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Ärzte Woche

21.02.2022 | Geschichte der Medizin

Die Schrecken nach der Schlacht

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Namen großer Feldherren, die kennen wir. Vom Los der verwundeten Soldaten, von dem, was sie im Lazarett erwartete, wenn sie überhaupt so lange durchhielten, wissen wir nur wenig. Nebiha Guiga wollte das ändern, daher studierte die Historikerin Tagebücher.

Ich war umgeben von Toten und Verwundeten; der Feind schrie und misshandelte mich, vor allem die Italiener .[...] Ich hatte eine kleine Tasche vergessen, die der Kompanie gehörte; sie nahmen sie mir ab und drehten mich um; ich erlitt das Martyrium, da ich nicht sprechen konnte; als ich atmete, kamen die Geräusche durch die Wunde heraus, was mich schrecklich schmerzte. Ich war so wütend, dass ich nach seinem Bajonett griff, aber ich hatte keine Kraft, es zu benutzen, also schlug er mich und ging. Ich habe die Nacht damit verbracht, mich an einen Toten zu lehnen; der Durst hat mich am meisten leiden lassen: Ich pisste mir oft in die Hand und trank.

Der Bericht des aus Lüttich stammenden Leutnants Pierre-Martin Pirquet veranschaulicht, was einem Soldaten blühte, der verwundet war und auf dem Schlachtfeld zurückblieb. Pirquet kämpfte am 3. Mai 1809 in der Schlacht von Ebelsberg bei Linz in Hillers österreichischem Korps gegen die Truppen von Napoleons Marschall André Masséna. Pirquet wird von der Kugel eines französischen Grenadiers in die Brust getroffen. Der Leutnant bleibt die Nacht über liegen, wird für tot gehalten, von napoleonischen Soldaten geplündert und entkleidet. Pirquet wird am Morgen des 4. Mai von einem (anderen?) französischen Grenadier gerettet, der ihn mit Hilfe von Zivilisten in die Ambulanz bringt, wo er seinen ersten Verband erhält.

Hier wird es für Dr. Nebiha Guiga so richtig interessant. Die französische Historikerin verfolgt den Feldzug 1809 entlang der Donau und stützt sich für ihre Perspektive von unten auf eine Vielzahl französischer und österreichischer Archivquellen und zeitgenössischer Augenzeugenberichte. Sie fragt nach den Erfahrungen der Soldaten auf beiden Seiten, den Problemen der Feldärzte und den Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung. Guigas spezielles Interesse gilt der Versorgung von im Kampf verwundeten Soldaten. Das Fallbeispiel hat sie im glücklicherweise erhaltenen „Journal de Campagne de Pierre-Martin Pirquet, Officier au Service de l’Autriche“ entdeckt. Pirquet beschreibt die Überlastung der Ambulanz, wo er sieht, wie einige seiner Kameraden, ebenfalls Gefangene, aus Mangel an Pflege sterben.

Er verbringt einige Tage im Krankenhaus, wo er von „garçons barbiers“ behandelt wird, in einem Bett, das von dem zuvor dort verstorbenen Verwundeten noch schmutzig ist. Sein Status als Offizier und Adliger ermöglicht es ihm, von einer Baronin aus Linz gerettet zu werden, die ihn bei einer bürgerlichen Familie in der Stadt unterbringt, und er wird von einem Zivilchirurgen behandelt. Die vollständige Behandlung dieser schweren Wunde dauert vier Jahre, wobei während dieser Zeit immer wieder Splitter austreten.

Die ungewöhnlich detaillierten Berichte, die Guiga für ihre Forschungen auswertet, sind eine Antwort auf die zeitlose Frage: Wie war es wirklich?

Originalpublikation. Nebiha Guiga, Die Versorgung im Kampf verwundeter Soldaten im napoleonischen Europa (1805-1813), 2021: Promotion in Geschichte an der EHESS Paris und Universität Heidelberg, DOI: 10.11588/heidok.00029958

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Metadaten
Titel
Die Schrecken nach der Schlacht
Publikationsdatum
21.02.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 8/2022

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