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Erschienen in: Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz 3/2023

Open Access 17.08.2023 | Gynäkologische Endokrinologie

Die prämature Ovarialinsuffizienz

Was, wenn der letzte Eisprung viel zu früh stattfindet?

verfasst von: Dr. med. Christiane Anthon, PD Dr. med. Alexandra Kohl Schwartz

Erschienen in: Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz | Ausgabe 3/2023

Zusammenfassung

Die prämature Ovarialinsuffizienz (POI) bedeutet für die Patientin einen frühzeitigen Verlust der ovariellen Funktion mit den kurz- und langfristigen Folgen des Östrogenmangels sowie niedrigen Schwangerschaftschancen. Mit einer Prävalenz von 1 % tritt dieses Krankheitsbild selten auf, hat jedoch fatale Auswirkungen für die Betroffenen. Oft stellt sich anfangs die Erkenntnis um die schwierige Situation bezüglich des Kinderwunschs als sehr belastend dar. Im Verlauf haben die Patientinnen dann zunehmend mit den Langzeitfolgen des Östrogenmangels für die kardiovaskuläre, kognitive sowie Knochengesundheit zu kämpfen. Umso wichtiger ist es, die Erkrankung frühzeitig zu diagnostizieren und die Patientinnen adäquat zu behandeln.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Definition und Ursachen

Die prämature Ovarialinsuffizienz (POI) ist definiert als der Verlust der ovariellen Funktion vor dem 40. Lebensjahr. Im Vergleich liegt das mittlere Menopausenalter bei 51 Jahren.
Die Prävalenz liegt bei circa 1 % in der Bevölkerung. In der Altersgruppe unter 30 Jahren liegt die Prävalenz bei 0,1 % [4]. In der Kinderwunschsprechstunde sind diese Frauen aufgrund der Sterilität häufiger anzutreffen.
Verschiedene Mechanismen sind für die prämature Ovarialinsuffizienz verantwortlich: eine vorzeitige Erschöpfung der Eizellreserve, eine verstärkte Follikelatresie, eine erhöhte Aktivierung der Primordialfollikel und die Verhinderung des Eisprungs durch die Beeinträchtigung der Follikulogenese.
Ursächlich kommen chromosomale Auffälligkeiten, immunologische oder idiopathische Ursachen, z. B. Folgen einer Karzinomerkrankung mit Chemotherapie oder Radiatio, infrage.
Bei circa 10–12 % der prämaturen Ovarialinsuffizienzen liegt eine genetische Ursache zugrunde. Meist ist dies eine strukturelle oder numerische Störung im X‑Chromosom, zum Beispiel das Turner-Syndrom. Die Fragiles-X-Prämutation hat eine Prävalenz von 0,8 bis 7,5 % unter den Frauen mit POI. Diese X‑chromosomal dominant vererbte Mutation auf dem langen Arm des X‑Chromosoms bringt bei vollständiger Mutation ein Risiko für eine geistige Behinderung mit sich; bei der Prämutation besteht ein Risiko für eine POI (13–26 %) oder bei männlichen Nachkommen ein Risiko einer mentalen Retardierung. Dabei ist auf genetischer Ebene bei der vollständigen Mutation das Aminosäuretriplett aus Cystein, Guanin, Guanin (CGG) über 200-mal wiederholt, bei der Prämutation liegen die Wiederholungen nur in einem Bereich von 55 bis 200. Pathophysiologische Ursache ist wahrscheinlich eine Toxizität der überexprimierten FMR1-mRNA. Zu den weiteren genetischen Ursachen zählen auch Störungen der Geschlechtsentwicklung mit dem Nachweis von Y‑chromosomaler DNA. Zudem werden familiäre Häufungen beschrieben ohne Nachweis einer bisher bekannten spezifischen Genmutation. In 5 % der Fälle liegt eine autoimmunologische Ätiologie vor; das polyglanduläre Autoimmunsyndrom. Dabei bewirken Autoantikörper gegen das Ovar eine Destruktion des Follikelpools. Gehäuft treten zusätzlich Autoantikörper gegen die Nebennierenrinde als Morbus Addison oder die Schilddrüse in Form einer Hashimoto-Autoimmunthyreopathie auf.
Iatrogene Ursachen für eine prämature Ovarialinsuffizienz sind die radikale Sanierung einer Endometriose vor allem bei Endometriomen mit Destruktion des Restovars [5] oder die Ovarektomie im Rahmen von unterschiedlichen Grunderkrankungen wie zum Beispiel einem Ovarialkarzinom oder Tuboovarialabszess. Auch eine gewisse Assoziation mit dem Lifestyle kann beobachtet werden Untergewicht ist durch Unter‑/Fehlernährung oder exzessiven Sport mit POI assoziiert. Raucherinnen kommen durchschnittlich zwei Jahre früher in die Menopause durch Minderperfusion sowie den toxischen Effekt von Zigarettenrauch durch polyzyklische aromatische Hydrocarbone. Umwelttoxine wie Kunststoffweichmacher, Phthalate in Haarspray und Nagellack oder Pestizide können eine Auswirkung auf die Hormonaktivität haben und in der Folge zu einer Störung der Follikelreifung führen. Umweltgifte können auch auf Ebene der epigenetischen Modifikation eine Veränderung der Methylierung der DNA bewirken und so die Ovarfunktion und Keimzellen beeinflussen [7].
Die Ursachen sind vielfältig und in 85–90 % kann keine Ursache gefunden werden, dann wird von der idiopathischen POI gesprochen [1].

Diagnostik und Klinik

Zu den Diagnosekriterien zählen niedriges Östradiol und erhöhte Gonadotropinlevel entsprechend einem hypergonadotropen Hypogonadismus nach WHO III. Im Konkreten muss das follikelstimulierende Hormon (FSH) laborchemisch zweimalig im Abstand von 4 Wochen > 25 IU/l liegen zusammen mit einer Zyklusstörung in Form einer Amenorrhö oder Oligomenorrhö über mindestens 4 Monate [1]. Das Anti-Müller-Hormon (AMH) ist in der Diagnostik der prämaturen Ovarialinsuffizienz wenig hilfreich. Es wird in den Granulosazellen der Primär- und Sekundärfollikel produziert und fällt bereits circa 5 Jahre vor Eintritt der Menopause unter die Nachweisgrenze. Bei regelmässigen Zyklen kann die Fertilität weiterhin erhalten sein. Bei Verdacht auf eine prämature Ovarialinsuffizienz sollte eine dezidierte Anamnese erfolgen. Die genaue Zyklusanamnese, das Menopausenalter der Mutter oder eine Chemo- oder Radiotherapie in der Kindheit können hinweisend sein. Eine gonadotoxische Chemotherapie mit z. B. Alkylanzien oder eine Bestrahlung im kleinen Becken oder des ZNS mit Schaden an den Ovarien oder der Hypothalamus-Hypophysen-Achse kann eine POI verursachen.
An dieser Stelle soll als kurzer Exkurs auf die Wichtigkeit des Fertilitätserhalts vor einer Chemotherapie, Radiatio oder Operation am Ovar eingegangen werden: Es gibt die Optionen der Kryokonservierung von Oozyten, Ovargewebe oder der Suppression der Ovarfunktion mittels eines GnRH-Agonisten, um die Chancen auf Erfüllung des Kinderwunschs nach Behandlung der Erkrankung zu erhöhen.
Im Rahmen der Diagnostik wird leitliniengerecht [1] empfohlen, eine Chromosomenanalyse, den Ausschluss einer Fragiles-X-Prämutation und die Beurteilung des endokrinen Systems durch Abnahme der 21-Hydroxylase-Autoantikörper bzw. Thyreoperoxidaseantikörper zum Ausschluss eines Morbus Addison oder einer immunologischen Schilddrüsendysfunktion, welche mit einer endokrinen POI vergesellschaftet sein könnten, vorzunehmen [1]. Vor Bestimmung des Karyotyps und der Fragiles-X-Prämutation wird empfohlen, eine Kostengutsprache bei der Krankenkasse zu stellen, da die Kostenübernahme sonst nicht geklärt ist. Im Falle positiver 21-Hydroxylase-Antikörper würde die Zuweisung zur internistischen Endokrinologie mit der Bitte um Mitbeurteilung, ob ein Morbus Addison vorliegt, erfolgen. Bei positiven TPO-Antikörpern würde man jährliche Kontrollen des TSH-Werts empfehlen, um bei manifester Schilddrüsenerkrankung therapeutisch einwirken zu können.
Klinisch zeigt sich das Bild einer Östrogenmangelsituation mit den typischen menopausalen Beschwerden wie Zyklusstörungen, V. a. Amenorrhö, Oligomenorrhö, Hitzewallungen, Schlafstörungen, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsstörungen, Libidoverlust, vaginaler Atrophie, rezidivierenden Harnwegsinfekten sowie deren Langzeitfolgen auf die kardiovaskuläre, kognitive und Knochengesundheit. Unerfüllter Kinderwunsch zählt zu einem der Hauptsymptome. Die spontane Schwangerschaftsrate der prämaturen Ovarialinsuffizienz aufgrund der Restovarfunktion ist mit circa 5 % sehr niedrig.
Es gibt keine Therapieansätze, die eine bewiesene Verbesserung der ovariellen Aktivität, Ovulationsrate oder natürlichen Konzeptionsrate bewirken können [1].
Sowohl die Diagnose an sich als auch die Erkenntnis, welche Auswirkungen diese auf die Familienplanung hat, ist psychisch sehr belastend für die Patientinnen. Zusätzlich verursacht die Östrogenmangelsituation eine gewisse Vulnerabilität für depressive Verstimmungen.
Frauen mit Menstruationsstörungen sollten deshalb auch nach derartigen Symptomen gefragt werden [1]. Die Beschwerden können auch nur intermittierend auftreten, entsprechend den Schwankungen der ovariellen Aktivität im perimenopausalen Übergang [1].
Die Langzeitfolgen des Östrogenmangels sind nicht zu unterschätzen. In einem Follow-up der kardiovaskulären Gesundheit von Frauen mit POI zeigte sich eine signifikant erhöhte kardiovaskuläre Mortalität, wenn keine Hormonersatztherapie angewandt wurde [11]. Die Folgen des Östrogenmangels für die Knochengesundheit sind fatal. Der Östrogenmangel führt zu einer geringeren Knochendichte. Dem liegt der vermehrte Knochenabbau durch den Wegfall der hemmenden Wirkung von Östradiol auf die Osteoklasten zugrunde. Damit steigt das Risiko für Frakturen. Als weitere Risikofaktoren für Frakturen sind Vitamin-D- und Kalziummangel, Untergewicht unter 55 kg, Bewegungsmangel und Nikotinabusus zu sehen [19].
Des Weiteren bewirkt der Östrogenmangel eine Beeinträchtigung der neurologischen Gesundheit, es liess sich auch ein höheres Risiko für eine Demenz oder kognitive Beeinträchtigung im Alter feststellen [10].

Therapie

Die Therapie der prämaturen Ovarialinsuffizienz besteht in der prophylaktischen systemischen Hormonersatztherapie (HRT) bis zum physiologischen Menopausenalter von 51 Jahren. Hierbei ist die Therapie nicht als Behandlung von Symptomen wie in der Menopause zu sehen, sondern als Ausgleich einer unphysiologischen Mangelsituation. Es werden jedoch äquivalent zur Hormonersatztherapie der Menopause Östradiol und Progesteron angewandt. Ziel ist, einen gleichwertigen Östradiolspiegel wie bei einer regelmässig menstruierenden Frau mit durchschnittlich 180–370 pmol/l zu erreichen. Dies kann sowohl durch eine transdermale oder orale Hormonersatztherapie, alternativ auch eine kombinierte Pille erreicht werden. Von der Dosierung wird der gewünschte Spiegel durch 75–100 µg transdermal in Form eines östradiolhaltigen Pflasters oder durch 2 mg Östradiolgel erreicht. Oral würde man 2–4 mg Östradiol verabreichen. Der transdermale Weg hat den Vorteil, dass er ein niedrigeres Thromboserisiko hat. Östradiol scheint einen günstigeren Einfluss auf das kardiovaskuläre System und die Knochengesundheit zu haben [1]. Entscheidet man sich für die Pille, welche im Vergleich zur HRT der Menopause einen sicheren Verhütungsschutz bietet und für eine junge Frau weniger stigmatisierend ist, so sollte eine Dosierung von mindestens 30 µg Ethinylöstradiol, gegebenenfalls im Langzyklus im Falle von starken Symptomen in der Pillenpause, gewählt werden [1]. Mit der Pille Qlaira (Östradiolvalerat und Dienogest) scheint eine Option zur Verfügung zu stehen, die die Vorteile einer Pille mit denen des bioidentischen Östradiolvalerats kombiniert.
Es ist essenziell, dass bei der Hormonersatztherapie auch an die Endometriumprotektion gedacht wird. Hierzu eignet sich ein bioidentisches, mikronisiertes Progesteron oder ein synthetisches Gestagen in Transformationsdosis; zu Beginn des perimenopausalen Übergangs zyklisch, dann im Verlauf kontinuierlich.
Bezüglich des kardiovaskulären Risikos [14] und des Risikos für ein Mammakarzinom [16] scheint die transdermale Applikation in Kombination mit vaginalem mikronisiertem Progesteron sehr günstig zu sein, z. B. Estradot TTS 75 μg/Wechsel 2 ×/Woche mit kontinuierlich Utrogestan 200 mg täglich oral.
Möchte die Patientin die Möglichkeit einer Spontankonzeption weiterhin nutzen, sollten Gestagene, die keine Ovulationshemmung verursachen, bevorzugt werden, sowie sequenzielle Präparate, die ein östrogenfreies Intervall haben, um die ovarielle Rückkopplung auf die Hypophyse möglichst gering zu halten [1, 2].
Wichtig ist auch zu bedenken, dass die systemische HRT oft keine Wirkung auf die vaginale Atrophie hat und bei dieser Symptomatik zusätzlich lokales Östrogen angewandt werden soll. Hier wird z. B. eine östriolhaltige Salbe für 1–2 Wochen täglich und dann in Erhaltungsdosis 1–3 ×/Woche empfohlen. Wichtig ist, der Patientin zu erläutern, dass es sich um eine Dauertherapie handelt. Zusätzlich kann auch mit Lasertherapie ein guter Erfolg bei vaginaler Atrophie erzielt werden.
Bei einer Amenorrhö, die länger als 6 Monate besteht, ist eine Knochendichtemessung (DXA) indiziert. Bezüglich der Knochengesundheit sind neben der Hormonersatztherapie noch eine kalziumreiche Ernährung bestehend aus kalziumreichem Mineralwasser, Käse, Milch, Nüssen, Kräutern und Gemüse sowie die Substitution von Kalzium 1000 mg und Vitamin D 800–1000 IU/d, am besten in der Kombination mit Vitamin K, empfohlen. Auch Sport, v. a. Muskelaufbau, stellt einen wichtigen Pfeiler in der Osteoporoseprävention dar und sollte den Patientinnen empfohlen werden.

Therapie bei POI und Kinderwunsch

Der Übergang in die postmenopausale Situation ist als Kontinuum zu verstehen. Deshalb trifft man in der Kinderwunschsprechstunde gehäuft Patientinnen an, welche die Diagnosekriterien der prämaturen Ovarialinsuffizienz erfüllen und intermittierend noch Zyklen mit Follikelreifung durchlaufen oder eine stark reduzierte ovarielle Reserve entsprechend einem hypergonadotropen Hypogonadismus aufweisen, ohne sich bereits für die Diagnose der prämaturen Ovarialinsuffizienz zu qualifizieren. Ovulationen treten bei kürzerer Dauer der Amenorrhö von unter 3 Monaten noch häufiger auf [1]. Solange noch Ovulationen auftreten, besteht eine geringe Chance auf eine Schwangerschaft.
Als individuelle Therapieansätze mit dem Wissen um die niedrigen Schwangerschaftschancen können zum Beispiel eine FSH-Suppression durch eine Vorbehandlung mit Östrogenen oder eine In-vitro-Fertilisation (IVF) im natürlichen Zyklus bei noch sporadisch erfolgender Follikelreifung versucht werden.
Aufgrund erhöhter FSH-Level bei erschöpfter ovarieller Reserve ist eine konventionelle Stimulation oft nicht erfolgsversprechend, da die Hypophyse durch vermehrte Ausschüttung von FSH bereits versucht, die Ovarien zu stimulieren, diese jedoch aufgrund des geringen Follikelpools und der beeinträchtigten Follikulogenese nicht mehr reagieren können.
Für die Schwangerschaftschancen ist jedoch die Eizellqualität und erst sekundär die Eizellanzahl entscheidend, denn jüngere Frauen mit höherem FSH haben dennoch bessere Chancen auf eine Schwangerschaft als Frauen über 40 Jahre mit niedrigerem FSH [8].
Ein Therapieansatz ist die Vorbehandlung mit Sexualsteroiden, im Besonderen Östradiol. Es kann zum Beispiel orales Östradiol (täglich 4 g) im Vorzyklus oder luteal verabreicht werden, nach Evaluation und Aufklärung über das Thromboserisiko [18]. In der Annahme, dass dadurch die FSH-Ausschüttung aus der Hypophyse durch negative Rückkopplung supprimiert wird und die Ovarien anschliessend empfindlicher auf endogenes oder auch exogenes FSH reagieren. Somit sollen die letzten Follikelreserven rekrutiert werden. Ein weiterer Effekt der Vorbehandlung mit Östrogen ist, dass die Follikulogenese synchronisiert wird und ein vorzeitiger LH-Anstieg möglichst verhindert werden kann [9]. Bei Patientinnen mit erschöpfter ovarieller Reserve treten gehäuft Ovulationsstörungen durch frühzeitige Follikelrekrutierung und einen frühzeitigen LH-Anstieg auf.
Ist die ovarielle Reserve fast erloschen, kann durch eine Gonadotropinstimulation kein multifollikuläres Wachstum mehr erzielt werden. Damit bleibt als einzige Option das Monitoring des natürlichen Zyklus. Finden noch Menstruationen statt, kann den Paaren ein Zyklusmonitoring angeboten werden. Im Falle einer Follikelreifung kann eine Behandlung mittels In-vitro-Fertilisation im natürlichen Zyklus im Sinne einer IVF-Naturelle® angeboten werden [13] (Abb. 1).
Bei der sogenannten IVF-Naturelle®, welche eine Sonderform der In-vitro-Fertilisation darstellt, wird weitgehend auf eine Hormonstimulation verzichtet.
Hierbei wird der eine im natürlichen Zyklus wachsende Follikel meist ohne Narkose abpunktiert und die Oozyte fertilisiert. Kommt es zur Befruchtung, erfolgt anschliessend ein Embryotransfer.
Ein häufig auftretendes Problem in diesem Patientenkollektiv ist die vorzeitige Ovulation durch frühzeitigen LH-Anstieg, manchmal auch bei noch kleinem Follikel. Die Modifikation mit Clomifen 25 mg/d ab dem 7. Zyklustag [15] oder die Gabe von nichtsteroidalen Antiphlogistika, z. B. Ibuprofen, ab einer Leitfollikelgrösse von > 14 mm kann die Wahrscheinlichkeit einer vorzeitigen Ovulation minimieren [12, 17], ohne grosse Nebenwirkungen zu verursachen. Durch die Anwendung von Clomifen wird die Anzahl vorzeitiger Ovulationen reduziert und somit ist häufiger ein Embryotransfer möglich [15]. Die Gabe von nichtsteroidalen Antiphlogistika wie Ibuprofen hat keinen negativen Einfluss auf die Reife der Eizellen, die Implantationsrate oder die Embryoqualität [17].
Bei Patientinnen mit beginnender POI sind die Chancen auf eine Schwangerschaft gering. Im Falle einer Eizellgewinnung kann damit jedoch eine bessere Chance auf eine Schwangerschaft im Vergleich zur Spontankonzeption geboten werden [6].
Es gibt eine grosse Variabilität zwischen den Zyklen im perimenopausalen Übergang, sodass die Chancen im nächsten Zyklus wieder anders aussehen könnten [3].
Jedoch muss dem Paar offen kommuniziert werden, dass die Chancen per se suboptimal sind, um unnötige Enttäuschungen aufgrund falscher Erwartungen zu verhindern. Möglicherweise findet eine vorzeitige Ovulation statt, es kann keine Oozyte gefunden werden oder es erfolgt keine Befruchtung. Oft schätzen Kinderwunschpaare den Versuch einer Behandlung, auch wenn er nicht zum gewünschten Erfolg führt, da ihnen dies auf dem Weg der Verarbeitung und Akzeptanz der Erkrankung helfen kann und sie nach dem Ausschöpfen der Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin über Alternativen nachdenken können.
Die besten Chancen auf eine Schwangerschaft und auch ein Kind werden den Patientinnen mit POI durch die Eizellspende geboten, welche in der Schweiz nicht erlaubt ist. Dabei werden einer jungen Spenderin nach ovarieller Stimulation Oozyten durch eine Follikelpunktion entnommen und mit den Spermien des Partners der Empfängerin fertilisiert. Anschliessend erfolgt der Embryotransfer meist nach künstlichem Aufbau des Endometriums der Empfängerin mit Östrogenen und anschliessender Transformation durch Gestagene. Die Eizellspende ist in der Schweiz gesetzlich verboten, weshalb betroffene Paare das Ausland für die Behandlung aufsuchen.
Durch die rechtliche Situation befinden sich viele Paare im Dilemma zwischen Kinderwunsch, Gesetz und ethischen Überlegungen.
Schwangerschaften bei Patientinnen mit POI nach Eizellspende gelten als Hochrisikoschwangerschaften und sollten in einer speziellen pränatalmedizinischen Abteilung betreut werden. Vor Eintreten einer Schwangerschaft sollte die Ursachendiagnostik der POI abgeschlossen sein, um eventuelle Auswirkungen auf die Schwangerschaft besser behandeln zu können.
Die prämature Ovarialinsuffizienz ist eine vielschichtige Erkrankung und hat vielerlei Auswirkungen auf die Patientinnen, deshalb ist es wichtig, sie langjährig zu begleiten.
Infobox 1 Ursachenabklärung bei gesicherter Diagnose
  • Karyotyp
  • Ausschluss einer Fragiles-X-Prämutation
  • Bestimmung von Anti-21-Hydroxylase-Antikörpern
  • Bestimmung der Anti-TPO-Antikörper
Infobox 2 Merkpunkte
  • Bei menopausalen Beschwerden und Zyklusstörungen an die prämature Ovarialinsuffizienz denken (Hormonstatus bestimmen: FSH, E2)
  • Diagnostik gemäss Leitlinie durchführen oder dafür ans spezialisierte Zentrum überweisen
  • Hormonersatztherapie (Therapie eines Mangelzustands) soll bis zum physiologischen Menopausenalter empfohlen werden
Begleitung der Patientin
  • Psyche: regelmässiges Screening auf Stimmungsstörungen; Östrogentherapie kann positive Auswirkungen auf die Stimmung haben
  • Sexuelle Gesundheit: regelmässiges Screening auf sexuelle Dysfunktion; Behandlung von vulvovaginaler Atrophie mit systemischer und/oder lokaler Östrogentherapie oder Lasertherapie
  • Kardiovaskuläre Gesundheit: ausgewogene Ernährung, Bewegung, Nikotinstopp, Überwachung der kardiovaskulären Risiken
  • Knochengesundheit: ausgewogene Ernährung, Bewegung, Zufuhr von Kalzium und Vitamin D
  • Kinderwunsch:
    • Wenn das Vollbild der POI noch nicht erreicht ist, Behandlungsoptionen mit niedrigen Chancen individuell besprechen (z. B.: IVF-Naturelle®)
    • 5 % spontane Schwangerschaften, Eizellspende bietet gute Chancen auf Verwirklichung des Kinderwunschs (Therapie im Ausland notwendig)
    • Behandlungsversuche können im Rahmen des psychologischen Prozesses helfen, die Erkrankung zu akzeptieren

Fallbericht

Vorstellung der 19-jährigen Patientin im Beisein der Mutter wegen sehr unregelmässiger Menstruationszyklen. Anamnestisch war die Menarche im Alter von 11 Jahren und es fand eine reguläre Pubertätsentwicklung statt. Auffällig war, dass die Mutter mit 32 Jahren an der prämaturen Ovarialinsuffizienz erkrankte, weshalb sie auch sehr beunruhigt war. Sonographisch zeigte sich ein kleiner Uterus, sowie im Ovar rechts nur ein Antralfollikel. Der frühzyklische Hormonstatus zeigte wiederholt die Situation eines hypergonadotropen Hypogonadismus: FSH 38,0 IU/l, E2 46,8 pmol/l.
Daraufhin wurde die POI-Diagnostik vorgenommen. Es erfolgte der Ausschluss einer Hashimoto-Autoimmunthyreoiditis und eines Morbus Addison.
Des Weiteren erfolgte die genetische Testung auf Auffälligkeiten im Karyotyp und eine FMR1-Prämutation. Im Ergebnis zeigte sich ein unauffälliger weiblicher Karyotyp, 46,XX, und dass die Patientin Trägerin für ein Normalallel mit 30 CGG-Repeats und für ein verlängertes Allel mit 108 CGG-Repeats im FMR1-Gen (→ Prämutation) ist. Im Verlauf erfolgte auch die Abklärung der Schwester, welche leider auch betroffen ist.
Bei der Patientin erfolgte eine Knochendichtemessung mit dem Ergebnis einer normalen Dichte. Ihr wurden ausreichend Kalzium und Vitamin D, Bewegung und Normalgewicht empfohlen. Die hormonelle Therapie zur Östrogensubstitution erfolgte mit der Pille 30 μg Ethinylestradiol und Levonorgestrel.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Wachter und A. Kohl Schwartz geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
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Metadaten
Titel
Die prämature Ovarialinsuffizienz
Was, wenn der letzte Eisprung viel zu früh stattfindet?
verfasst von
Dr. med. Christiane Anthon
PD Dr. med. Alexandra Kohl Schwartz
Publikationsdatum
17.08.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Journal für Gynäkologische Endokrinologie/Schweiz / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 1995-6924
Elektronische ISSN: 2520-8500
DOI
https://doi.org/10.1007/s41975-023-00294-y

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