Einleitung
In der Psychiatrie kommt es aufgrund der fortschreitenden medizinischen Diagnostik zunehmend zur Vorstellung von Patienten mit vorbekannten genetischen Befunden bzw. mit positiver Familienanamnese und psychiatrischen Symptomen. Da damit meist auch somatische Beschwerden verbunden sind, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zur optimalen Patientenversorgung von großer Bedeutung. In einer Zeit des zunehmenden Ressourcenmangels sollte eine frühzeitige gemeinsame Verständigung mit den anderen Fachrichtungen und Koordination der Weiterbehandlung erfolgen.
1. Fallvignette: TLK2-Mutation
Eine junge Frau, Anfang zwanzig, mit chronischen abdominellen Beschwerden wird zur psychiatrischen Begutachtung vorstellig. Vorbekannt sind eine TLK2-Mutation (Tousled-Like-Kinase-2), eine Nikotinabhängigkeit sowie multiple chirurgische Interventionen in der Anamnese.
Allgemeine Beschreibung des Phänotypus der TLK2-Mutation
Der Phänotyp von Personen mit einer TLK2-Mutation weist eine leichte grenzwertige neurologische Entwicklungsverzögerung (86 %), Verhaltensstörungen (68 %), schwere Magen-Darm-Problematik (63 %) und faziale Dysmorphien einschließlich Blepharophimose (82 %), Telecanthus (74 %), einen prominenten Nasenrücken (68 %), eine breite Nasenspitze (66 %), dünnes Rot der Oberlippe (62 %) und ansteigende Lidspalten (55 %) auf. Eine Haploinsuffizienz von TLK2 dürfte wahrscheinlich als zugrunde liegender Krankheitsmechanismus zu einem konsistenten neurologischen Entwicklungsphänotyp führen. Rejinders et al. [
1] konnten 40 Personen aus 26 verschiedenen Zentren in 7 verschiedenen Ländern mit diesem Phäno- und Genotyp identifizieren. Mit einer geschätzten Prävalenz von ∼ 1/566 (17/9625) von TLK2-Varianten bei Probanden, die für diese Studie rekrutiert wurden, ist zu erwarten, dass weltweit eine größere Anzahl von Personen mit TLK2-Varianten vorhanden ist. Ein noch umfangreicherer Datenaustausch als in dieser Studie wird erforderlich sein, um die TLK2-Mutationen mit klinischen Entwicklungsstörungen zu identifizieren. Durch die Analyse von drei Zelllinien betroffener Personen konnten Rejinders et al. [
1] bestätigen, dass mindestens zwei Varianten über einen heterozygoten Funktionsverlustmechanismus (Haploinsuffizienz) wirken. Die Phänotypen dieser Personen und anderer mit vergleichbaren Funktionsverlustvarianten überlappten signifikant mit Phänotypen von Personen mit anderen Variantentypen, was weitere Beweise für den zugrunde liegenden Krankheitsmechanismus der TLK2-Varianten liefert. Angesichts der genetischen und funktionellen Ähnlichkeiten zwischen TLK2 und TLK1 sollte sich die weitere Forschung auf die potenzielle Rolle von TLK1-Mutationen bei Entwicklungsstörungen konzentrieren.
2. Fallvignette: Heterozygoter Genträger für Morbus Canavan
Eine Patientin im mittleren Lebensalter mit maniformem Zustandsbild und einer bekannten bipolaren Störung kommt zur psychiatrischen Begutachtung. Aus der Familienanamnese ist bekannt, dass Geschwister im älteren Teenageralter an Morbus Canavan verstorben sind.
Morbus Canavan: Lithium als mögliches Therapeutikum
Die Patientin ist bezüglich eines Canavan-Gens heterozygot.
Allgemeine Beschreibung des Phänotypus des Morbus Canavan
Der Morbus Canavan gehört zu den genetisch verursachten Leukodystrophien. Ursächlich ist eine Mutation auf dem kurzen Arm des Chromosoms 17. Durch den Mangel des Enzyms Aspartoacylase kommt es zur abnormalen Akkumulation von N‑Acetylaspartat (NAA) in der weißen Substanz des Gehirns. Dies führt zu Myelinverlust und Degeneration der weißen Substanz mit spongiöser Umstrukturierung. Bei homozygoter Trägerschaft kommt es zu psychomotorischer Entwicklungsstörung (fehlende Kopfkontrolle, muskuläre Hypotonie) und ein Makrozephalus kann die Folge sein. Neurologische Symptome bestehen vor allem auf motorischer Ebene, zerebrale Krampfanfälle werden ebenfalls beschrieben. Typische radiologische Befunde sind Läsionen der subkortikalen weißen Substanz von Groß- und Kleinhirn, eine zentripetale Schädigungsausbreitung der weißen Substanz sowie ein Befall von Globus pallidus und Thalamus unter Aussparung von Putamen und Nucleus caudatus. Zur Morbus-Canavan-Diagnosesicherung erfolgt der Nachweis von stark erhöhtem NAA im Harn.
Zwei Formen des Morbus Canavan können unterschieden werden:
1.
Angeborener Morbus Canavan: Symptome ab der Geburt, Lebenserwartung: wenige Tage bis Wochen
2.
Juveniler Morbus Canavan: verspätetes Auftreten und langsamere Progression, Lebenserwartung: oft bis ins 2. Lebensjahrzehnt
Therapeutische Möglichkeiten in neuem Licht
Interessant in diesem Zusammenhang sind Befunde von Solsona et al. [
2], die Lithium als mögliches Therapeutikum für Morbus Canavan nahelegen. Gegenwärtig gibt es keine Heilung für diese Krankheit und es werden hauptsächlich die Symptome der Patienten behandelt. Solsona et al. [
2] beschreiben ein 3 Monate altes Mädchen, das wegen schlechter Kopfkontrolle und vermindertem Muskeltonus ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Eine Reihe von Labor- und Genanalysen (homozygote Mutation p.C218X) ergaben das Vorhandensein der Canavan-Krankheit. Lithiumcitrat wurde mit einer Dosierung von 45 mg/kg pro Tag nach der Diagnose begonnen. Regelmäßige Kontrollen der Schilddrüsen- und Leberfunktion sowie des Lithiumspiegels im Blut zeigten, dass diese Medikation sicher und gut verträglich war. Nach 1 Jahr Behandlung sanken die NAA-Spiegel in den untersuchten Gehirnregionen um etwa 20 %, die NAA-Spiegel im Urin zeigten eine Verringerung um 80 % und die Patientin verbesserte ihre Wachheit und visuelle Kontrolle. Angesichts des Fehlens von schweren Nebenwirkungen und begrenzter Behandlungsoptionen wird von der Arbeitsgruppe Lithiumcitrat jedoch als eine gute Alternative gesehen, um das Fortschreiten der Krankheit zu stoppen und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern.
Die Assoziation der heterozygoten Trägerschaft mit dem Bild der bipolaren Störung, wo Lithium als Therapeutikum bereits etabliert ist, lässt die therapeutischen Möglichkeiten in neuem Licht erscheinen. Vor allem aufgrund der Häufigkeit von heterozygoten Trägern eines Canavan-Gens in der Bevölkerung von 1:300 bis 1:400 erscheint auch mehr Forschung in diesem Bereich als wünschenswert.
3. Fallvignette: Familiäre Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
Ein Ende 60-jähriger Mann kam nach seinem erstmaligen Suizidversuch und nach unfallchirurgischer Versorgung zur psychiatrischen Begutachtung. Familienanamnestisch war eine väterliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK) vorbekannt, der Patient selbst bekannter familiärer CJK-Mutationsträger. Anamnestisch sind rezidivierende psychotisch wahnhafte Episoden bekannt, letztendlich erfüllt der Patient Demenzkriterien. Es präsentiert sich ein ängstlich-depressiver Patient mit Einschlafstörungen, schweren kognitiven Leistungseinbußen in Exekutivfunktionen, Sprache und Gedächtnis sowie anamnestisch rezidivierenden psychotisch-wahnhaften Episoden im Sinne einer Demenz. Eine neurologische Mitbehandlung und eine Erwachsenenvertretung wurden initiiert.
Allgemeine Beschreibung des Phänotypus
Bei dieser, auch als spongioforme Enzephalopathie bekannten Prionenerkrankung kommt es aufgrund einer Mutation des Prion-Protein-Gens zu fehlerhaften Eiweißablagerungen mit zerebralen Verklumpungen, die letztendlich zu einer Neurodegeneration mit dem radiologischen Bild einer schwammartigen, löchrigen Struktur führt.
Es gibt 4 Formen der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit: 1. sporadisch (sCJK), 2. familiär (fCJK), 3. iatrogen (iCJK) und eine 4. Variante (vCJK).
Bei der Meldepflicht ist eine Differenzierung von Creutzfeldt-Jakob-Krankheit hinsichtlich familiärer Belastung bzw. der Variante wünschenswert.
4. Fallvignette: Prader-Willi-Syndrom
Ein psychiatrisch vorbekannter Patient mit einer schizoaffektiven Störung und einem Prader-Willi-Syndrom wird von seiner Betreuungseinrichtung zur medikamentösen Therapieoptimierung aufgrund zunehmender Wutanfälle zur ambulanten Begutachtung ins Spital transferiert. Familienanamnestisch ist beim Bruder ebenfalls ein Prader-Willi-Syndrom erhebbar.
Der Patient ist intermittierend stationär auf der Erwachsenenpsychiatrie, wenn er selbst und/oder sein regelmäßig betreuendes Umfeld überlastet ist, sowie zum medizinischen Check-up hinsichtlich der somatischen Beschwerden einhergehend mit dem Prader-Willi-Syndrom.
Allgemeine Beschreibung des Phänotypus
Das Prader-Willi-Syndrom ist ein Mikrodeletionssyndrom am Chromosom 15, einhergehend mit körperlichen, stoffwechselbezogenen und kognitiven Symptomen, die durch eine Fehlfunktion des Zwischenhirns verursacht werden. Ursächlich ist eine vom Vater unvollständige oder nicht funktionale Genkopie. Folglich kommt es zu einer fehlenden Gonadotropinfreisetzung im Hypothalamus, wodurch eine Störung anderer hormonproduzierender Drüsen (Schilddrüse, Nebennieren, Keimdrüsen) auftreten kann. Klinisch kommt es dadurch zu körperlichen und geistigen Entwicklungsstörungen. Psychiatrisch werden emotionale Instabilität, Wutanfälle und Binge-Eating beschrieben.
5. Fallvignette: Trisomie 13
Ein knapp 30-jähriger Patient wird aus seiner Pflegeeinrichtung mit Verdacht auf Aspirationspneumonie und zur „medikamentösen Optimierung“ ins Krankenhaus eingewiesen.
Anamnestisch ist eine Trisomie 13 zu erheben. Es bestehen eine schwere Intelligenzminderung sowie ausgeprägte Verhaltensstörungen mit auto- und fremdaggressiven Episoden.
Allgemeine Beschreibung des Phänotypus
Die Trisomie 13, auch als Pätau-Syndrom bekannt, ist eine numerische Chromosomenaberration mit einem zusätzlichen Chromosom 13. Zur Folge hat dies eine intellektuelle Behinderung und körperliche Anomalien. Eine phänotypische Symptomtrias mit Mikrozephalie, Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und Hexadaktylie sind zu erwarten. Die optimale Behandlung des Patienten stellt eine große Herausforderung für alle Betreuenden dar. Eine gut geschulte Pflegekraft im Umgang mit Intelligenzgeminderten kann viele schwierige Situationen, in denen es unter anderen Umständen zu selbst- und/oder fremdaggressiven Handlungen kommt, zum Wohle aller meistern.
Fazit für die Praxis
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Aufgrund der fortschreitenden medizinischen Entwicklung, von Wissen über seltene Erkrankungen (orphan diseases), verbesserter Diagnostik und Therapie ist nicht nur in der Psychiatrie mit einer Zunahme der Entdeckung genetisch gesicherter Mutationsträger bei familiärer Vorerkrankung zu rechnen.
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Eine schnelle und gute interdisziplinäre Zusammenarbeit ist erforderlich, um psychische wie auch somatische Folgeschäden zu reduzieren, also möglichst präventive Maßnahmen zu ergreifen.
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Vor allem die Lithiumtherapie, die beim Morbus Canavan zunächst im Tiermodell versucht und auch schon beim Menschen angewandt wurde, lässt die Lithiumtherapie bei bipolarer Störung in neuem Licht erscheinen. Vor allem aufgrund der Häufigkeit der Canavan-Gen-Trägerschaft in der Bevölkerung ist hier eine intensivere Forschung wünschenswert.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.n
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