Skip to main content
Erschienen in: Psychotherapie Forum 1-2/2022

Open Access 02.05.2022 | Originalarbeit

Vulnerabilität und affektives Leiden

Philosophische Beiträge zu einem Verständnis von Verletzbarkeit und Gefühlen

verfasst von: Florian Schmidsberger

Erschienen in: Psychotherapie Forum | Ausgabe 1-2/2022

Zusammenfassung

Die folgende Auseinandersetzung mit der Erfahrung schmerzhafter Gefühle und einer differenzierten menschlichen Verletzbarkeit nimmt Bezug auf mehrere philosophische Gegenwartdiskurse (Emotionstheorie, Vulnerabilitätstheorie, Phänomenologische Psychopathologie). Im Vordergrund stehen folgende Leitfragen: Wie ist Verletzbarkeit zu verstehen? In welchem Verhältnis stehen Gefühle und Verletzbarkeit? Anliegen des Beitrages ist es, vermittels einer philosophischen Begriffsarbeit eine differenzierte Beschreibungssprache und eine konzeptuelle Ordnung für die Psychotherapieforschung und die praktische psychotherapeutische Arbeit anzubieten. Die wichtigsten Bezugsautor_innen sind Bernhard Waldenfels, Thomas Fuchs sowie Judith Butler.
Die philosophische Erkundung wird vordergründig ein Verständnis von Vulnerabilität entfalten sowie die Struktur schmerzhafter Gefühle umreißen. Was die Verletzbarkeit anbelangt, so sei diese im phänomenologischen Erfahrungsbegriff von Waldenfels verortet. Mit Bezügen zu Butler seien die vielfältigen Register umrissen, in denen wir als Menschen verletzbar sind. Eine Einteilung von Verletzungen in responsive und irresponsive Verletzungen wird Auskunft über den Schweregrad von Verletzungen geben. Geht es um Gefühle, so sollen die folgenden Aspekte erörtert werden: Die leibliche Dimension, in der unser Leib als Medium unserer affektiven Erfahrung fungiert sowie die kognitive Seite unter dem Vorzeichen der „Sinnbildung“.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Rahmen und Ansatz der Untersuchung

Im Vordergrund des Artikels steht die Erfahrung, dass Gefühle wie Trauer, Sehnsucht, Scham, Schuld, Eifersucht, Neid schmerzvoll sind und sich als Ausdruck einer Verletzung, Verletztheit oder Verletzbarkeit erweisen können. Die Annäherung an diese Thematik erfolgt entlang einer philosophischen Perspektive und nimmt darin auf mehrere Gegenwartsdiskurse Bezug: Erstens den Diskurs der Emotionstheorie, zweitens den Diskurs einer Phänomenologischen Psychopathologie, der sich den Erfahrungen psychischer Erkrankungen und Beeinträchtigungen des menschlichen Weltbezugs widmet. Sowie drittens den Diskurs der Vulnerabilitätstheorie, der im Dienste ethischer Reflexion steht und beansprucht, die Grundlagen der Ethik entlang von Angewiesenheit und Bedürftigkeit neu zu konzipieren. Auch wenn diese Diskurse zahlreiche Aspekte von Gefühlen und psychopathologischen Phänomenen oder ethische Aspekten von Verletzbarkeit thematisieren, wird der eigentümliche Zug, dass Gefühle schmerzvoll und Ausdruck einer Verletzung sein können, kaum ausdrücklich zum Thema gemacht. Diese Forschungslücke stand im Vordergrund meiner Dissertation, die ich Ende 2021 an der Universität Wien im Studienfach Philosophie eingereicht habe und welche die Grundlage für diesen Beitrag bildet.
Anliegen dieser Untersuchung ist es, den genannten Zug des Schmerzvollen und des Verletzenden im Lichte gegenwärtiger philosophischer Emotions- und Subjekttheorie differenziert zu beschreiben. Mit diesem Beitrag möchte ich einige Kernthesen meiner Dissertation (Schmidsberger 2022) vorstellen und hiermit Impulse für die psychotherapeutische Theoriebildung, gegenwärtige Psychotherapieforschung und die konkrete praktische Arbeit beitragen. Das Hauptaugenmerk sei auf ein Verständnis von Verletzbarkeit gerichtet, die Weise, wie sich diese in der Affektivität niederschlägt, sei in Grundzügen umrissen.
Der vordergründig philosophische Zugang mag für Leser_innen, die eher mit empirischen Arbeiten sowie psychologischer wie medizinischer Forschungsrationalität vertraut sind, womöglich ungewohnt anmuten. Im Zeichen einer „Muliperspektivität“, die sich für eine Vielzahl alternierender Zugänge offenhält, möchte ich die philosophische Perspektive als eine ergänzende (und kontingente) Beschreibungsweise neben anderen wissenschaftlichen Beschreibungssprachen positionieren. Sowohl Psychotherapieforschung, als auch die praktische psychotherapeutische Arbeit können von Impulsen philosophischer Bewusstseinstheorie, Leibtheorie oder Sozialer Ontologie profitieren. Der eigentümliche Beitrag liegt dabei in der Theoriebildungskompetenz der Philosophie, einen begrifflichen bzw. konzeptuellen Rahmen für empirische Forschung und zur Einordnung empirischer Ergebnisse vorzulegen, epistemische Ansprüche und Grenzen zu klären und die Wahrnehmung im praktischen Arbeiten zu differenzieren.
Der Fokus auf Verletzungen und Verletzbarkeit, die in Gefühlen zum Ausdruck kommt, brachte es mit sich, den thematisierten Erfahrungsausschnitt eigens als „affektive Vulnerabilität“ oder als „affektives Leiden“ zu benennen. Die zentralen Bezugsautor_innen hierbei sind Bernhard Waldenfels, Thomas Fuchs und Judith Butler. Die Annäherung an diese Erfahrung erfolgte entlang von zwei wichtigen Bezugspunkten: Erstens entlang der pathisch-responsiven Phänomenologie von Waldenfels, die Verletzung und Verletzbarkeit im Gefüge des Doppelereignisses aus Widerfahrnis und Antwort verortet. Zweitens entlang einer empirischen Grundierung: Als Ergänzung der philosophischen Begriffsarbeit absolvierte ich parallel zu meinem Doktorat in Wien eine Ausbildung zum Psychotherapeuten, um im Rahmen der Ausbildung bzw. einer „teilnehmenden Beobachtung“ nahe an den Phänomenkreis affektiven Leidens heranzukommen. Ein solches Philosophieren versteht sich als erfahrungsgeleitetes. Die folgende Erkundung beleuchtet verschiedene Aspekte der Erfahrung affektiven Leidens: Ein explizites Verständnis von Vulnerabilität, die Rolle der Leiblichkeit in der Leidenserfahrung, sowie die kognitive Seite mit dem Motiv der Sinnbildung.

Die vulnerable Seite der Erfahrung

Der konzeptuelle Ansatz: Erfahrung als Doppelereignis von Widerfahrnis und Antwort

Als das Leitmotiv der Beschäftigung mit Verletzbarkeit und Verletzung fungierte der Erfahrungsbegriff von Waldenfels, der Erfahrung als Doppelereignis aus Pathos und Response, Widerfahrnis und Antwort versteht, das sich wesenhaft leiblich vollzieht. In der Erfahrung sowie in Gefühlen werden wir vorgängig von etwas getroffen, auf das wir nachträglich antworten. Während ich lese, klopft es an der Türe (ein Widerfahrnis, das mir zuvorkommt), ich merke auf (als Antwort auf das Widerfahrnis). Das Trauern beispielsweise ist eine Antwort auf einen widerfahrenen Verlust, Wut etwa eine Antwort auf eine widerfahrene Verletzung eigener Werte. Widerfahrnis und Antwort sind eins, miteinander verschränkt: „Das, wovon wir uns affiziert fühlen, ist nirgends fassbar als in den Antworten, die es hervorruft“ (Waldenfels 2015, S. 121). Was uns widerfährt, kommt erst im Antworten zum Ausdruck, erst aus ihm heraus wird verständlich, was uns widerfahren ist.
Gefühle in diesem Sinne als Doppelereignis aufzufassen, akzentuiert das Ereignishafte an Gefühlen und rückt dieses in den Vordergrund, worin die Emotionstheorie von Waldenfels einen anderen Akzent betont als die üblichen Ansätze in der philosophischen Emotionstheorie, die beispielweise den propositionalen oder evaluativen Gehalt von Gefühlen fokussieren (etwa in der Furcht: „Die Prüfungssituation ist bedrohlich“). Erfahrung dergestalt zu verstehen, charakterisiert diese als „janusköpfig“: zur affektiven Erfahrung gehört sowohl die passive Seite des Widerfahrnisses, als auch die aktive Seite der Antwort. In Gefühlen überkommt uns etwas (Passivität), in unserem Antworten gestalten wir die Erfahrung mit (Aktivität, Emotionsregulation). Diese Janusköpfigkeit vermeidet eine Engführung sowie eine Überbetonung eines der genannten Charaktere.
Das Doppelereignis aus Widerfahrnis und Antwort hat zudem eine subjektkonstituierende Seite, indem sich ein Subjekt durch sein Antworten herausbildet. Die Form der Subjektivität eines Subjekts liegt nach Waldenfels in den Antworten, die es auf Widerfahrnisse gibt – sei es habituell, kreativ oder limitiert. Das Widerfahrnis wiederum ist „die Stärke und Schwäche der Erfahrung“ (Waldenfels 2019, S. 290). Die „starke“ Seite liegt darin, dass ein Widerfahrnis Ordnungen stören und zu kreativen Antworten anregen kann, die etwas Neues und Neuartiges hervorbringen. Die „schwache“ Seite des Widerfahrnisses liegt wiederum in der Verletzung, die eine aktuelle oder habituelle Beeinträchtigung mit sich bringt, die Möglichkeiten einschränkt oder sogar ein prinzipielles Antwortvermögen verringert.
Verletzbarkeit und Bezogen-Sein auf Welt und Andere sind bei Waldenfels zwei Kehrseiten: „Die leibliche Verankerung in einer physischen und sozialen Welt ist es, die unsere Verletzlichkeit ausmacht, und diese nimmt zu, je mehr wir uns auf etwas einlassen“ (Waldenfels 2013, S. 123). Verletzbarkeit und Lebendigkeit stammen entsprechend aus derselben Quelle. Für ihn ergibt sich daraus die folgende Konsequenz: „[W]enn die eminente Verletzlichkeit unseres Daseins die Kehrseite unserer Empfänglichkeit ist – dann hat die schlichte Verneinung oder Herabsetzung des Leidens eine ebenso schlichte Verneinung und Herabsetzung des Lebens zur Folge“ (Waldenfels 2013, S. 129). Verletzbarkeit ist entsprechend weder Mangel, noch Defizit oder Unzulänglichkeit, sondern „Kehrseite“ oder „siamesischer Zwilling“ unseres Bezogen-Seins und unseres Sich-Einlassens.

Die „schwache Seite“ der Erfahrung

Um Verletzbarkeit und Verletzungen zu verstehen, gilt es mit Waldenfels die „schwache“ Seite des Widerfahrnisses in den Blick zu nehmen. Das Verständnis von Widerfahrnis, Verletzung und Verletzbarkeit möchte ich ausdrücklich als spektral charakterisieren. Sie verlaufen entlang eines Spektrums mit verschiedenen Schattierungen und graduellen Limitierungen. Bei Waldenfels umfasst das Widerfahrnis ein Spektrum, das bei einem neutralen Zustoßen beginnt (wie das unerwartete Klopfen an der Türe), und sich mit einem „Zug ins Widrige“ (Waldenfels 2002, S. 61) steigert über die Störung und Verletzung bis hin zur pathologischen Traumatisierung. Ein Verständnis von Verletzung und Verletzbarkeit ist entsprechend spektral und verläuft graduell entlang zahlreicher Steigerungsstufen – in Richtung „Irresponsivität“ (Waldenfels 2015, S. 19). Diese sei verstanden als das Unvermögen, „adäquat auf die Anforderungen der Lebensumwelt zu antworten“ (Waldenfels 2015, S. 150), seien es die „Anforderungen der Umwelt“ oder die „Ansprüch[e] aus der Mitwelt“ (ebd.). Verletzung entfaltet sich als Beeinträchtigung unseres Antwortens und unseres Antworten-Könnens.
Mein Anliegen ist es, mit diesem Motiv von Waldenfels nicht nur verschiedene Formen von Verletzungen beschreiben zu können, sondern auch ein Ordnungsschema für eine Vielfalt von Verletzungen anzubieten. In diesem Sinne möchte ich zwischen responsiven und irresponsiven Verletzungen unterscheiden. Bei Ersteren bleibt ein Vermögen zur Antwort intakt, bei Letzteren kommt es graduell zu einer „Schwächung oder einem Schwund der Responsivität“ (Waldenfels 2015, S. 151). Zur weiteren Differenzierung möchte ich Zeitspannen miteinbeziehen und zwischen kurzfristigen und längerfristigen Beeinträchtigungen unterscheiden.
Eine kurzfristige responsive Verletzung ist etwa das Schamerleben eines Schülers nach einer unbedachten Bemerkung im Klassenzimmer, die das Gelächter der Mitschüler_innen und der Lehrerin auf sich zieht: Sie engt die Sinnbildung des betroffenen Schülers ein und versteift sie vorübergehend, allerdings ohne sein Vermögen zur Antwort dauerhaft zu limitieren. Ein länger anhaltendes responsives Leiden findet sich etwa bei einer erwachsenen Frau, die um ihre Schwester und deren Mann trauert, die vor dem Hintergrund ihrer politischen Flucht aus ihrer Heimat im Iran im Exil jahrelang auf die Abwicklung eines Asylverfahrens warten und denen dabei versagt bleibt, ihr eigenes Leben aufzubauen. Eine anhaltende irresponsive Verletzung findet sich etwa bei einer erwachsenen Frau, Anfang 20, mit rezidivierenden Depressionen, die mit ihrem sexuell übergriffigen Vater im selben Haushalt wohnt, und im Zuge ihrer psychischen Erkrankung längerfristig außer Stande ist, eine finanzielle Unabhängigkeit aufzubauen. Die Depression schränkt ihr Handlungsvermögen und ihre Handlungsmacht ein. Das Beispiel einer jahrelang anhaltenden Trauer um den frühen Verlust eines Elternteils und die anhaltende Inanspruchnahme durch dieses Widerfahrnis veranschaulicht eine wichtige Problematik des spektralen Verständnisses von Vulnerabilität. Durch eine Konzeption mit graduellen Übergängen gibt es keine trennscharfe Grenze zwischen responsiven und irresponsiven Verletzungen. Das genannte Beispiel kann als eine Mischform verstanden werden, die sowohl responsive, als auch irresponsive Züge in sich trägt. Der Zug, dass sich Widerfahrnisse wiederkehrend aufdrängen und zwischen Widerfahrnis und Antwort eine Asymmetrie in der Verfügungsmacht besteht, hat irresponsive Anteile. Ein affektives Antworten durch Gefühle der Trauer, der Wut oder der Sehnsucht wiederum zeugen von einem Antworten-Können, also von einem responsiven Charakter.
Die Differenzierung von Verletzungen danach, ob sie ein Antwortvermögen intakt lassen oder limitieren, eignet sich als Differenzkriterium, um den Schweregrad von Verletzungen zu bestimmen. Zudem findet sich in diesem Spektrum der Übergang von Verletzungen, die sich noch in Affekten ausdrücken, hin zu Verletzungen und einer Verletztheit, die sich nicht mehr in Gefühlen ausdrückt, indem etwa in der Depression oder in der Schizophrenie das affektive Leben zum Erliegen kommt.

Die „starke Seite“ der Erfahrung

Wie angeführt, ist das Widerfahrnis „die Stärke und Schwäche der Erfahrung“ (Waldenfels 2019, S. 290). Wurde mit den bisherigen Ausführungen mehr die schwache Seite der Erfahrung erkundet, sei damit fortgesetzt, als Kontrast dazu ihre starke Seite zu erörtern. Diese bildet die Gegenfigur zur Verletzung und Beeinträchtigung. So können Widerfahrnisse nicht nur als Störungen und Widrigkeiten erfahren werden, die verletzen, sondern darin auch Anlass geben zu kreativen Antworten, die bisherigen habituellen Routinen durchbrechen und Neues ereignishaft hervorbringen. Als Veranschaulichung möchte ich eine 60-jährige Frau mit dependenten Verhaltensroutinen anführen, die sich mit psychotherapeutischer Unterstützung dazu durchrang, sich aus einer 20-jährigen Beziehung mit zahlreichen Abwertungen, wie den regelmäßigen Besuchen des Partners im Bordell, zu emanzipieren. War die Klientin es gewohnt, sich zur Besänftigung der Kränkungen in einen übermäßigen Alkoholkonsum zu flüchten, vereinfachte ihr eine Umdeutung ihres Verhaltens eine Trennung. Diese Umdeutung lag darin, dass die Klientin ihre Trennung nicht abwertend als „egoistisch“, sondern in einem positiven Sinne als „Selbstfürsorge“ betrachtete. Mit der Trennung begann sie, in konkretem Verhalten eine für sie neue Lebensweise zu erkunden und in größerem Ausmaß als zuvor selbstbestimmt zu leben. Im Zuge dessen verringerten sich auch die Alkoholexzesse deutlich.
Kreative Antworten einer „starken“ Erfahrung, die entlang von störenden und widrigen Widerfahrnissen Neues hervorbringen, lassen sich verstehen als eine Transformation des Subjekts, als eine Ausweitung des Antwortspektrums sowie eine Stärkung des Antwortvermögens, das imstande ist, Asymmetrien von Widerfahrnis und Antwort zu nivellieren. Dies wäre die abstrakte Gegenfigur der Überwindung von Verletzungen und Beeinträchtigungen. Ihre Leitbilder sind mit Butler die Fortdauer und das Gedeihen des Lebens („persistence and flourishing“ (Butler 2009, S. 2)), sowie im Anschluss an Waldenfels eine Offenheit für kontingente Mehrdeutigkeit und Pluralität von Sinnbildungen, sowohl in der Wahrnehmung als auch im Verhalten (vgl. Waldenfels 2002, 30 ff., 315 ff.).

Ermöglichungsbedingungen des Lebens und Angewiesenheit auf Andere

Ein solches Verständnis von Vulnerabilität entlang von Grundmotiven der Phänomenologie von Waldenfels sei ergänzt und erweitert um ein solches, wie es im ethisch-politischen Vulnerabilitätsdiskurs rund um Beiträge von Butler ausgearbeitet wurde (Butler 2009; Mackenzie et al. 2014; Boublil 2018; Huth 2016; Huth und Thonhauser 2020). Verletzbarkeit verweist hier auf vielfältige Ermöglichungsbedingungen eines Lebens, das im Zeichen einer Entwicklung, eines Fortbestehens und eines Gedeihens steht. Diese Konzeption formiert sich um eine Akzentuierung der Sozialität und eine vielgliedrige Bedürftigkeit, die eine Angewiesenheit auf Andere für ein erblühendes und lebenswertes Leben formuliert. Sie argumentiert gegen eine individualistische Denkweise und einen Begriff von Subjektivität, der von fertigen, unabhängigen, rationalen und unverwundbaren Einzelnen ausgeht, die miteinander kooperieren und sich vergesellschaften. Jener Ansatz einer sozialen Ontologie setzt den Akzent stattdessen auf die Sozialität und Relationalität von Subjekten, in der sich ein Selbst innerhalb von intersubjektiven Relationen entfaltet und gedeiht. Verletzbarkeit und Angewiesenheit werden hier mit einer Einbettung in einen kollektiven und institutionellen Rahmen konzipiert. Boublil beschreibt dies als parallele Entwicklung des Selbst im Rahmen intersubjektiver Relationen (Boublil 2018, S. 187) bzw. als eine Korrelation zwischen interpersonalen Beziehungen und dem Erblühen eines leiblichen Selbst (ebd., S. 186). Ausgesetzt-Sein an Andere, Verflochtenheit und Interdependenzen mit Anderen und für Andere erweisen sich konstitutiv für die Genese eines Selbst. Etwa indem wir in unseren Bedürfnissen auf Andere bezogen sind, im Wunsch nach Nähe, danach, verstanden und anerkannt zu werden, im Austausch von Wahrnehmungen, gemeinsamen Aktivitäten und vielem mehr.
Was mit „vielfältige Ermöglichungsbedingungen des Lebens“ gemeint ist, veranschaulicht eine Aufzählung von Butler: Schutz, Arbeit, Ernährung, medizinische Versorgung, Rechtschutz, Ausbildung, Mobilität, Schutz vor Versehrung und Unterdrückung (Butler 2009, S. 13; 22). Solche Ermöglichungsbedingungen zeigen sich als sozial vermittelt, als institutionalisiert mit einer materiellen und perzeptiven Schlagseite. Zu ihnen gehören gleichermaßen materielle Aspekte wie Nahrungsmittel, Wasser, Wohnmöglichkeiten, Infrastruktur, Gebäude, in denen die Versorgung der Bedürftigkeit menschlichen Lebens organisiert wird, oder medizinische Versorgung (materielle Seite); ebenso wie kollektive Praxen der Anerkennung, die von normativen Diskursen konstituiert werden, oder soziale Wahrnehmungsgewohnheiten (perzeptive Seite).
Ein zentraler Baustein eines solchen Verständnisses von Vulnerabilität stellt eine Anerkennungstheorie dar (Pistrol 2016). Zu kollektiven Praxen der Anerkennung gehört die Wahrnehmung von Bedürftigkeit, eine institutionalisierte Versorgung, Zuschreibungen von Wert, die Leben als schützenswert und betrauerbar ansehen, ebenso wie der Ein- und Ausschluss von Menschen und Bevölkerungsgruppen. Ihre Anerkennungstheorie fußt auf der Erfahrung, dass Anerkennungsverhältnisse nicht gleichmäßig verteilt sind und manche Gruppen mehr berücksichtigt, während manche wiederum weniger inkludiert sind. Menschen und Gruppen, an denen sich versagte Anerkennungsverhältnisse zeigen, sind etwa Minderheiten, Flüchtlinge, Migrant_innen, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen, Kinder, Alte oder Angehörige bestimmter Staaten oder geografischer Regionen. „Vulnerabilität“ bedeutet mit Butler dementsprechend, die menschliche leibliche Existenz als prinzipiell gefährdet und als bedürftig und auf Andere angewiesen aufzufassen. Die Grunddifferenz bei Butler zwischen Gefährdung (precariousness) und Prekarität (precarity) unterscheidet zwei Hinsichten unserer Verletzbarkeit: Während Erstere unsere allgemeine Grundverfasstheit akzentuiert, betont Letzteres konkrete, historische, kollektive und kontingente politische Rahmenbedingungen für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen.
Akzentuiert Verletzbarkeit im alltäglichen Verständnis häufig körperliche Läsionen, so zeigt sich mit Butler, dass Vulnerabilität ein ganzes Bouquet zahlreicher Register unserer Verletzbarkeit entfaltet. In diesem Sinne sei ein Ordnungsschema angeboten, das umreißt, in welchen verschiedenen Hinsichten wir als Menschen vulnerabel sind: Dazu gehören unsere Körperlichkeit und unsere physische Integrität, unsere Sozialität und Bezogenheit (konkrete Bindungen, Beziehungen des näheren Umfelds, weiter gefasste Gemeinschaften, Kollektive, ethnische, nationale und supranationale Bevölkerungsgruppen), unsere materielle und finanzielle Existenz, Werterleben und dessen kollektive Anerkennung, Sphären des Rechtlichen, ebenso unsere naturhafte Umwelt, die uns ein Überleben als biologisches und materielles Lebewesen überhaupt erst ermöglicht. Auch in diesen Vulnerabilitäts-Registern lassen sich responsive und irresponsive Verletzungen unterscheiden, abhängig davon, ob ein Antwortvermögen intakt bleibt oder limitiert wird. Eine irresponsive Verletzung wäre etwa, wenn Menschen einer ethnischen Minderheit öffentlich abgewertet und ihnen ebenso Partizipationsrechte (etwa aktives oder passives Wahlrecht) abgesprochen werden. Dann haben Angehörige jener Bevölkerungsgruppen eingeschränkte legistische Möglichkeiten, sich an politischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen und gegen öffentliche Abwertungen vorzugehen.

Die affektive Seite der Leidenserfahrung

Wenn sich Verletzungen entlang der genannten Register in Gefühlen artikulieren und affektiv er- und durchlebt werden, sei von „affektiven Verletzungen“ gesprochen, etwa in der Angst, der Sehnsucht, der Scham, der Trauer oder dem Ärger. Welche Rolle spielen Gefühle in all dem und wie ist die affektive Erfahrung strukturiert?
Gefühle erfüllen in einer solchen Erfahrung verschiedene Funktionen: Sie bieten uns eine Orientierung dafür, was für uns von Bedeutung und von Wert ist, motivieren uns zu Handlungen, dienen dem Ausdruck unseres Erlebens und darin der Verständigung (Fuchs und Koch 2014, S. 4). Im Politischen dienen sie der Mobilisierung, dem Widerstand und der Sozialkritik (Butler 2009, S. 34), hier formieren sie sich um Anerkennungspraxen, um Inklusion und Exklusion und gelten nach Butler den genannten Ermöglichungsbedingungen eines wertvollen und lebenswerten Lebens. An der Unterscheidung von responsiven und irresponsiven Verletzungen fand sich ebenso der Übergang, wo Verletzungen das affektive Leben überschreiten, etwa in mittelgradigen oder schweren Depressionen. Im Folgenden seien zwei Dimensionen der affektiven Erfahrung umrissen, nämlich eine leibliche sowie eine kognitive bzw. sinnbildende Seite. An ihnen sei die Erfahrung affektiven Leidens weiter differenziert.

Die Rolle des Leibes: Medium unseres affektiven Lebens

Die Beschreibung der leiblichen Seite der Erfahrung affektiven Leidens fußt auf Grundmotiven einer phänomenologischen Leibtheorie. Dazu gehört etwa die Grunddifferenz von Leib und Körper. Während der „Leib“ die subjekthafte Seite betont, etwa das propriozeptive Eigenerleben, akzentuiert der „Körper“ die objekthafte Seite wie etwa innermedizinische Beschreibungen. Damit einher geht die Unterscheidung zwischen der Medialität und Materialität des Leibes. Während die Medialität den Zug benennt, dass wir mit und durch den Leib auf Welt bezogen sind, verweist die Materialität auf einen Körper, der einen Raum einnimmt, Gewicht, Ausdehnung hat und subliminal, also jenseits der Wahrnehmungsschwelle, einen Stoffwechsel zu seinem Erhalt durchläuft.
In der Beschreibung des Charakters affektiver Leidenserfahrung liegt der Fokus auf der Medialität des Leibes. Diese sei verstanden als: mit dem Leib und durch den Leib erfahren wir Gefühle. Der Leib erhält entsprechend auch die Bestimmung als „Medium unserer affektiven Betroffenheit von einer Situation“ (Fuchs und Koch 2014, S. 16) und als Medium des affektiven Leidens: Mit dem Leib durchleben wir schmerzvolle Gefühle wie Angst, Scham, Trauer, Zorn oder Anderes: „Being afraid, for instance, is not possible without feeling a bodily tension or trembling, a beating of the heart or a shortness of breath, and a tendency to withdraw. It is through these sensations that we are anxiously directed toward a frightening situation“ (ebd., S. 3). Durch leibliche Empfindungen oder leiblich spürbare Handlungsimpulse zeigt sich auch an, dass Intentionalität, also unser Gerichtet-Sein, sowie Phänomenalität, also die propriozeptiv spürbare Qualität unseres Erlebens, miteinander verflochten sind. Unseren Leib als Medium der affektiven Erfahrung und des affektiven Leidens aufzufassen, konzipiert diesen entsprechend als ein leibliches Gerichtet-Sein (Ratcliffe 2005, S. 51; Fuchs und Koch 2014, S. 15; Gallagher und Zahavi 2012, S. 137; Helm 2009). Intentionalität als prinzipiell leiblich zu denken, hat auch zur Konsequenz, vor dem Hintergrund des Disputs von Emotions- und Feelings-Theorien, die Differenzierung zwischen Emotionen (mit dem Fokus auf die Intentionalität) und Gefühlen (mit dem Fokus auf die leibliche Phänomenalität) als obsolet anzusehen und beide Begriffe synonym zu verwenden.
Das phänomenologische Leib-Verständnis versetzt ebenso in die Lage, den Unterschied zwischen einem körperlichen Schmerz und leiblich-affektivem Leiden zu charakterisieren. Dies möchte ich anhand eigener persönlichen Schmerzerfahrungen veranschaulichen, als vor mehreren Jahren die Trauer um den Tod meiner Verlobten flankiert wurde von den Schmerzen eines absterbenden Zahnnervs. Die Zahnschmerzen rückten meine leibliche „Verankerung in einer Welt“ (Waldenfels 1980, S. 39) in den Fokus, sie ereigneten sich als „Rückbeorderung“ aus dem Vertieft-Sein in die Belange meines Alltags und zentrierten mein Erleben auf meinen faktischen Körper als Verankerung meines Erfahrens. Der Körper schob sich in den Vordergrund und drückte alle Beschäftigungen mit der Welt an den Rand des bewussten Erlebens bzw. in dessen Hintergrund. Der Schmerz engte meine Welt ein, limitierte den Horizont meiner Möglichkeiten, eine Beschäftigung mit diagnostischen Erwägungen, Zeitplanungen oder alltägliche Erledigungen waren kaum noch möglich. Erst die Wurzelbehandlung beim Zahnarzt hob sowohl den Schmerz als auch diese Zentrierung und Einengung der Erfahrung auf. Dies schaffte nachfolgend eine Offenheit für die Trauer um meine Verlobte rund um den 6. Monatstag ihres Versterbens. Meinen Leib ereilte damit ein anderer Schmerz, nämlich jener der Trauer über ihren Tod. Vollzog sich beim Zahnschmerz eine Zentrierung meines Leibes, ereignete sich das Aufkommen des Trauerschmerzes als Dezentrierung, der Leib wurde medial transparent (Gallagher und Zahavi 2012, S. 155), trat in den Hintergrund der Erfahrung und wurde zum Medium des affektiven Leidens. Meine leibliche Erfahrung richtete sich auf meine Welt und den Verlust eines wichtigen Bezugszentrums meines Lebens und meines Alltags. Gerade weil diese beiden Schmerzerfahrungen zeitlich so nahe beisammen lagen, erlauben sie eine deutliche Kontrastierung zweier Formen leiblichen Schmerzes und zweier Erscheinungsweisen leiblicher Erfahrung. Bei beiden Formen des Schmerzes unterscheidet sich die Rolle, die der Leib hat: Einmal drängt er sich auf, einmal wird er medial-transparent. Auch der Weltbezug nimmt unterschiedliche Formen an: der körperliche Schmerz gebietet eine Rückbeorderung auf den faktischen Körper und limitiert eine offene Welt, während der affektive Schmerz hingegen in die Welt vertieft ist und einen anderen Fokus hat. Der leiblich-affektive Schmerz im affektiven Leiden lässt sich bestimmen als eine hintergründige leibliche Empfindung, verstanden als eine phänomenale Qualität eines intentionalen Bezogen-Seins. Er erweist sich darin primär als leiblich-medialer Zug der Erfahrung und weniger als ein eigener Inhalt.

Affektive Sinnbildung: Versteifung und Kollabieren der Intentionalität

Mit dem Motiv „affektive Sinnbildung“ sei unter phänomenologischen Vorzeichen darauf Bezug genommen, was üblicherweise im Diskurs als Kognitionen, Evaluationen oder Urteile erörtert und im Theorie-Disput zwischen Feelings- und Emotions-Theorien der Seite der Intentionalität zugeschrieben wurde. Die phänomenologische Annäherung erfolgte entlang des Konzepts der „Sinnbildung“ nach Tengelyi im Kontrast zum Begriff der „Sinngebung“ bei Husserl. Der Verschiebung von „Sinngebung“ zu „Sinnbildung“ geht es dabei darum, eine Genese von Sinn zu beschreiben, die „sich der Verfügungsgewalt des sinngebenden Bewusstseins entzieht“ (Tengelyi 2004, S. 790) und passive Elemente enthält, die wir nicht selbst hervorbringen, die uns widerfahren und mit denen wir konfrontiert sind. Die Phänomenologie von Waldenfels eignet sich auch dafür, entlang des Doppelereignisses von Widerfahrnis und Antwort eine solche Genese von Sinn zu beschreiben, die gleichermaßen als Antwort auf Widerfahrendes verstanden werden kann. So spricht Waldenfels von einer „Formbildung“ (Waldenfels 2015, S. 268), nicht in dem Sinne, „dass es etwas gibt, das als solches aufgefasst wird, sondern dass etwas zu etwas wird, indem es als solches aufgefasst wird“ (ebd.). Die Frage danach, wie affektive Sinnbildung in Verletzungen beeinträchtigt werden kann, bedient sich dabei zahlreicher Motive einer „Philosophie des Sinnes“ (Waldenfels 2012, S. 36).
Ein solcher Blickwinkel eröffnet die Beschreibung von Verletzungen als Limitierung und Einengung von Spielräumen der Sinnbildung und Möglichkeiten des Antwortens – Verletzungen zeigen sich als Störerfahrungen der Sinnbildung. Waldenfels beschreibt dabei zwei Formen solcher Deformierungen: „Pathologische Phänomene lassen sich derart als Ausuferungen oder Fixierungen des pathischen Geschehens begreifen“ (Waldenfels 2002, S. 334).
Die genannte „Fixierung“ sei beschrieben als eine habituelle Versteifung der Wahrnehmung. Dies möchte ich mit einer jungen Frau veranschaulichen, die auf Wunsch ihres Partners und seiner Familie ihre Schwangerschaft nicht annahm und vor dem Hintergrund ihrer biografischen Prägungen durch einen gewalttätigen Vater auf ihren eigenen Kinderwunsch verzichtete. Was sich hierin findet, ist eine Einengung ihrer habitualisierten Wahrnehmung, deren Struktur biografisch geprägt ist von der Beziehungsdynamik mit ihrem gewaltsamen Vater. Die Muster der Interaktion mit ihrem Vater wiederholt sie in anderen Kontexten, etwa mit dem Partner, der mit ihr ein Kind zeugte. Ihre Sinnbildung blieb fixiert auf Routinen, die aus der Interaktion mit ihrem Vater hervorgegangen waren. Dieses Beispiel vermag es auch, zu veranschaulichen, wie sich Verletzungen einschreiben und durch Wiederholungen und Reproduktion dauerhaft Eingang in die Konstitution eines Subjekts finden.
Gerade dieses Phänomen veranlasst auch dazu, neben der Verletzbarkeit und der Verletzung ausdrücklich auch von einer Verletztheit zu sprechen, die bekundet, dass Verletzungen Spuren hinterlassen und wie Narben in der Subjektkonstitution zurückbleiben. Der Aufweis einer solchen Struktur trägt auch dazu bei, in der Rede vom Subjekt nicht von einer impliziten Integrität auszugehen, sondern das Subjekt-Sein als immer schon von Verletzungen durchzogen anzusehen.
Was Waldenfels als „Ausuferung“ benannte, sei beschrieben als ein stufenweises Erodieren von Sinnzusammenhängen, im Zuge derer eine betroffene Person Halt in der Welt verliert. In der Nachricht über den Tod eines Angehörigen oder in der Aussprache mit der Partnerin, die die Beziehung unerwartet beendet, zerreißen Sinnzusammenhänge. Entsprechend handelt es sich hierbei um starke Erfahrungen, die Sinnbildungen kollabieren lassen und als Nichtung von Sinnzusammenhängen verstanden werden können.
Während die habituelle Versteifung eine Fixierung aufseiten des Antwortens bedeutet, so ließe sich dem gegenüber auch noch eine Fixierung aufseiten des Widerfahrnisses umreißen. Damit sind sich aufdrängende Gedanken oder Gefühle gemeint, wie etwa die anhaltende Trauer, oder auch Erfahrungen des Übergriffs oder der Gewalt. Als Veranschaulichung möchte ich eine junge erwachsene Frau, Anfang 20, aus der psychotherapeutischen Praxis heranziehen, die wochenlang von Erinnerungen an Übergriffe von einem Jugendlichen heimgesucht wurde. Der Sohn einer befreundeten Familie hatte im Alter von 16 die Klientin im Alter von 8 mehrfach im Intimbereich berührt und sich mit seinem Becken an ihr gerieben. Diese sich aufdrängenden Erinnerungen versetzten die Klientin anhaltend in stark belastende Zustände. Eine solche Erfahrung möchte ich bezeichnen als repetitive Nötigung durch ein Widerfahrnis. Ein Subjekt wird von einem Widerfahrnis anhaltend genötigt, auf es zu antworten. Diese Nötigung trägt ein Machtgefälle in sich, der vielfältige Antwortversuche nichts entgegenhalten können, um es zu beruhigen. Lässt sich die habituelle Fixierung als responsive Fixierung bezeichnen, so steht ihr mit dem genannten Beispiel eine pathische Fixierung gegenüber. Dies möchte ich als Erweiterung bzw. Ausdifferenzierung der These von Waldenfels begreifen.
Die leitende These von Waldenfels, Sinnbildung als Antwortgeschehen zu verstehen, charakterisiert den Ansatz dieser Erörterung als interaktionistisch, ereignishaft und prozessual: Indem wir uns mit der Welt auseinandersetzen und auf Widerfahrenes antworten, bildet sich neuer Sinn heraus: „Etwas bekommt Sinn, was nicht schon Sinn hat“ (Waldenfels 2015, S. 166). Selbiges gilt auch für die Ausbildung von Begehren und Werthaftem, wenngleich sich Bedeutsamkeit und Begehrlichkeit in unterschiedlichen Geschwindigkeiten formieren: „Etwas, das unser Begehren weckt, wird nur allmählich begehrenswert und erweist sich als solches im Laufe einer Arbeit, die Zeit braucht. Hier wird deutlich, dass Bedeuten und Begehren, Kognition und Emotion nicht parallel laufen“ (Waldenfels 2015, S. 269). Gleiches gilt für affektive Verletzungen: Die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, hat nicht schon eine feste Bedeutung, die lediglich nur mehr zu explizieren wäre, sie entsteht erst im Zuge unserer Auseinandersetzung mit ihr.

Schlussbemerkung

Was können solche abstrakten und begrifflichen Überlegungen zur Psychotherapieforschung und zur praktischen psychotherapeutischen Arbeit beitragen? Die philosophischen Konzepte möchte ich als meta-theoretische Beiträge charakterisieren, die den Hintergrund eines praktischen und theoriebildenden Arbeitens strukturieren. Was damit gemeint ist, möchte ich analog zu einem Argument von Gallagher und Zahavi (2012) zur Relevanz einer philosophischen Phänomenologie für Neurowissenschaften und Psychologie formulieren:
[I]f, in a methodical way, we pursue a detailed phenomenological analysis, exploring the precise intentional, spatial, temporal, and phenomenal aspects of experience, then we will end up with a description of just what it is that the psychologists and the neuroscientists are trying to explain when they appeal to neural, information processing, or dynamical models. Indeed, the phenomenologist would claim that this kind of methodically controlled analysis provides a more adequate model of perception for the scientist to work with than if the scientist simply starts with a common-sense approach. (Gallagher und Zahavi 2012, S. 10)
Das Argument lautet also, dass eine philosophische Auseinandersetzung mit einer Erfahrung oder einem Phänomen das begriffliche Vorverständnis erhellt, das konkreten empirischen Untersuchungen vorausgeht. Eine differenzierte phänomenologische Klärung etwa davon, was mit aufwändigen empirischen Forschungsarbeiten untersucht werden soll, wirkt sich auf das konzeptuelle Studiendesign aus. Analog möchte ich argumentieren, dass die philosophische Auseinandersetzung mit Verletzbarkeit und der Struktur der affektiven Erfahrung unsere Vorverständnisse erhellen, die einerseits in der Psychotherapieforschung das Studiendesign, andererseits in der praktischen Arbeit mit Klient_innen unsere Wahrnehmung implizit und performativ leiten. In diesem Sinne erhellen die Ausführungen ein Verständnis von Vulnerabilität und von schmerzhaften affektiven Leidenserfahrungen, das in vielfältigen und reichhaltigen Weisen Eingang in Forschungsdesigns und konkretes praktisches Arbeiten finden kann.

Interessenkonflikt

F. Schmidsberger gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
Zurück zum Zitat Boublil, E. (2018). The ethics of vulnerability and the phenomenology of interdependence. The Journal of the British Society for Phenomenology, 49(3), 183–192.CrossRef Boublil, E. (2018). The ethics of vulnerability and the phenomenology of interdependence. The Journal of the British Society for Phenomenology, 49(3), 183–192.CrossRef
Zurück zum Zitat Butler, J. (2009). Frames of war. When is life grievable. London/New York: Verso. Butler, J. (2009). Frames of war. When is life grievable. London/New York: Verso.
Zurück zum Zitat Gallagher, S., & Zahavi, D. (2012). The phenomenological mind. London: Routledge. Gallagher, S., & Zahavi, D. (2012). The phenomenological mind. London: Routledge.
Zurück zum Zitat Helm, B. (2009). Gefühlte Bewertungen: Eine Theorie der Lust und des Schmerzes. In S. Döring (Hrsg.), Philosophie der Gefühle (S. 398–432). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Helm, B. (2009). Gefühlte Bewertungen: Eine Theorie der Lust und des Schmerzes. In S. Döring (Hrsg.), Philosophie der Gefühle (S. 398–432). Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Huth, M. (2016). Reflexionen zu einer Ethik des vulnerablen Leibes. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 3(1), 273–304.CrossRef Huth, M. (2016). Reflexionen zu einer Ethik des vulnerablen Leibes. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 3(1), 273–304.CrossRef
Zurück zum Zitat Huth, M., & Thonhauser, G. (2020). Introduction. Philosophy Today, 64(3), 537–555.CrossRef Huth, M., & Thonhauser, G. (2020). Introduction. Philosophy Today, 64(3), 537–555.CrossRef
Zurück zum Zitat Mackenzie, C., Rogers, W., & Dodds, S. (2014). What is vulnerability, and why does it matter for moral theory? In C. Mackenzie, W. Rogers & S. Dodds (Hrsg.), Vulnerability: new essays in ethics and feminist philosophy (S. 1–32). New York: Oxford University Press. Mackenzie, C., Rogers, W., & Dodds, S. (2014). What is vulnerability, and why does it matter for moral theory? In C. Mackenzie, W. Rogers & S. Dodds (Hrsg.), Vulnerability: new essays in ethics and feminist philosophy (S. 1–32). New York: Oxford University Press.
Zurück zum Zitat Pistrol, F. (2016). Vulnerabilität. Erläuterungen zu einem Schlüsselbegriff im Denken Judith Butler. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 3(1), 233–272.CrossRef Pistrol, F. (2016). Vulnerabilität. Erläuterungen zu einem Schlüsselbegriff im Denken Judith Butler. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 3(1), 233–272.CrossRef
Zurück zum Zitat Ratcliffe, M. (2005). The feeling of being. Jounal of Consciousness Studies, 12(8–10), 45–63. Ratcliffe, M. (2005). The feeling of being. Jounal of Consciousness Studies, 12(8–10), 45–63.
Zurück zum Zitat Schmidsberger, F. (2022). Zur Erfahrung affektiven Leidens. Phänomenologische Beiträge zur Emotions- und Vulnerabilitätstheorie. Dissertation. Universität Wien. Schmidsberger, F. (2022). Zur Erfahrung affektiven Leidens. Phänomenologische Beiträge zur Emotions- und Vulnerabilitätstheorie. Dissertation. Universität Wien.
Zurück zum Zitat Tengelyi, L. (2004). Vom Erlebnis zur Erfahrung. Phänomenologie im Umbruch. In W. Hogrebe (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn, 23.–27. September 2002. (S. 788–800). Berlin: Akademie Verlag. Vorträge und Kolloquien. Tengelyi, L. (2004). Vom Erlebnis zur Erfahrung. Phänomenologie im Umbruch. In W. Hogrebe (Hrsg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongreß für Philosophie, Bonn, 23.–27. September 2002. (S. 788–800). Berlin: Akademie Verlag. Vorträge und Kolloquien.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (1980). Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, B. (1980). Der Spielraum des Verhaltens. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2002). Bruchlinien der Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2012). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2012). Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2013). Der Stachel des Fremden. Frankfurt: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2013). Der Stachel des Fremden. Frankfurt: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2015). Sozialität und Alterität. Berlin: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2015). Sozialität und Alterität. Berlin: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2019). Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Berlin: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2019). Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Berlin: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Döring, S. (2009). Philosophie der Gefühle. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Döring, S. (2009). Philosophie der Gefühle. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Fuchs, T. (2011). Leibliche Sinnimplikate. In H.-D. Gondek, T. Klass & L. Tengelyi (Hrsg.), Phänomenologie der Sinnereignisse (S. 291–305). München: Wilhelm Fink. Fuchs, T. (2011). Leibliche Sinnimplikate. In H.-D. Gondek, T. Klass & L. Tengelyi (Hrsg.), Phänomenologie der Sinnereignisse (S. 291–305). München: Wilhelm Fink.
Zurück zum Zitat Fuchs, T. (2013). Depression, intercorporeality and interaffectivity. Journal of Consciousness Studies, 20(7–8), 219–238. Fuchs, T. (2013). Depression, intercorporeality and interaffectivity. Journal of Consciousness Studies, 20(7–8), 219–238.
Zurück zum Zitat Gendlin, E. (2018). Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Stuttgart: Klett-Cotta. Gendlin, E. (2018). Focusing-orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Stuttgart: Klett-Cotta.
Zurück zum Zitat Ratcliffe, M. (2017). Empathy without simulation. In M. Summa, T. Fuchs & L. Vanzago (Hrsg.), Imagination and social perspectives: approaches from phenomenology and psychopathology (S. 199–220). London: Routledge.CrossRef Ratcliffe, M. (2017). Empathy without simulation. In M. Summa, T. Fuchs & L. Vanzago (Hrsg.), Imagination and social perspectives: approaches from phenomenology and psychopathology (S. 199–220). London: Routledge.CrossRef
Zurück zum Zitat Schmidsberger, F. (2021). Affektive Vulnerabilität in einer Philosophie der Gefühle. InterCultural Philosophy, 1, 99–112. Schmidsberger, F. (2021). Affektive Vulnerabilität in einer Philosophie der Gefühle. InterCultural Philosophy, 1, 99–112.
Zurück zum Zitat Schmidsberger, F. Wider bessere Einsicht fühlen. Zur Widerständigkeit unseres Leibes bei Gefühlen. In I. Römer, S. Seitz & G. Stenger (Hrsg.), Faktum, Faktizität, Wirklichkeit. Phänomenologische Perspektiven. Sonderband Phänomenologische Forschungen. Hamburg: Meiner. im Druck. Schmidsberger, F. Wider bessere Einsicht fühlen. Zur Widerständigkeit unseres Leibes bei Gefühlen. In I. Römer, S. Seitz & G. Stenger (Hrsg.), Faktum, Faktizität, Wirklichkeit. Phänomenologische Perspektiven. Sonderband Phänomenologische Forschungen. Hamburg: Meiner. im Druck.
Zurück zum Zitat Schmidsberger, F., & Löffler-Stastka, H. (2018). Empathy is proprioceptive: the bodily fundament of empathy—A philosophical contribution to medical education. BMC Medical Education, 18(69), 1–6. Schmidsberger, F., & Löffler-Stastka, H. (2018). Empathy is proprioceptive: the bodily fundament of empathy—A philosophical contribution to medical education. BMC Medical Education, 18(69), 1–6.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2000). Das leibliche Selbst: Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2000). Das leibliche Selbst: Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Zurück zum Zitat Waldenfels, B. (2007). Antwortregister. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Waldenfels, B. (2007). Antwortregister. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Metadaten
Titel
Vulnerabilität und affektives Leiden
Philosophische Beiträge zu einem Verständnis von Verletzbarkeit und Gefühlen
verfasst von
Florian Schmidsberger
Publikationsdatum
02.05.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Psychotherapie Forum / Ausgabe 1-2/2022
Print ISSN: 0943-1950
Elektronische ISSN: 1613-7604
DOI
https://doi.org/10.1007/s00729-022-00196-7

Weitere Artikel der Ausgabe 1-2/2022

Psychotherapie Forum 1-2/2022 Zur Ausgabe