Medizin ist eine Wissenschaft der Ungewissheit und die Kunst des Wahrscheinlichen. (Sir William Osler) [1]
Einleitung
Die moderne Medizin ist seit ihrer naturwissenschaftlichen Grundlegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Streben nach gesichertem Wissen geprägt. Da die Medizin eine Handlungswissenschaft darstellt, ist hier der Erkenntnisgewinn allerdings kein Selbstzweck, sondern dient als Grundlage für die klinische Praxis. Dabei geht es um Handlungssicherheit und den Schutz sowie die Förderung des Patientenwohls. Die evidenzbasierte Medizin, als Konzept entstanden in den 1970er-Jahren, als Leitbild etabliert in den 1990ern, gilt als Ausdruck dieses Strebens.
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Klinisches Handeln soll auf der besten verfügbaren empirischen Evidenz beruhen, um die bestmögliche Versorgung (Best Practice) zu ermöglichen. Dabei ist es ein zentrales Ziel, empirische Daten bestmöglich zu nutzen, um ein möglichst präzises Bild der gesundheitlichen Situation einer Person zu erhalten. Diesen Anspruch einzulösen, ist das große Versprechen der datengetriebenen Medizin. Insofern ist ihre Zielsetzung nicht neu, wohl aber die technischen Möglichkeiten. Anwendungen künstlicher Intelligenz (KI), hauptsächlich Technologien maschinellen Lernens, die auf einem Big-Data-Ansatz beruhen, sind hierfür der Schlüssel.
Im Folgenden werden zunächst diese Technologien in der Medizin sehr kursorisch dargestellt. Danach wird auf einige der zentralen ethischen Herausforderungen eingegangen. Der Beitrag beruht auf der 2024 erschienen Monographie Ethics of Medical AI [2].
Künstliche Intelligenz in der Medizin
Eine abschließende Definition des Begriffs „Künstliche Intelligenz“ scheitert bereits am Fehlen einer abschließenden Definition von natürlicher oder menschlicher Intelligenz. Im Folgenden werde ich ihn unter Vorbehalt und nur der Einfachheit halber verwenden, da er sich in der öffentlichen Debatte eingebürgert hat. Mit medizinischer KI meine ich virtuelle oder verkörperte Computersysteme, d. h. Software oder Roboter, die auf Anwendungen maschinellen Lernens basieren. Da diese Systeme in der Lage sind, klinische Überlegungen durchzuführen, Entscheidungen zu treffen und Handlungen zu setzen, spreche ich von „artificial agents“. Hierin ist bereits ein wichtiger Unterschied zu bisherigen Medizintechnologien zu sehen.
Bei KI-Anwendungen handelt es sich nicht um passive Werkzeuge, sondern um zumindest teilweise autonome Akteure. Darin liegt deren Potenzial begründet, zu einer fundamentalen Transformation der Medizin zu führen. Des Weiteren müssen KI-Anwendungen als Motoren gesehen werden, deren Kraftstoff Daten darstellen. Daher ist KI immer im Kontext von Big Data zu denken, d. h. großen Mengen multimodaler Daten aus unterschiedlichen Quellen und in unterschiedlichen Formaten. Zentral ist dabei Vermögen von KI-Anwendungen, Korrelationen in diesen großen Datenmengen aufzufinden, Muster zu erkennen und Modelle zu entwickeln, die Objekte oder Prozesse präzise abbilden und eine präzise Vorhersage erlauben. Damit ist diese Technologie von erheblichem Wert für die Medizin.
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Die Anwendungsbereiche in der Medizin sind vielfältig, wenn auch zu einem beträchtlichen Teil noch prospektiv.
Diagnostik und Therapieoptionen
In der Diagnostik können KI-Anwendungen eingesetzt werden, um die Treffsicherheit zu erhöhen und Arbeitsprozesse zu optimieren. Zu nennen ist hier v. a. KI-unterstützte Bilderkennung in Bereichen wie der Radiologie und Dermatologie. KI-Anwendungen, deren Algorithmen mittels tausender Aufnahmen von Hautpartien trainiert wurden, werden bereits zur Erkennung von Melanomen eingesetzt und übertreffen mitunter Dermatologinnen und Dermatologen hinsichtlich der Treffsicherheit. Ebenso haben KI-Anwendungen für Mammographien zu einer verbesserten Brustkrebs-Diagnostik beigetragen.
Klinische Entscheidungsunterstützungs-Systeme („clinical decision support systems“, CDSS) helfen dabei, Daten zu verknüpfen, zu modellieren und zu organisieren, um Arbeitsprozesse zu optimieren und eine bessere Grundlage für klinische Entscheidungen zu schaffen. Ein CDSS kann etwa Daten einer aktuellen Befundung in das Gesamtbild des Patienten oder der Patientin einordnen, Diagnosen und Prognosen anbieten, Therapieoptionen vorschlagen und weitere Therapieschritte planen. Dabei führen diese Systeme Daten aus unterschiedlichen Quellen (Labordaten, Patientenakte, ärztliche Notizen, Studien zur Wirksamkeit von Therapien bzw. Medikamenten) zusammen und bauen Modelle zur prädikativen Datenanalyse. Damit wird einerseits die gesundheitliche Situation einer Person präziser erfasst, andererseits auch die weitere Entwicklung, z. B. die Krankheitsprogression, besser vorhergesagt. Der Fokus auf individuellen Gesundheitsdaten erlaubt eine besser personalisierte Behandlung, anstatt sich auf die statistische Abstraktion von Durchschnittspatientinnen und -patienten zu verlassen, wie sie in Reviews und Kohortenstudien vorkommen.
Mobile Health und Internet of Things
Ein weiteres wichtiges Anwendungsfeld stellt der Bereich mobiler Gesundheitstechnologien (Mobile Health oder mHealth) sowie Internet of Things (IoT) dar. KI-Anwendungen in Form von Apps oder Smart Wearables (Fitnessarmbänder, Smart Watches, am Körper getragene Sensortechnik) können genutzt werden, um Vitalfunktionen, aber auch Umwelt- und Verhaltensdaten longitudinal zu sammeln. Die Datensammlung ist damit nicht mehr auf spezifische Zeitpunkte oder die Anwesenheit in medizinischen Einrichtungen beschränkt, sondern kann im privaten Lebensumfeld und Alltag von Personen erfolgen. So kann eine größere, über einen Zeitraum verteilte Datenmenge erhoben und in Echtzeit ausgewertet werden. Patientinnen und Patienten können Apps auch selbstständig nutzen, etwa zur Symptomanalyse, zu telemedizinischen Zwecken oder zur personalisierten Gesundheitsinformation. Sensor- und Monitoringtechnologien, die auf IoT-Anwendungen basieren, können in Kliniken, Pflegeeinrichtungen oder in der eigenen Häuslichkeit genutzt werden. Durch automatisierte Prozesse der Datenerhebung und -prozessierung können Zeit und Personalressourcen eingespart werden. Auch lassen sich diese Systeme einsetzen, um älteren Menschen oder chronisch Kranken ein möglichst selbstständiges Leben in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen. Ein Beispiel hierfür wären Sturzsensoren im Fußboden, sogenannte Smart Floors, die das Gangbild von Personen auswerten und bevorstehende Stürze anzeigen bzw. erfolgte Stürze notfallmäßig melden.
Im Bereich der Robotik werden KI-Anwendungen ebenfalls bereits eingesetzt. Hier spricht man auch von verkörperter KI, wenn Anwendungen in Form von Hardware vorliegen. Dazu gehören Chirurgie-Roboter, die mittlerweile sowohl in der Ausbildung als auch für Operationen eingesetzt werden. Dabei können diese Systeme zur Unterstützung für Chirurginnen und Chirurgen dienen oder selbsttätig Operationen durchführen. Manche dieser Anwendungen erlauben es auch, durch Feedback und die Optimierung von Arbeitsprozessen die Skills in der Anwendung zu verbessern.
Im Pflegebereich werden bereits Roboter eingesetzt, die mechanische Tätigkeiten von Pflegekräften unterstützen, etwa in der Mobilisierung von Patientinnen und Patienten, im Tragen schwerer Lasten oder im Zuteilen von Medikamenten. Dabei werden Roboter in Form autonomer Geräte oder als Exoskelette verwendet, welche die Muskelkraft von Anwenderinnen und Anwendern unterstützen und verstärken. Darüber hinaus finden in der Pflege auch sogenannte Socially Assistive Robots (SAR) Anwendung. SAR ermöglichen die Integration von physischen Tätigkeiten mit sozialer Interaktion und werden besonders im Bereich der Langzeitpflege genutzt. Ein prominentes Beispiel ist Paro, ein KI-gestützter Roboter in Form einer Baby-Robbe. Paro reagiert auf Ansprache und Berührungen, simuliert Emotionen und Verhalten und kann so mit Nutzerinnen und Nutzern interagieren. Es konnte gezeigt werden, dass der Einsatz von Paro zur Verringerung von Gefühlen der Einsamkeit beiträgt und therapeutische Effekte beim Einsatz für Menschen mit Demenz aufweist.
Administration
In der Administration kann ein KI-gestütztes Datenmanagement zur einer eheblichen Verringerungen der Arbeitsbelastung sowie zu einer Ressourceneinsparung beitragen. Bekanntlich stellen administrative Tätigkeiten einen maßgeblichen Zeitfaktor für Gesundheitspersonal dar. KI-Systeme können die Patientendokumentation erleichtern, das Aufnahme- und Entlassungsmanagement in Krankenhäusern optimieren und die Logistik in Gesundheitseinrichtungen effizienter gestalten. Finanzielle wie personelle Ressourcen können so sinnvoller eingesetzt werden, was v. a. bedeutet, dass Ärztinnen und Ärzte, Pflegerpersonen etc. von mechanischen und zeitintensiven Tätigkeiten zunehmend entbunden werden könnten und somit mehr Zeit für direkt patientenbezogene Tätigkeiten und v. a. die zwischenmenschliche Beziehung hätten.
Bei diesem Überblick handelt es sich nur um einen kleinen Ausschnitt bereits existierender und möglicher Anwendungen von KI in der Medizin. Allen diesen Anwendungen ist gemeinsam, dass sie grundlegend verändern, wie Dinge gemacht werden, wie Akteure in der Medizin miteinander interagieren und wie die Umwelten des Handelns und Interagierens gestaltet sind. Die ethische Betrachtung wird daher auf das Potenzial von KI-Anwendungen fokussieren, Praktiken, Beziehungen und Umwelten in der Medizin zu transformieren.
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Ethische Aspekte
Praktiken
Die Ansicht, wonach KI-Anwendungen zur Transformation ärztlicher Praktiken führen werden, basiert auf der simplen Voraussetzung, dass epistemische Praktiken von Ärztinnen und Ärzten ihre Entscheidungen und die Begegnung mit Patientinnen und Patienten formt. Wie Ärztinnen und Ärzte Patientinnen und Patienten lesen, d. h. deren Daten sammeln, auswerten und interpretieren, gestaltet die Handlungen, welche Ärztinnen und Ärzte ausführen. Sind die epistemischen Praktiken KI-gestützt, spreche ich von „smart data practices“. Somit sind zwei wesentliche Felder definiert, Datensammlung und Operationalisierung von Daten, mit je einigen Herausforderungen.
Neue Möglichkeiten der Datensammlung entstehen aus der ubiquitären und permanenten Verfügbarkeit von Daten, v. a. durch mHealth und IoT-Anwendungen. Daraus ergeben sich Fragen der Vertraulichkeit und informationellen Privatheit. Welches Ausmaß an Datensammlung ist zulässig und wie lassen sich die hochsensiblen Gesundheitsdaten schützen? Zum einen werden enorm große Datenmengen benötigt, um eine personalisierte Behandlung zu ermöglichen. Zum anderen sind diese Daten ständig in Gefahr, durch Verlust oder Missbrauch in die falschen Hände zu fallen. Diesem Dilemma muss mit einer dreifachen Strategie begegnet werden, um einerseits die Compliance von Patientinnen und Patienten zu gewinnen, andererseits Handlungssicherheit für Ärztinnen und Ärzte zu schaffen.
Erstens bedarf es neuer Ansätze des Informed Consent, der in seiner jetzigen Form auf neue Möglichkeiten und Zwecke der Datensammlung nur bedingt anwendbar ist. Daher sind dynamische Modelle heranzuziehen, welche es Datensubjekten, d. h. Patientinnen und Patienten, ermöglichen, Ausmaß und Zweck der Datensammlung und -weitergabe sowie den zugriffsberechtigten Personenkreis zu definieren. Zweitens bedarf es zur Umsetzung solcher dynamischer Modelle wie auch zur Datensicherheit technischer Werkzeuge. Dazu gehören Encryption-Technologien oder Blockchain-Technologien, welche Datensicherheit gewährleisten und Datensubjekten eine größere Kontrolle über ihre Daten erlauben. Drittens müssen Regularien und Leitlinien geschaffen werden, die den aktuellen technischen Stand wahrnehmen und adäquat regulieren. Es gibt demnach nicht den einen Hebel, um das angesprochene Dilemma zu lösen, sondern eine Kombination aus den drei genannten Ansätzen.
Die Operationalisierung von Daten bedeutet das Entscheiden und Handeln auf Grundlage von Datenmodellen. Datenmodelle basieren auf der sogenannten Datafizierung, d. h. der Übersetzung sämtlicher Lebensäußerungen einer Person in quantifizierbare Daten im digitalen Format. Dabei ergibt sich das Risiko des digitalen Positivismus: Die Fixierung auf quantifizierbare, numerische Daten kann dazu führen, dass genuin qualitative Aspekte wie die soziale Situation einer Person, ihre Werthaltungen oder ihr Krankheitsnarrativ verlorengehen. Alle diese Informationen sind jedoch für eine Behandlung relevant. Somit kann der inhärente Reduktionismus zu einem verkürzten Blick auf die Person führen, die zur Summe von Datensätzen degradiert wird.
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Ein weiteres Risiko besteht in der Bias-Problematik. Mit Bias bezeichnet man stereotype oder diskriminierende Vorstellungen, die Individuen oder Gruppen über einzelne Merkmale definieren oder marginalisierte Gruppen aus der Betrachtung ausschließen. Im Kontext medizinischer KI-Anwendungen kann es zu einer Bias-Kaskade kommen. Enthalten bereits die Trainingsdaten, mit denen Algorithmen trainiert werden, einen Bias, werden die Algorithmen selbst einen Bias enthalten. Somit findet sich der Bias auch in den von ihnen gebildeten Datenmodellen. Eine Entscheidung schließlich, die aufgrund von gebiasten Datenmodellen getroffen wird, ist selbst gebiast.
Ein Beispiel wäre eine Bilderkennungssoftware für Melanome, die nur mit Bildern von Menschen mit weißer Hautfarbe trainiert ist und somit bei Menschen mit dunklen Hauttypen nicht mehr präzise arbeiten kann. Den ethischen Risiken der Operationalisierung von Daten kann durch sogenannte Thick-Data-Ansätze begegnet werden, d. h. durch die Erweiterung von quantitativ ausgerichteter Big Data durch qualitative Daten. Dabei sollen vor allem die konkrete Lebenssituation sowie die Werthaltungen von Patientinnen und Patienten besser abgebildet werden. Zudem können unterschiedliche Strategien zum De-Biasing von KI-Anwendungen genutzt werden, einerseits technische Ansätze, andererseits partizipative Modelle, bei welchen die Perspektive von Stakeholdern in die Technikentwicklung einbezogen wird.
Beziehungen
Smart-Data-Praktiken werden die Begegnung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten umformen. Da Ärztinnen und Ärzte vermehrt mit Datenmodellen interagieren, die eine Reduktion der tatsächlichen Gegebenheiten darstellen und Patientinnen und Patienten zunehmend KI-Anwendungen selbsttätig nutzen, verändert sich auch die Arzt-Patienten-Beziehungen. Es ergeben sich neue Rollen für die beteiligten Akteure. Da KI-Anwendungen „artificial agents“, d. h. autonome oder teilautonome Akteure darstellen und nicht bloß passive Werkzeuge sind, wird die bis dato dyadische Beziehung Ärztin/Arzt-Patientin/Patient aufgebrochen. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass unterschiedliche Rollen in der Technik angelegt sind, je nachdem, zu welchen Zwecken KI-Anwendungen entwickelt, implementiert und genutzt werden. Im idealen Setting nehmen Ärztinnen und Ärzte die Rolle eines gestärkten Praktikers („enhanced practitioner“) ein. KI-Anwendungen fungieren als „enabler“, haben also eine unterstützende und ermöglichende Funktion, um Ärztinnen und Ärzte in die Lage zu versetzen, Best Practice zu leisten. Patientinnen und Patienten könnten in einem solchen Setting von KI-Anwendungen als „empowered patients“ profitieren, indem Prozessabläufe vereinfacht und optimiert werden und die Kommunikation verbessert wird. Zugleich könnten Patientinnen und Patienten KI-Anwendungen selbsttätig nutzen und damit zum einen mehr Kontrolle über ihre eigenen Gesundheitsdaten erhalten, zum anderen aktiv an der Behandlung teilnehmen, was v. a. hinsichtlich von Prävention und Selbstmanagement bei chronischen Erkrankungen von Vorteil wäre.
Nicht wünschenswert wäre ein Setting, in welchem KI-Anwendungen als Ersatz („substitute“) für Ärztinnen und Ärzte konzipiert und eingesetzt werden und diesen die Rolle eines „supervisor“ zukommt, der bloß noch automatisierte Prozesse überwacht. Das würde eine Entmenschlichung der Medizin und den Verlust von Vertrauen mit sich bringen, was die therapeutische Beziehung aushöhlen und zu einer Dienstleistungsbeziehung umformen würde. Folgerichtig sehen manche Autorinnen und Autoren auch die zukünftige Rolle von Patientinnen und Patienten als emanzipierte Konsumentinnen und Konsumenten („emancipated consumer“), die ihre Gesundheit größtenteils selbst mittels KI-Anwendungen managen und nur bei Bedarf auf ärztliche Dienstleistungen zurückgreifen, die wiederum größtenteils durch KI-Anwendungen geleistet werden. Eine derartige Sichtweise verkennt, dass die Automatisierung einzelner Behandlungsschritte kein Ersatz für eine Behandlung sein kann, die auf einer therapeutischen Beziehung beruht. Ein Erkennen von Melanomen oder die korrekte Diagnose einer bestimmten Erkrankung lässt sich allenfalls an KI-Anwendungen delegieren. Patientinnen und Patienten zu behandeln bedeutet jedoch, eine Person in ihrer Gesamtheit zu erfassen, vereinzelte Datensätze mit ihrer Persönlichkeit und sozialen sowie familiären Situation zu kontextualisieren und ihre Werthaltungen und Präferenzen zu respektieren. Ebenso, wie eine Person mehr ist als die Summe ihrer Datensätze, ist auch eine Behandlung mehr als die Summe von Einzeltätigkeiten. Vertrauen und die Anerkennung als Person mit individuellen Bedürfnissen, Ressourcen und Werthaltungen sind die Voraussetzung für autonomes Handeln und Entscheiden von Patientinnen und Patienten.
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Umwelten
Der massive Technikeinsatz, den eine KI-gestützte Medizin erfordert, wird die materiellen Umwelten von Ärztinnen und Ärzten wie von Patientinnen und Patienten verändern. Es kommt zu einem Ausbau der technischen Infrastruktur und zu einer Zunahme von Hardware in medizinischen Einrichtungen. Kompetenzen im Umgang mit der Technik („digital literacy“) müssen daher stärker in der medizinischen Aus‑, Fort- und Weiterbildung verankert werden. Aber auch im privaten Bereich hält die KI-gestützte Medizintechnik Einzug. Der für die Leistungsfähigkeit von KI-Anwendungen erwünschte ständige Datenfluss zwischen der Ärztin oder dem Arzt und der Patientin oder dem Patienten erweitert den klinischen Blick jenseits der Mauern der medizinischen Domäne in die Privatheit. Somit ist auch die immaterielle Umwelt von Personen betroffen.
Die Auflösung der klaren Grenze zwischen privatem Bereich und medizinischer Domäne wirft Fragen nach dem Wert von Privatheit auf. Ebenso ist im Einzelfall abzuwägen, ob eine Technisierung der eigenen Häuslichkeit der beste oder einzige Weg einer bedarfsgerechten Versorgung ist. Wenn etwa Sensor- und Monitoringtechnologien in der eigenen Häuslichkeit älterer Personen genutzt werden, um ihnen ein möglichst langes Leben außerhalb von Pflegeeinrichtungen zu unterstützen, muss das nicht im Sinne der Betroffenen sein. In vielen Fällen wäre eine persönliche Betreuung, etwa durch ambulante Pflege die bedarfsgerechte, wenn auch kostenintensivere Variante. Hier besteht die Gefahr, dass Technik als Mittel der Kostenreduktion die tatsächlichen Bedarfe von Patientinnen und Patienten überdeckt.
Conclusio
KI-Anwendungen werden die Medizin in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Dieser Prozess hat bereits begonnen. In welcher Hinsicht sich die Medizin verändern wird, ob zum Besseren oder Schlechteren, ist nicht vorbestimmt. In der Technik selbst sind mehrere mögliche Zukünfte angelegt. Es kommt darauf an, auf den Ebenen Entwicklung, Implementierung und Nutzung der Technologie klare Ziele zu definieren. Welche Funktionen sehen wir als wünschenswert an, welche Rolle soll die KI spielen, welche Rollen wünschen wir uns für Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten? Diese Entscheidungen sollten wir nicht den Technologiekonzernen überlassen.
Auch sollten wir klare Ziele definieren und priorisieren: Best Practice und das Wohl von Patientinnen und Patienten sollten priorisiert werden. Dementsprechend sollten KI-Anwendungen so entwickelt, implementiert und genutzt werden, dass sie ärztliches Handeln unterstützen und die Autonomie von Patientinnen und Patienten fördern. Eine weitgehende Ersetzung von Ärztinnen und Ärzten würde allein dem Ziel der Kostenersparnis dienen. Ein effizienter Umgang mit Ressourcen ist wichtig, doch darf dies nicht auf Kosten von Best Practice und Patientenwohl geschehen. Daher gilt: Prozesse automatisieren, nicht Entscheidungen. Zeitraubende Tätigkeiten delegieren, statt Ärztinnen und Ärzte zu ersetzen. So lässt sich das Potenzial von KI nutzen, die Medizin zum Besseren zu verändern.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
G. Rubeis gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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