plexus sacralis aus den Rückenmarksegmenten S2–S4.
Die wichtigsten Funktionen beinhalten die Stützung der Beckenorgane (Rektum und Anus, Uterus und Vagina, Blase und Urethra), die Kontinenz und sexuelle Funktion.

Urininkontinenz

Die Urininkontinenz ist ein weit verbreitetes Krankheitsbild der Frau, von dem grosse Anteile der weiblichen Gesamtbevölkerung betroffen sind. Die Prävalenz hängt von der betrachteten Altersgruppe, Adipositas und Häufigkeit der Inkontinenzepisoden ab, Metaanalysen zeigten eine Häufigkeit von bis zu 48,3 % auf [4]. Der unfreiwillige Urinverlust jeglicher Art äussert sich in unterschiedlichster Form und hat meist weitreichende Auswirkungen auf die Lebensqualität der betroffenen Frau. Generell unterschieden werden die beiden Hauptformen von Belastungsinkontinenz und überaktiver Blase mit begleitendender Inkontinenz (OAB [wet]; „overactive bladder“).
Spricht die Patientin von ungewolltem Urinverlust, welcher v. a. bei körperlicher Betätigung und in Alltagssituationen wie Niesen, Husten, Lachen oder bei minimster Erhöhung des Abdominaldrucks auftritt, handelt es sich um eine Belastungsinkontinenz (BI).
Diese Form geht meist mit einer transienten oder permanenten Beckenbodendysfunktion sowie Schwächung oder Schädigung des Bandhaltapparates der Blase bzw. der Urethra einher.
Für die primäre Standortbestimmung ist eine ausführliche Anamnese entscheidend, um die auslösenden Faktoren, den Schweregrad der Inkontinenz und sowie zusätzliche Miktions- oder Defäkationsprobleme zu erfragen sowie Art und Anzahl der Inkontinenzeinlagen. Ein idealerweise für mindestens 3 Tage ausgefülltes Miktionstagebuch gibt Aufschluss über Frequenz und Grad der Inkontinenz.
Als initiale klinische Untersuchung sind eine abdominale Palpation zum Ausschluss von grösseren Raumforderungen, Restharnbestimmung sowie ein Urinstatus zu erheben. Die weitere urogynäkologische Untersuchung bezieht das äussere Genitale, eine vaginale und rektale Beurteilung mit ein. Der Hustentest, welcher den Urinaustritt bei voller Blase unter Belastung miteinbezieht, ist hierbei ein essenzieller Bestandteil. Weiterführende Diagnostik beinhaltet die Beurteilung der Blasen- sowie Harnröhrenfunktion mittels Palpation, Sonographie und Urodynamik. Dabei behauptete sich die perineale Sonographie gegenüber konventionell radiologischen oder Magnetresonanzmethoden bezüglich Reaktionszeit und Auflösung und liefert wichtige diagnostische Parameter über die Funktion des Beckenbodens [5].
Therapeutisch sind in erster Linie nichtoperative Behandlungsmöglichkeiten zur Reduktion der behandelbaren Kofaktoren wie Adipositas und urogenitaler Atrophie zu adressieren. In zahlreichen Studien ist die Wirksamkeit des gezielten physiotherapeutisch unterstützten Beckenbodentrainings, welches mindestens 3 Monate durchgeführt werden sollte, beschrieben [6].
Bringen diese Massnahmen sowie Pessare keinen ausreichenden Effekt und besteht weiterhin eine bestätigte BI, stehen verschiedene operative Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung. Zur Stabilisation des Blasenhalses können retropubische oder transobturatorische suburethrale Schlingen eingelegt werden. Diese zeigen eine objektive Kontinenzrate von bis zu 69 % [7]. Zudem stehen „bulking agents“ zur Verfügung, welche zystoskopisch eingebracht werden und zu einer Aufpolsterung der Urethra im kontinenten Drittel führen. Aktuelle Studien ergaben, dass die initiale subjektive und objektive Zufriedenheit der Patientin mit einer Schlingeneinlage höher sind [8]. Zudem könnte die Bulkamid®-Injektion eine vielversprechende Behandlungsmethode für Rezidive einer Inkontinenz darstellen und hat eine deutlich geringere perioperative Morbidität [9]. Bei hypermobiler Urethra mit sonographisch grosser Trichterbildung und ggf. Lateraldefekt kann eine laparoskopische Kolposuspension den Blasenhals stabilisieren. Kommen weitere Pathologien wie Senkungen/Prolaps der Blase, des inneren Genitals oder Rektums hinzu, sind weiterführende Operationen in Erwägung zu ziehen, wie in den einzelnen Abschnitten später detailliert aufgeführt. Nebenwirkungen aller Inkontinenzeingriffe können eine obstruktive Miktion mit und ohne Restharnbildung, Harnverhalt und eine de novo überaktive Blase sein.

Überaktive Blase

Die International Continence Society (ICS) und International Urogynecological Association (IUGA) definierten die überaktive Blase bzw. „overactive bladder“ (OAB) als Harndrang, der in der Regel begleitet wird von hoher Urinfrequenz und Nykturie, mit oder ohne Inkontinenz, ohne dass eine Harnwegsinfektion oder eine andere offensichtliche Pathologie vorliegt [10].
Dabei wird eine „OAB-wet“ (mit Inkontinenz) von einer „OAB-dry“ (ohne Inkontinenz) unterschieden. Die Prävalenz wird in der Literatur mit 11,8 % angegeben, wobei Frauen wie Männer gleich häufig betroffen sind [11].
Da die OAB einen Symptomenkomplex mit heterogenen Ursachen darstellt, haben sich bis jetzt keine evidenzbasierten Diagnosekriterien etabliert. Eine grundlegende Voraussetzung stellen die genaue Anamneseerhebung, meist erweitert mittels eines Miktionstagebuchs, eine klinische Untersuchung und ein Urinstatus sowie Restharnbestimmung dar. Eine initiale Untersuchung mittels Zystoskopie und urodynamischer Untersuchung ist nicht empfohlen.
Die Therapie erfolgt stufenweise. Dabei werden initial Verhaltensänderungen (z. B. Blasentraining, Blasenkontrollstrategien, Beckenbodentraining und Anpassung der Flüssigkeitsaufnahme) angestrebt.
Dies kann auf Stufe 2 mit einer medikamentösen Therapie erweitert werden. Dabei stehen Antimuskarinika oder β3-Adrenorezeptor-Agonisten (Mirabegron) zur Verfügung. Erstere binden an die muskarinischen Rezeptoren der Detrusorzellen und hemmen so unkoordinierte, spontane Detrusoraktivitäten. Die Erhöhung des Miktionsvolumens, die Abnahme der Miktionen sowie des imperativen Harndrangs werden beobachtet [12]. Die Patientin muss über die möglichen Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit und milde kognitive Funktionseinschränkung aufgeklärt werden. Jedoch ist insbesondere die Kombination von Solifenacin und Mirabegron eine Möglichkeit, um höhere Kontinenzraten zu erhalten und die Dosis individueller aufzutitrieren [13]. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Erhöhung der Dosierung der Antimuskarinika.
Steht die idiopathische Nykturie, eine Unterform der OAB, im Vordergrund, steht Desmopressin in Kombination mit einer abendlichen Flüssigkeitsrestriktion zur Verfügung. Weitere invasivere Massnahmen sind die perkutane bzw. transkutane posteriore tibiale Nervenstimulation (P- bzw. T‑TPNS) sowie die sakrale Neuromodulation (SNM) bei der konservativ sowie medikamentös refraktären OAB.
Operativ bewährte sich die zystoskopische Applikation von Onabotulinumtoxin A in den Detrusor oder suburothelial. Dies führt zu einer signifikanten Reduktion der Inkontinenzepisoden, Blasenkapazität und Verbesserung der Lebensqualität [14].
Es gibt bei Therapieversagen weitere operative Verfahren, die selten zur Anwendung kommen, dazu gehören der Blasenhalsverschluss mit kontinenter Vesikostomie, die Blasenaugmentation sowie Harnableitungen wie Ileumconduit, das kontinente katheterisierbare Reservoir oder Harnleiter-Darm-Implantationen.

Stuhlinkontinenz

Die Stuhlinkontinenz (SI) ist ein weit verbreitetes und aufgrund der Stigmatisierung deutlich unterschätztes Krankheitsbild. Durchschnittlich geht man von einer Prävalenz von 7,7 % aus, wobei Frauen sowie Männer zu gleichen Anteilen betroffen sind [15]. Als zugrunde liegende Definition werden hier die ROME-IV-Kriterien benutzt. Meist wird zur klinischen Einteilung die Klassifikation nach Parks [16] verwendet, welche die SI in 3 Grade aufteilt: unfreiwilliger Verlust von Winden (Grad I), dünnflüssigem Stuhl (Grad II) bzw. geformtem Stuhl (Grad III).
Meist stellen sich betroffene Patientinnen mit assoziierten Symptomen wie z. B. Unterbauchschmerzen vor, ohne die zugrunde liegende SI direkt zu thematisieren. Es liegt in der Verantwortung der behandelnden Ärzt:in, dies in einem respektvollen Umgang zu eruieren [17]. Risikofaktoren wie Alter, Stuhldrang, begleitende Urininkontinenz, Diabetes mellitus, Hormontherapie [18] und Diarrhö sollten erfragt werden. Die körperliche Untersuchung kann Zeichen für eine chemische Dermatitis (chronische Inkontinenz), Fistulierung, Rektalprolaps oder prolabierende Hämorrhoiden aufdecken. Die digital-rektale Untersuchung mit Auslösung des Analreflexes gibt Aufschluss über die Innervation, die Kontraktilität des Beckenbodens sowie den Ausschluss von einer chronischen Obstipation sowie grösseren Raumforderungen. Bei chronischer Diarrhö sollte zudem der Ausschluss einer zugrunde liegenden Infektion durch eine Stuhlkultur erfolgen.
Die Erstlinientherapie einer SI beinhaltet zunächst Lebensstiländerungen wie die Reduktion von koffeinhaltigen Getränken, Gewicht und eine ausgewogene Ernährung. Allerdings gibt es dafür keine klare Evidenz. Primäres Ziel der Behandlung sollten die Reduktion der Stuhlfrequenz sowie Anpassung und Verbesserung der Stuhlkonsistenz sein.
Gesicherte medikamentöse Therapien beinhalten bei dem Verlust von weichem ungeformtem Stuhl Darmmotilitätshemmer wie Loperamid. Als Stuhlregulation werden ausserdem als Erstlinientherapie Quellstoffe wie z. B. indische Flohsamen eingesetzt [19]. Dies kann und sollte mit physiotherapeutischem Beckenbodentraining unterstützt werden. Falls diese meist supportiven Behandlungen nicht zur gewünschten Reduktion der Inkontinenz führen, ist eine weiterführende Diagnostik mittels Bildgebung sowie Funktionstests indiziert, v. a. als präoperative Standortbestimmung [20].
Dabei gibt die hochauflösende anorektale Manometrie Aufschluss über die Funktion des Musculus sphincter ani internus/externus und über die rektale Sensibilität sowie Koordination. Für komplexe Beckenbodendysfunktion steht die Elektromyographie zur Verfügung, welche effektiv die pudendale Versorgung beurteilt. Strukturell kann die anorektale Region mittels endoanaler Sonographie beurteilt werden. Dabei kann es nützlich sein, die Untersuchung um eine transperineale und transvaginale Beurteilung zu erweitern. Bei komplexen Beckenbodendysfunktionen ist zum besseren Verständnis der betroffenen Weichteilstrukturen eine MRT-Defäkographie möglich. Die erhobenen Befunde sind für die weitere Therapie wegweisend.
Nichtchirurgische Verfahren beinhalten die perkutane posteriore tibiale Nervenstimulation. Neuere Metaanalysen zeigten jedoch keine gesicherte Verbesserung der SI bei alleiniger Therapiemethode [21].
Chirurgisch etablierte sich die sakrale Neuromodulation als mögliches Behandlungsverfahren. Dabei werden die sakralen Nerven S2–S4 kontinuierlich durch dort eingebrachte Elektroden stimuliert. Nach einer initialen Testphase wird anschliessend ein permanentes System subkutan gluteal implantiert. In einem therapierefraktärem Patientenkollektiv sowie nach tiefer Rektumresektion konnte eine deutliche Besserung der SI und damit Lebensqualität erreicht werden [22, 23]. Studien zeigten, dass injizierte „bulking agents“ aus z. B. silikonbasierten Materialien kaum einen positiven Effekt auf die SI haben und deshalb nicht verwendet werden sollten. Bessere Ergebnisse werden mit einer sekundären Sphinkterplastik erreicht, wobei hierbei langfristig die Erfolgsaussichten nur bei 50 % liegen. Bei persistierendem hohem Leidensdruck und therapierefraktärer SI ist eine Kolostomie zu diskutieren.

Senkungen und Prolaps

Ein Descensus genitalis bezeichnet den Zustand, wenn die Organe des kleinen Beckens, sprich die Blase (Zystozele), Vagina oder Uterus sowie Rektum/Dick- bzw. Dünndarm (Rektozele/Enterozele) tiefertreten. Ein Prolaps ist im deutschsprachigen Raum der über den Introitus hinausgehende Deszensus.
Die prinzipielle Unterscheidung zwischen symptomatischem und asymptomatischem Descensus genitalis/Prolaps ist für die Therapie entscheidend, da nur symptomatische Patientinnen behandelt werden sollten. Zur genauen Prävalenz des symptomatischen Descensus genitalis gibt es mehrere Studien, welche Anteile zwischen 2,9 und 6 % angaben [24].
Risikofaktoren sind identisch mit denjenigen für die Urininkontinenz.
Die Einteilung nach ICS/IUGA erfolgt in 4 Stadien. Bei Stadium I ist der tiefste Punkt des Deszensus > 1 cm proximal des Hymenalsaums, bei Stadium II ± 1 cm entfernt vom Hymenalsaum, bei Stadium III über 1 cm distal, und Stadium IV bezeichnet den Totalprolaps [25].
Die Anamnese sollte die vorangegangenen Pathologien miteinschliessen, da ein Deszensus häufig zu Blasen- oder Darmentleerungsstörungen führt. Hinzu kommen Fremdkörpergefühl, Blutungen sowie Dyspareunien. Mit Hilfe validierter Fragebögen können das Ausmass, der Einfluss auf die Lebensqualität sowie das Therapieansprechen quantifiziert werden. Dazu eignet sich beispielweise der validierte deutsche Beckenbodenfragebogen [26].
In der klinischen Untersuchung sind eine genaue Beschreibung und Lokalisation des Defekts wichtig. Dabei ist auf eine Untersuchung mit geteiltem Spekulum (Sims-Spekulum) zu achten, und die „pelvic organ prolapse quantitation“ (POP‑Q Score) ist zu erheben. Die perineale sowie transvaginale Sonographie kann je nach Fragestellung und bei komplexeren Krankheitsbildern mittels MRT erweitert werden. Bei divergierender Anamnese und klinischem Befund kann eine Untersuchung im Stehen aufschlussreich sein (Abb. 2, 3 und 4).
Nichtoperative Verfahren beinhalten die Beckenbodenphysiotherapie, die lokale Östrogenisierung sowie eine Pessartherapie. Dabei ist die lokale Östrogenisierung wichtig, um irritative Symptome und Trockenheitsgefühl bei vaginaler Atrophie zu vermindern und somit Nebenwirkungen einer Pessartherapie wie Nekrosen, Ulzera und Blutung zu vermeiden [27].
Eine Pessartherapie wird v. a. bei zusätzlichen Komorbiditäten, nicht abgeschlossener Familienplanung und Wunsch der Patientin eingesetzt. Ungeklärt ist weiterhin, welches Pessar am besten geeignet ist. Durchgesetzt haben sich Ring‑, Würfel- und Schalenpessare, die von Fachpersonen angepasst werden.
Operativ werden verschiedene vaginale und abdominale (vaginale, offene und laparoskopische) Verfahren eingesetzt. Dabei wird primär der zugrunde liegende Defekt behandelt. Im Falle des vorderen Kompartiments steht die Kolporrhaphia anterior meist kombiniert mit einer apikalen Fixation nach Amreich-Richter zur Verfügung. Bei zusätzlichen Levator-ani-Defekten (Avulsion) kann eine synthetische Netzeinlage das Rezidivrisiko signifikant senken.
Bei apikalem Vaginalprolaps gibt es die Möglichkeit, bei Wunsch nach Uteruserhalt den Uterus und die Vagina mittels Netzeinlage an das Promontorium zu fixieren, im Sinne einer Sakrohysteropexie. Nicht uteruserhaltend steht die suprazervikale Hysterektomie mit anschliessender Sakrozervikokolpopexie zur Verfügung. Nach totaler Hysterektomie wird eine Sakrokolpopexie mit anschliessender Aufhängung der Apex vaginae mittels Netz am Promontorium durchgeführt. Studien zeigten eine erhöhte Rezidivrate bei uteruserhaltender Therapie [28, 31].
Bei Rektozelen/Enterozelen setzte sich die vaginale posteriore Kolporrhaphie ohne Netzeinlage mit guten anatomischen Verhältnissen und lang anhaltendem Effekt durch [28].
Dabei ist vor einer operativen Sanierung die Aufklärung über die lavierte Inkontinenz essenziell. Die larvierte Inkontinenz tritt nach Reposition von Zystozelen auf und beruht auf einer Sphinkterinsuffizienz, die mit vorhandener Zele maskiert ist.

Störung der Sexualfunktion

Das klinische Bild einer Störung der Sexualfunktion präsentiert sich in unterschiedlichster Form. Dabei ist es wichtig, verschiedene Aspekte offen und respektvoll, vorzugsweise in Anwesenheit des Partners, anzusprechen, um Art und Auswirkung auf das Sexualleben zu erörtern. Dabei etablierten sich in der klinischen Praxis validierte Fragebögen wie der PISQ‑R. Epidemiologische Studien zeigten, dass die Prävalenz diagnostizierbarer Sexualstörungen bei 8–12 % liegt [29].
Urininkontinenz und Senkungen können die Lebensqualität und Sexualfunktion beeinflussen, Studienergebnisse hinsichtlich der Sexualfunktion sind sehr heterogen.
Mögliche Symptome beinhalten Dyspareunie (oberflächlich, tief, Vaginismus), vaginale Atrophie und begleitende Trockenheit, koitale BI oder SI oder erschwerte Penetration bei Descensus genitalis [30]. Dies kann zu einer Abstinenz führen. Studien zu den weitreichenden Einschränkungen konzentrieren sich meist auf anatomische Ursachen und beziehen funktionale Resultate oft nicht mit ein. Rekonstruktive Operationen bei Descensus genitalis zeigten einen positiven Effekt auf die Dyspareunie [31].
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Fazit für die Praxis

Initiale Beratung und Therapie bei unkomplizierter Inkontinenz:
  • Lebensstiländerung: Gewichtsreduktion, Nikotinstopp, Trink- bzw. Ernährungsanpassung
  • Physiotherapeutisch unterstütztes Beckenbodentraining
  • Medikamentöse Intervention bei OAB: Muskarinrezeptorantagonisten, Beta-3-Angonisten, Desmopressin bei idiopathischer Nykturie
  • Konservative Option bei Descensus genitalis: lokale Östrogenisierung, Pessare, Physiotherapie, sonst Operationen
Indikation für die Überweisung an einen Spezialisten:
  • Inkontinenz mit abdominalen oder Beckenschmerzen oder Hämaturie ohne Infekt
  • Verdacht auf vesikovaginale/rektovaginale Fistel, Prolaps
  • Neu aufgetretene neurologische Symptome zusätzlich zur Urin- oder Stuhlinkontinenz
  • Rezidivierende Harnwegsinfekte

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

P. Adam, F. Burkhard und A. Kuhn geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Pelvic floor dysfunction: prevention and non-surgical management, (2019) NICE guideline. Burkhard FC, Bosch JLHR, Cruz F et al (2020) EAU Guidelines on Urinary Incontinence in Adults Pelvic floor dysfunction: prevention and non-surgical management, (2019) NICE guideline. Burkhard FC, Bosch JLHR, Cruz F et al (2020) EAU Guidelines on Urinary Incontinence in Adults
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Zurück zum Zitat Kennelly MM, Dmochowski RR, Schulte-Baukloh HH et al (2017) Efficacy and safety of onabotulinumtoxin A therapy are sustained over 4 years of treatment in patients with neurogenic detrusor overactivity: Final results of a long-term extension study neurogenic detrusor overactivity. Neurourol Urodyn 36(2):368–375. https://doi.org/10.1002/nau.22934CrossRefPubMed Kennelly MM, Dmochowski RR, Schulte-Baukloh HH et al (2017) Efficacy and safety of onabotulinumtoxin A therapy are sustained over 4 years of treatment in patients with neurogenic detrusor overactivity: Final results of a long-term extension study neurogenic detrusor overactivity. Neurourol Urodyn 36(2):368–375. https://​doi.​org/​10.​1002/​nau.​22934CrossRefPubMed
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Metadaten
Titel
Die Beckenbodenschwäche der Frau – klinische Bilder und Therapie
verfasst von
Paul Adam
Fiona Burkhard
Prof. Dr. med. Annette Kuhn
Publikationsdatum
19.06.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Urologie in der Praxis / Ausgabe 2/2023
Print ISSN: 2661-8737
Elektronische ISSN: 2661-8745
DOI
https://doi.org/10.1007/s41973-023-00219-z

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