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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 2/2022

Open Access 28.02.2022 | psychiatrie

Transitionspsychiatrie – ein Definitionsversuch mit Praxisbezug

verfasst von: OÄ PD Dr. Beate Schrank, PhD MSc

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 2/2022

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Zusammenfassung

Die Transitionspsychiatrie stellt sich den spezifischen psychischen Herausforderungen der Aufgaben und Prozesse des Erwachsenwerdens vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Die entsprechende Forschung untersucht Risikofaktoren für psychische Erkrankungen und protektive Faktoren für ein gesundes Erwachsenwerden sowie Möglichkeiten und Interventionen, psychisch gesundes Erwachsenwerden und die gesellschaftliche Integration junger Menschen zu fördern.
Hinweise

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Die Transitionspsychiatrie ist ein relativ neues Feld innerhalb der Psychiatrie und fokussiert auf Menschen zwischen dem 15. und 25. Lebensjahr. Sie versteht sich als gemeinsamer Bereich von Kinder‑/Jugend- und Erwachsenenpsychiatrie, der Jugendlichen ein stabiles Setting bietet, um die Entwicklungsaufgaben des Erwachsenwerdens zu bewältigen. In der klassischen Versorgungsstruktur werden diese Entwicklungsaufgaben durch den Wechsel zwischen Kinder‑/Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie mit dem 18. Geburtstag oft jäh unterbrochen, was sich nachteilig auf den weiteren Krankheitsverlauf auswirkt.
Als Transition – also Übergang – wurde in der Psychiatrie zunächst auch schlicht der Versorgungswechsel von der Kinder- und Jugendpsychiatrie in die Erwachsenenpsychiatrie bezeichnet. Es wurden Methoden, wie z. B. Übergabekonferenzen, etabliert, um die Transition zu erleichtern. Solche Hilfen am Übergang zwischen zwei verschiedenen Versorgungsphilosophien reichen jedoch in vielen Fällen nicht aus, um eine Kontinuität der Therapie zu gewährleisten.
Das kinder- und jugendpsychiatrische Therapieverständnis ist geprägt von einer Entwicklungsperspektive. Psychische Erkrankungen in der Jugend führen oft dazu, dass wichtige Entwicklungsziele des gesunden Erwachsenwerdens nicht erreicht werden. Daher ist es das Ziel der Jugendpsychiatrie, Patient*innen ein stabiles und zuverlässiges Setting zu bieten, um sie dabei zu unterstützen, diese Entwicklungsschritte zu vollziehen und gesunde Erwachsene zu werden.
Bis zum 18. Lebensjahr ist diese Entwicklung sehr oft nicht abgeschlossen. Mit dem Wechsel der Versorgungsstruktur werden die Jugendlichen also aus dem vertrauten entwicklungsorientierten Setting gerissen und gelangen in das querschnittsorientierte Setting der Erwachsenenpsychiatrie.
Jugendlichen soll ermöglicht werden, Entwicklungsaufgaben in stabilem Setting abzuschließen
Im Verständnis der Erwachsenenpsychiatrie werden einzelne Episoden von Krankheitsbildern behandelt und dahinter liegende Entwicklungsaufgaben dem als erwachsen und selbstverantwortlich betrachteten Individuum überlassen. Therapeutisch bedeutet das häufig Behandlungsabbrüche und Stagnation. Das „Nachbeeltern“ der Jugendpsychiatrie fällt abrupt weg, häufig mit der Folge, dass Entwicklungsaufgaben nicht abgeschlossen werden und psychische Gesundheit nicht erreicht wird.
Aus diesem Grund wird es international in der Psychiatrie heute gefordert und als State of the Art betrachtet, es Jugendlichen zu ermöglichen, Entwicklungsaufgaben in einem stabilen Setting abzuschließen, bis sie in ein selbstständiges Erwachsenenleben entlassen werden können. Dies ist die Aufgabe der Transitionspsychiatrie.

Fallbericht

Die Erstvorstellung des 19-jährigen Patienten fand ohne ihn, nur in Anwesenheit der Mutter, statt. Der Patient hatte zu große Angst, das Auto zu verlassen und selbst bei einem Facharzt für Erwachsenenpsychiatrie vorstellig zu werden. Gut zwei Jahre zuvor hatte er die Therapie im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie abgebrochen. Der Ersttermin wurde für eine Außenanamnese genutzt. Dabei berichtete die Mutter von einem Vater mit schwerer narzisstischer Persönlichkeitsstörung mit episodischem Alkoholmissbrauch, episodisch ausgeprägten paranoiden Ideen und Gewalttätigkeit gegen über der Ehefrau und Mutter, die von den drei Kindern mitangesehen werden musste, sowie zum Teil gegenüber dem Patienten, der das älteste der Kinder war. Die Mutter hatte zum Teil auf die psychische und physische Misshandlung durch den Gatten ebenfalls mit Alkoholmissbrauch reagiert und war in diesen Phasen vom Patienten gestützt und versorgt worden. Zudem war der Patient in der Schule massiv von Mitschülern gequält worden. Vor dem Hintergrund dieser familiären und schulischen Situation hatte der Patient eine massive Angststörung entwickelt.
Im Vordergrund standen zunächst eine Schulangst und Schulverweigerung. Die Schule wurde mehrmals gewechselt, es kam jedoch immer wieder zu psychischer und physischer Gewalt gegen den Patienten und schließlich zum Schulabbruch. Therapieversuche fanden im Rahmen der Kinderpsychiatrie sowohl stationär als auch ambulant statt und waren bisher wenig erfolgreich. Die Familie – insbesondere der Vater – konnte nicht in die Therapie eingebunden werden. Durch den Therapieabbruch konnte auch ein begleiteter Übergang zur Erwachsenenpsychiatrie nicht stattfinden. Seit etwa zwei Jahren lebte der Patient zuletzt sozial völlig isoliert und zurückgezogen im Elternhaus. Nun, im 19. Lebensjahr des Patienten, ergriff die Mutter erneut die Initiative und startete einen Versuch, die Therapie im Setting der Erwachsenenpsychiatrie fortzusetzen.
Es wurde ein offenes, einladendes und wenig direktives Kontaktsetting gewählt und der Patient erneut zu einem Erstgespräch eingeladen. Zum dritten vereinbarten Termin konnte er schließlich tatsächlich erscheinen. Es wurde die Diagnose einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung gestellt. In der Therapie wurde – entsprechend den Prinzipien der Transitionspsychiatrie – eine entwicklungsorientierte und stabil begleitende Herangehensweise gewählt. Es wurde vorübergehend mit Antidepressiva und angstlösender Medikation gearbeitet. Therapeutisch umfassten die vom Patienten bis dahin unbewältigten Entwicklungsaufgaben die Bereiche Sozialkontakte, Ausbildung/Beruf und Selbstbild.
Transitionspsychiatrisches Prinzip: prospektiver entwicklungsorientierter Therapieansatz
Schritt für Schritt konnten soziale Kompetenzen erworben, soziale Kontakte geknüpft, ausprobiert und reflektiert werden. Zugleich wurde am Selbstbild im Sinne von Selbstwert, Selbsteffizienzerwartung und Durchsetzungsvermögen gearbeitet. Ein wesentlicher Teil der Arbeit bestand dabei aus das Ich stärkenden Maßnahmen. Zunehmende Fortschritte in diesen Bereichen erlaubten es, in weiterer Folge auch massiv angstbesetzte Aufgaben zu bewältigen, wie das Absolvieren einer Führerscheinprüfung und die Wiederaufnahme einer externen schulischen Ausbildung. Im Alter von 22 Jahren hatte der Patient einen kleinen guten Freundeskreis, er kann die häufig vorkommende Instabilität von Bekanntschaften unter Jugendlichen ohne Selbstwertverlust erleben und positiv auf Gleichaltrige zugehen. Zunehmend wurden dann auch die Themen Sexualität und partnerschaftliche Beziehungen relevant. Diese sind nach wie vor angstbesetzt und bedürfen einer sehr vorsichtigen Annäherung. Die Pflichtschule konnte er abschließen, obwohl Lehrpersonen und Prüfungen immer noch ein massiv angstbesetztes Thema sind. In der Konfrontation mit dem Vater konnte der Patient viel Sicherheit und Distanz gewinnen. Der Auszug aus dem Elternhaus wurde über viele Monate gemeinsam vorbereitet, sodass zumindest eine räumliche Distanz möglich wurde. Eine vollständige räumliche und psychologische Ablösung konnte bisher aber noch nicht vollzogen werden. Dies liegt vor allem an der ausgeprägten Parentifizierung des Patienten. Er hatte über lange Zeit eine stützende und schützende Partner- und Elternrolle für die Mutter und die jüngeren Geschwister übernommen. Mit dem Verbleib des Vaters als Täter im Familiensystem konnte sich der Patient nur schwer von dieser Rolle lösen.
Zusammenfassend wurde der Patient mit 19 Jahren, also zu einem Zeitpunkt, zu dem er klar in einem erwachsenenpsychiatrischen Setting zu versorgen war, in Therapie übernommen und entsprechend transitionspsychiatrischer Prinzipien behandelt. Das heißt, es wurde ein prospektiver entwicklungsorientierter Therapieansatz gewählt, der nicht nur die Kontrolle der psychiatrischen Symptome umfasste, sondern auch die persönlichen, sozialen und beruflichen Herausforderungen und Entwicklungsaufgaben.

Diskussion

Transitionen – also Übergänge – stellen immer wieder eine Herausforderung dar. Das gilt für gesellschaftlich vorgegebene Übergänge, wie z. B. Schulwechsel oder Übertritt ins Arbeitsleben, ebenso wie für persönliche Übergänge wie Änderungen im Beziehungsstatus oder im Karriereweg. Eine besondere Bedeutung hat die Transition ins Erwachsenenalter. Hier werden die Weichen für den gesamten weiteren Lebensweg gestellt und eine mangelhafte Bewältigung der entsprechenden Entwicklungsaufgaben kann die psychische und physische Gesundheit und den sozialen Erfolg nachhaltig negativ beeinflussen.
Erwachsen zu werden war noch nie einfach, heute stehen junge Menschen aber vor Herausforderungen, die deutlich komplexer und vielfältiger sind, als es die der vorangehenden Generationen waren. Um nur einige Beispiele zu nennen: Die Gesellschaft verändert sich immer rascher, sie fordert Flexibilität und Stabilität in Selbstbild, Zielen und Bewältigungsstrategien zugleich; Information und Fehlinformation sind im Überfluss und andauernd verfügbar und immer schwieriger einzuordnen; das Internet erlaubt Kontakt und Austausch mit einer unendlichen Zahl von Menschen quer über den Globus und wirft so einerseits neue Fragen dazu auf, was soziale Verbundenheit und Zugehörigkeit bedeuten und wie man Kommunikation leben kann, andererseits rückt es neue Aspekte von Identitätsfindung ins Blickfeld. Zu diesen gehören etwa wandelbare Trends der Körperkultur oder Ernährung, die besonders für Jugendliche relevant sind, aber auch immer neue Aspekte von sexueller Identität und Genderverständnis, die in den letzten Jahren unter Jugendlichen zunehmend vielfältiger und fluider wurden. Jugendliche haben kaum Rollenmodelle für die Bewältigung all dieser neuen Herausforderungen.
Transition ins Erwachsenenalter: Weichen für gesamten weiteren Lebensweg werden gestellt
In den vergangenen Jahren kamen dazu umweltgebundene Unsicherheiten, die die Entwicklungsziele von Jugendlichen infrage stellen und Zukunftsangst auslösen oder verstärken können, allen voran Covid bedingte Veränderungen und die drohenden Gefahren des Klimawandels.
Junge Menschen bei der Navigation des Erwachsenwerdens im Angesicht all dieser Herausforderungen zu unterstützen, ist Aufgabe der Transitionspsychiatrie. Das gilt natürlich besonders dann, wenn psychiatrische Erkrankungen die Entwicklung erschweren. Es sollte jedoch auch ein stärkerer Fokus auf Prävention und die Ermöglichung positiver Entwicklung bei besonders gefährdeten Jugendlichen, wie z. B. Kindern von Eltern mit psychischen Erkrankungen, oder bei nur unterschwelligen Symptomen gelegt werden. Hier ist besonders die transitionspsychiatrische Forschung gefordert. Konzepte dazu, was Erwachsenwerden in der Welt heute bedeutet, müssen neu gedacht, die komplex zusammenhängenden Herausforderungen neu verstanden und Bewältigungsstrategien neu entwickelt werden.

Fazit für die Praxis

  • In der Adoleszenz sollte gemeinsam nach jugend- und erwachsenenpsychiatrischen Prinzipien therapiert werden.
  • Der Entwicklungsfokus der Jugendpsychiatrie sollte ins Erwachsenenalter übertragen werden.
  • Angesichts der komplexen Entwicklungsherausforderungen wird Prävention im Jugendalter zunehmend relevant.
  • Transitionspsychiatrie bedeutet auch Präventionspsychiatrie.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

B. Schrank gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Transitionspsychiatrie – ein Definitionsversuch mit Praxisbezug
verfasst von
OÄ PD Dr. Beate Schrank, PhD MSc
Publikationsdatum
28.02.2022
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 2/2022
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-022-00788-7

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