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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 1/2023

Open Access 04.01.2023 | Neurologie

Die Riesenzellangiitis des zentralen Nervensystems

Ein ungewöhnlicher Fallbericht

verfasst von: Dr. Elisabeth Simader, Sigrid Klotz, Romana Höftberger, Klaus Bobacz

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 1/2023

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Zusammenfassung

Die Vaskulitis des zentralen Nervensystems (ZNS) ist eine schwierig zu diagnostizierende Erkrankung, die sich oft hinter unspezifischen Symptomen versteckt. Biomarker können bei der Diagnosefindung hilfreich sein, schließen aber bei Fehlen die Erkrankung nicht aus. Wir berichten über einen 36-jährigen Patienten, der sich klinisch mit Schwindel und langsam aggravierenden Kopfschmerzen präsentierte. Nach einem Sturz über eine Treppe wurde eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Schädels durchgeführt, die eine Raumforderung (RF) parietookzipital und eine Kontrastmittelanreicherung der Gefäße zeigte. Da zunächst der Verdacht einer malignen Erkrankung im Raum stand, wurde eine Gehirnbiopsie durchgeführt, die eine Einwanderung von Entzündungszellen in die Gefäßwände mit Formierung von Riesenzellen ergab. Zunächst erhielt der Patient neben Glukokortikoiden eine Therapie mit Cyclophosphamid und konsekutiv Mycophenolat mofetil als Erhaltungstherapie. Darunter kam es anfänglich zu einer klinischen Verbesserung und Regredienz der Vaskulitiszeichen im MRT. Im weiteren Verlauf kam es jedoch zu einem flare-up, sodass eine Therapieumstellung auf einen Interleukin-6-Inhibitor erfolgte, wobei die Riesenzellinfiltrate die Grundlage für die Therapieentscheidung waren. Unglücklicherweise führte diese Medikation zu keiner Verbesserung der Symptomatik, weswegen der Patient letztlich eine Therapie mit einem Tumornekrosefaktor-α-Inhibitor (TNF-Inhibitor) erhielt. Damit besserten sich die Beschwerden des Patienten und die RF imponierte im Schädel-MRT regredient. Dieser Fall zeigt, dass bei jungen Patient:innen mit unspezifischen neurologischen Symptomen eine Vaskulitis differenzialdiagnostisch stets in Betracht gezogen werden muss.
Hinweise
Literatur bei den Verfassern.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Die Vaskulitis des zentralen Nervensystems (ZNS-Vaskulitis) ist eine seltene, autoimmunologische Erkrankung, die in eine primäre und sekundäre Form (als Ausdruck einer systemischen Grunderkrankung) unterteilt werden kann. Bisher konnte kein Serumbiomarker gefunden werden, der eine ausreichende Spezifität oder Sensitivität zur Diagnosestellung aufweist. Daher bleibt die Diagnosestellung bislang von einer sehr genauen Anamnese, klinischen Untersuchung und der Aufmerksamkeit der betreuenden Ärzt:innen abhängig. Eine Bildgebung mittels Schädel-MRT sollte stets angestrebt werden, um die Verdachtsdiagnose zu untermauern oder auszuschließen. Einschränkend muss hier erwähnt werden, dass die Aussagekraft der MRT abhängig ist von der Expertise der befundenden Radiolog:innen und Durchführung der korrekten Sequenzen. Hier ist v. a. die sogenannte Black-blood-Sequenz zu nennen, die das Detektieren einer zerebralen Vaskulitis oft vereinfacht.
Im MRT-Bild wird vor allem auf Verdickungen der Gefäßwände und die dortige Kontrastmittelanreicherung als Zeichen einer Inflammation und Einwanderung von Entzündungszellen geachtet. Bei weiterhin unklaren Verhältnissen kann als letzte Instanz der Diagnostik die Biopsie der zuvor in der Bildgebung auffälligen Läsion veranlasst werden. Der bioptische Nachweis einer Vaskulitis kann als beweisend gesehen werden. Natürlich ist aufgrund der Lage der Läsionen eine Biopsie bisweilen schwierig und manchmal auch nicht möglich. Letztlich bleibt für die Patientin/den Patienten stets ein gewisses Komplikationsrisiko. Eine Gehirnbiopsie sollte zur optimalen feingeweblichen Beurteilung jedenfalls Leptomeningen, Dura, weiße Substanz und Kortex enthalten.
Falls Klinik und Bildgebung keine Diagnose erlauben: Biopsie andenken
Die Pathophysiologie hinter primären ZNS-Vaskulitiden ist noch nicht ausreichend erforscht und derzeit noch unklar. Es wird spekuliert, dass Infekte wie z. B. Varizellen ein möglicher Auslöser der autoimmunologischen Antwort sind. Von der primären ZNS-Vaskulitis abzugrenzen sind sekundäre Vaskulitiden im Rahmen einer autoinflammatorischen Systemerkrankung. Besonders bei jungen Patient:innen mit Schwindel, Insulten ohne Risikofaktoren oder Zeichen einer rheumatologischen Erkrankung wie Raynaud-Syndrom, Arthritis, Lungen- oder Nierenbeteiligungen, Veränderungen sowie erhöhten Entzündungsparametern oder Pleozytose in der Liquorpunktion sollte an eine sekundäre Angiitis gedacht werden. Bei der Differenzialdiagnose einer Vaskulitis sollte auch eine periphere Nervenbeteiligung (Mononeuritis multiplex) untersucht werden, die u. a. bei der eosinophilen granulomatösen Polyangiitis (EGPA) eine Rolle spielt. Auch eine Laboranalyse mit Antinukleären Antikörpern (ANA), Komplementfaktoren und antineutrophile zytoplasmatische Antikörper (ANCA) sollte bei unklarer Diagnose erfolgen. Die ANA sind besonders wichtig in der Diagnose eines Lupus erythematodes, der auch eine ZNS-Vaskulitis auslösen kann. Die ANCA hingegen können auf eine granulomatöse Polyangiitis oder Polyarteriitis nodosa hinweisen, wobei negative Antikörper die Erkrankung wiederum nicht ausschließen. Auch eine zerebrale Beteiligung im Rahmen eines Morbus Behçet ist als sekundäre Vaskulitis zu bedenken, wobei hier vor allem die venösen Gefäße betroffen sind. Zu guter Letzt sind hier auch die Vaskulitiden der großen Gefäße zu erwähnen, die Takayasu-Arteriitis und die Riesenzellarteriitis.
Vor Biologika-Beginn: tuberkulostatische Prophylaxe bei positivem Quantiferon-Test
Bei der Riesenzellarteriitis kommt es durch die vermehrte Ausschüttung von Interferon- und Granulozyten-Makrophagen-Kolonie-stimulierendem Faktor (GM-CSF) zur Anlockung und Migration von Entzündungszellen in die Gefäßwand. Die eingewanderten Makrophagen schütten wiederum proinflammatorische Zytokine aus, die zu einem entzündlichen Umbau der Gefäßwand und Gefäßwandverdickung führen. Es kommt zu einer Umwandlung der eingewanderten Makrophagen zu Riesenzellen und in weiterer Folge Verengung des Lumens bis hin zum Verschluss des Gefäßes. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung sind Studien mit großen Patientengruppen schwierig durchzuführen. Therapeutische Möglichkeiten, diese Entzündungsreaktion zu unterdrücken, sind Glukokortikoide als Akuttherapie und unter anderem eine Therapie mit einem Interleukin-6-Inhibitor. Eine Therapie mit TNF-α-Inhibitoren zeigte bei Riesenzellarteriitis keinen Therapieerfolg, ist aber eine mögliche Therapieoption in der Takayasu-Arteriitis. Wobei hier die Forschung zukünftig auf neue Therapieformen hoffen lässt, wie z. B. die Januskinase-Inhibitoren oder der anti-GM-CSF-Inhibitor Mavrilimumab, welche derzeit für den klinischen Einsatz evaluiert werden.
Eine wichtige Differenzialdiagnose ist das reversible, zerebrale Vasokonstriktionssyndrom. Weitere nichtinflammatorische Vaskulopathien wie Morbus Fabry, Sneddon-Syndrom oder die Moyamoya-Erkrankung sind ebenfalls auszuschließen.

Fallbericht

Wir berichten über den Fall eines jungen Mannes, der sich in Bezug auf die Entwicklung und den Verlauf als besonders bezeichnen lässt. Der Patient entwickelte im Alter von 36 Jahren unspezifische neurologische Symptome mit Kopfschmerzen und Schwindel. Zudem berichtete der Patient über Phantomgeräusche. In den initialen Schädel-CT-Untersuchungen fanden sich keine Auffälligkeiten. Nachdem es anfänglich zu keiner signifikanten Aggravierung der Symptome kam, erfolgten keine Verlaufskontrollen, bis ein Jahr später der Schwindel so stark wurde, dass der Patient zu Hause über eine Treppe stürzte und es zu einer Kleinhirnblutung links sowie einer Orbita- und Kieferhöhlenfraktur kam, die neurochirurgisch versorgt wurden. Im nun durchgeführten Schädel-MRT fand sich eine Raumforderung rechts okzipital, die sich in der Verlaufskontrolle (i.R. der Nachsorge) größenprogredient zeigte und sich nunmehr von okzipital bis temporal reichend vom Hinterhorn bis an die Lateralseite des Unterhorns ausbreitete. Die Schwindelsymptomatik blieb weiter bestehen. Da die Raumforderung zunächst als suspekt auf einen malignen Prozess interpretiert wurde, entschied man sich zur Biopsie. In der histologischen Aufarbeitung des Biopsats fand sich letztlich eine granulomatöse Vaskulitis mit Riesenzellen und deutlicher inflammatorischer Infiltration der Gefäße (Abb. 1). Eine Glukokortikoidtherapie wurde eingeleitet gefolgt von i.v. Cyclophosphamid. Danach erhielt der Patient Mycophenolat mofetil als Erhaltungstherapie.
TNF-Inhibitoren sind bei ZNS-Vaskulitis nicht erste Wahl, können aber effektiv sein
Nach anfänglicher Besserung der Kopfschmerzen und des Schwindels wurde der Patient in die ambulante Versorgung entlassen. Allerdings kam es nach Dosisreduktion der Glukokortikoidmedikation zu einem Wiederaufflammen der Vaskulitisaktivität mit Verschlechterung der klinischen Symptome. Zu diesem Zeitpunkt wurde der Patient an unsere Abteilung übernommen. Auf Basis des Histologiebefundes entschlossen wir uns zu einer Therapie mit dem Interleukin-6-Rezeptor-Blocker Tocilizumab. Bei positivem Quantiferon-Test (Routineuntersuchung vor Biologikatherapiebeginn) ohne Hinweis auf aktive Tuberkulose erhielt der Patient eine Isoniazid-Prophylaxe nach Standardschema und Vitamin-B-Komplexe als Begleitmedikation.
Im Laufe des Folgejahres fand sich MR-tomographisch eine Regredienz der Läsion okzipitoparietal, die klinische Symptomatik besserte sich. Doch bereits im Jahr darauf klagte der Patient über zunehmende Kopfschmerzen, das Schädel-MRT (Abb. 2) zeigte in den Black-blood-Sequenzen neu aufgetretene vaskulitisassoziierte intraparenchymale fokale Kontrastmittelaufnahmen mit bis zu 5 mm Durchmesser. Zudem fand sich eine wandständige Kontrastmittelaufnahme der A. temporalis rechts, der A. vertebralis bds. und der ACI. Auch kam es zu vaskulitisassoziierten leptomeningealen Enhancements rechts temporal und okzipital links sowie duraler Kontrastmittelanreicherung tentoriell bds.
Nach Cyclophosphamid- und Tocilizumab-Therapieversagen wurde nun eine B‑Zell-depletierende Therapie mit Rituximab bzw. eine Therapie mit einem Tumornekrosefaktor-α-Inhibitor (TNF-Inhibitor) als Therapieoptionen diskutiert. Gegen eine Rituximab-Therapie sprachen die negativen ANCA-Befunde und die durch die Endoxan-Therapie bereits reduzierte B‑Zellzahl (in der Leukozytentypisierung lediglich 3 % B‑Zellen). Schlussendlich wurde eine Infliximab-Medikation begonnen, worunter es bis heute zu einer mittlerweile langfristigen Remission kam. Der Patient beschrieb lediglich vereinzelte (3–4 wöchentlich) kurze Phasen (Minuten) von geringgradigst ausgeprägten Kopfschmerzen. Im Verlaufs-MRT fand sich kein Nachweis einer Vaskulitis und das punktförmige supratentorielle intraparenchymale Enhancement zeigte sich vollständig regredient.

Schlussfolgerung

Die ZNS-Vaskulitis ist eine sehr schwer zu diagnostizierende Erkrankung, für deren Diagnose man alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bis hin zur Gehirnbiopsie ausschöpfen sollte, da die Klinik allein oft zu unspezifisch ist und Serumbiomarker, wie erhöhte Blutsenkung oder CRP, nur hinweisgebend sind. Was die Bildgebung betrifft, so sollte anstatt oder additiv zu einer CT-Untersuchung unbedingt eine MRT-Untersuchung (idealerweise mit Vaskulitis-Protokoll) durchgeführt werden. Diese Untersuchung eignet sich auch sehr gut als Verlaufskontrolle in der ambulanten Betreuung der Patient:innen.

Fazit für die Praxis

  • Patient:innen mit persistierenden neurologischen Symptomen, die nicht anderweitig erklärbar sind, sollten einer vertieften Abklärung zugeführt werden.
  • Negative Antikörper oder unauffällige Entzündungsparameter schließen eine aktive ZNS-Vaskulitis nicht aus.
  • Ein Schädel-MRT sollte stets erfolgen. Als letzte Instanz kann auch über eine Biopsie nachgedacht werden. Therapeutisch steht zur Behandlung der ZNS-Vasculitis ein beträchtliches Armamentarium zur Verfügung, wobei wir bisweilen um das Prinzip des „trial and error“ nicht herumkommen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

E. Simader, S. Klotz, R. Höftberger und K. Bobacz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Die Riesenzellangiitis des zentralen Nervensystems
Ein ungewöhnlicher Fallbericht
verfasst von
Dr. Elisabeth Simader
Sigrid Klotz
Romana Höftberger
Klaus Bobacz
Publikationsdatum
04.01.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 1/2023
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-022-00883-9

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