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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 6/2023

Open Access 13.11.2023 | Psychiatrie

Eine neue Methode körperbasierter Psychotherapie mittels Selbstberührungen: Idiopraxie®

verfasst von: Mag. Mag. Dr. Markus Böckle, MSc, Peter Cubasch, MSc

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 6/2023

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Zusammenfassung

Die Verbindung von Psyche und Körper ist, wie bei der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen, seit Entwicklung der Psychotherapie ein zentrales Thema. In den letzten Jahren zeichnet sich eine deutliche Fokussierung und Erweiterung leibtherapeutischer Intervention ab. Achtsamkeitsbasierte Psychotherapien, Yoga und viele weitere körperzentrierte Psychotherapieformen im Sinne des „Embodiments“ werden immer häufiger von allen psychotherapeutischen Clustern angewendet. In dieses sich entwickelnde Feld fügt sich die Methode Idiopraxie® ein. Sie zielt darauf ab, die körperliche Selbstwahrnehmung und Selbstregulation durch intentionale Selbstberührung zu fördern. Dieser Artikel beschreibt erstmalig Idiopraxie® als innovative leibtherapeutische Intervention in der Psychotherapie. Sie bietet vielversprechende Möglichkeiten, die Integration von Körper und Geist in der therapeutischen Praxis zu verbessern. Ihr Einfluss auf das psychosomatische Wohlbefinden und ihre Übereinstimmung mit zeitgenössischen Trends in der Psychotherapie unterstreichen die Bedeutung weiterer Forschung und Erkundung der Idiopraxie®.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Seit Beginn der Psychotherapie [1] ist die Psychosomatik z. B. bei dissoziativen und somatischen Belastungsstörungen [2] ein wichtiger Arbeitsschwerpunkt. Seither werden psychotherapeutische Interventionen, die Embodiment – die notwendige Verbindung von Körper und Geist – ins Zentrum ihres Behandlungsansatzes setzen, immer relevanter und anwendbarer [35]. Für diese bewegungs- und körperkonzentrierten Techniken ebnete die Gymnastik des frühen 19. Jahrhunderts den Weg [3]. Achtsamkeits- [6] und yogabasierte Ansätze [7] in der Verhaltenstherapie sind nur wenige Beispiele für die breite Anwendung leibtherapeutischer Interventionen.
Bei all diesen leibtherapeutischen Ansätzen ist der Tastsinn die wichtigste und fundamentalste Sinneswahrnehmung [8]. Haptische und taktile Wahrnehmungen sind grundlegend, um uns selbst als von der Umwelt abgrenzbare individuelle Person und Körper, als physische Einheit, als zeitlich und dreidimensional existierenden Organismus zu erleben – kein anderer Sinnesbereich trägt substanzieller zu dieser Selbsterkenntnis bei [9]. In den letzten Jahren erschienen zahlreiche wissenschaftliche Publikation zur Haptik und deren zentrale Funktion für Körperschema, Körperbild, Affekt- und Selbstwertregulation wurde vor allem durch die Erforschung von Fremdberührungen bestätigt [10, 11]. Trotz starker wissenschaftlicher Tätigkeit zur Fremdberührung ist die Selbstberührung bislang weitgehend unerforscht. Dies könnte an der langjährigen Annahme liegen, dass Selbstberührungen gefiltert werden, um nicht von den damals als wichtiger erachteten Informationen aus der Umwelt abgelenkt zu werden [12]. Inzwischen zeigen jedoch zahlreiche Studien, dass die spontane und meist unbewusste Selbstberührung vor allem in unangenehmen Situationen der Emotionsregulation dient [13] und Selbstberührung teilweise durch Verstärkung intensiver wahrgenommen wird als Fremdberührung [14]. Mit der Entwicklung der Idiopraxie® und deren wissenschaftlichen Erforschung an der Medizinischen Universität Graz in Kooperation mit Jolana Wagner-Skacel und Sabrina Mörkl sowie der Universität Zürich und der University of British Columbia in Zusammenarbeit mit Clare Killikelly rückt die intentionale Selbstberührung in den Fokus neuer körperpsychotherapeutischer Interventionen; ihr Potenzial wird als evolutionär entwickelte [15] und ontogenetisch früh angewendete [16] Selbstregulation systematisch für eine leibtherapeutische Intervention in der Psychotherapie nutzbar gemacht.
Selbstberührung bislang weitgehend unerforscht
Die Idiopraxie® basiert auf den Erkenntnissen von Grunwald und zahlreichen weiteren Wissenschaftler:innen im Bereich der taktilen und haptischen Berührungsforschung [8] sowie körperpsychotherapeutischer Ansätze [35, 17, 18]. Der Begriff leitet sich von idios (griechisch: selbst, eigen) und praxis (griechisch: das Tun) ab. Idiopraktische Interventionen fördern die Selbstwahrnehmung und Selbstregulation durch direkte körperliche Selbstberührungen. Idiopraxie® konzentriert sich entsprechend der klientenzentrierten [19] und gestalttherapeutischen [20] Psychotherapie auf den gegenwärtigen Moment und die unmittelbare körperliche Erfahrung [17]. Die körperliche Selbstwahrnehmung – und somit die Arbeit an Körperbild und Körperschema durch Selbstberührung – bildet das Herzstück des Ansatzes und stellt einen bedeutenden Aspekt dar, der für die psychotherapeutische Praxis von zentraler Relevanz ist. In der Idiopraxie® geht es darum, dass Individuen bewusst ihre körperliche Präsenz wahrnehmen, ihre Empfindungen interpretieren und aufgrund dieser Empfindungen gezielte Handlungen ausführen. Wie bei anderen körperpsychotherapeutischen Interventionen liegt der Fokus auf der körperlichen Selbstwahrnehmung, um den Zugang zu tief liegenden Emotionen und unbewussten Prozessen zu erleichtern. Durch die Fokussierung auf den Körper können Klient:innen eine direktere Verbindung zu ihren inneren Empfindungen herstellen, die oft durch verbale Ausdrucksweisen allein nicht erfasst werden können. Dies ermöglicht es, verborgene Konflikte, Ängste und Bedürfnisse ans Licht zu bringen und einen offenen Dialog zwischen dem bewussten und dem unbewussten Selbst zu fördern.
Arbeit an Körperbild und Körperschema durch Selbstberührung
Die körperliche Selbstwahrnehmung bietet auch einen handlungsorientierten Ansatz, um mit psychischen Herausforderungen umzugehen. Indem Klient:innen gezielt auf ihre körperlichen Empfindungen reagieren, können sie Selbstregulationsmechanismen aktivieren, die zur Stressreduktion und zur Förderung des emotionalen Gleichgewichts beitragen. Dieser Ansatz eröffnet neue Wege, um mit belastenden Gedanken und Emotionen umzugehen, und unterstützt die Klient:innen dabei, ihre eigenen Ressourcen zur Bewältigung von Schwierigkeiten zu nutzen. Insgesamt verdeutlicht das Konzept der körperlichen Selbstwahrnehmung die Potenziale einer ganzheitlichen psychotherapeutischen Herangehensweise, die die körperliche Dimension des Selbst miteinbezieht.
Angesichts der vielversprechenden Ansätze und Möglichkeiten der Idiopraxie® ist es von großer Bedeutung, ihre Erkundung und Anwendung in der therapeutischen Praxis voranzutreiben und wissenschaftlich zu beforschen. Die Integration dieser Methode könnte nicht nur die Wirksamkeit bestehender Therapieansätze verstärken, sondern auch neue Impulse für die körperbasierte Psychotherapie setzen. Therapeut:innen sind eingeladen, die Idiopraxie® in ihre Arbeit zu integrieren, ihre Effekte zu erforschen und Erfahrungen auszutauschen. Das gemeinsame Engagement der Forschenden und Praktizierenden soll dazu beitragen, die Idiopraxie® als wertvolles Werkzeug zur Förderung der Selbstwahrnehmung, Regulation und persönlichen Entwicklung zu etablieren.

Fazit für die Praxis

  • Die Methode Idiopraxie® stellt eine innovative leibtherapeutische Intervention in der Psychotherapie dar und fokussiert auf die körperliche Selbstwahrnehmung durch intentionale Selbstberührung.
  • Die Integration von Körper und Geist in der therapeutischen Praxis kann durch Idiopraxie® verbessert werden, was zu einer tieferen Selbstregulation und Selbstwahrnehmung führt.
  • Die körperliche Selbstwahrnehmung bietet einen handlungsorientierten Ansatz, um mit psychischen Herausforderungen umzugehen und verborgene Konflikte, Ängste und Bedürfnisse zu erkennen.
  • Therapeut:innen und Wissenschaftler:innen können die Idiopraxie® in ihre Arbeit integrieren, um die Methode als wertvolles Werkzeug in der Psychotherapie zu etablieren.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Böckle und P. Cubasch geben an, dass sie die Methode Idiopraxie® entwickelt haben. Auf Grund ihrer engen Verbindung zur Entwicklung und Förderung dieser Methode könnten potenzielle Interessenskonflikte bestehen.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
18.
Zurück zum Zitat Petzold H (1996) Integrative Bewegungs- und Leibtherapie: ein ganzheitlicher Weg leibbezogener Psychotherapie. Jungfermann Petzold H (1996) Integrative Bewegungs- und Leibtherapie: ein ganzheitlicher Weg leibbezogener Psychotherapie. Jungfermann
20.
Zurück zum Zitat Gaines J (1979) Fritz Perls, here and now. Celestial Arts Gaines J (1979) Fritz Perls, here and now. Celestial Arts
Metadaten
Titel
Eine neue Methode körperbasierter Psychotherapie mittels Selbstberührungen: Idiopraxie®
verfasst von
Mag. Mag. Dr. Markus Böckle, MSc
Peter Cubasch, MSc
Publikationsdatum
13.11.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 6/2023
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-023-00957-2

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