Skip to main content
Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie 2/2024

Open Access 26.02.2024 | Originalien

Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich

Anmerkungen eines Zeitzeugen – Teil 3

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer

Erschienen in: Pädiatrie & Pädologie | Ausgabe 2/2024

Zusammenfassung

Viele Geschichtsbücher sparen den Zeitraum 1933–45 aus. Deshalb wird die traurige Geschichte des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie unter der Leitung von M.H. Göring angerissen, um die widersprüchliche Aufrechterhaltung der Tiefenpsychologie im Dienste des Nationalsozialismus darzustellen. Im Exil andererseits haben bedeutende Kindertherapeuten, wie mein Lehrer Rudolf Eckstein als Psychoanalytiker gearbeitet und neue Erkenntnisse gewonnen. Als herausragendste Figur des nichterzwungenen österreichischen Exils kann Hans Seyle gesehen werden, der in Kanada den „Stress“ als Ursache und Folge vieler Krankheiten erfand. Dies eröffnet der Psychosomatik neue Möglichkeiten. Durch diese Pioniere haben die Möglichkeiten der psychosomatischen Theorie und Therapie den Alltag erreicht.
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Im 3. Teil wird etwas Seltenes gemacht: Die Zeit der Okkupation Österreichs durch das Deutsche Reich wird thematisiert. Das ist selbst im Österreich des Jahres 2024 selten. Die Tätigkeit der Wiener Zweigstelle des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie in der Ostmark war widersprüchlich. Einerseits erhielt sie die Psychoanalyse aufrecht, andererseits war sie im Dienste der Luftwaffe tätig und unterstützte sogar die Aktion T4, die Ermordung psychiatrisch Kranker. Das Konzept der Kindererziehung von August Aichhorn überstand so den Krieg. Allerdings war es ein sehr konservatives Konzept, das das Kind zwar zu verstehen versuchte, aber väterliche Autorität und Anpassung für unerlässlich hielt.
Während Europa im Krieg war, gab es eine Entwicklung der Psychosomatik im Exil. Exemplarisch gedenke ich meines Lehrers Rudolf Eckstein an der psychoanalytisch orientierten Menninger Foundation in Topeka, Arkansas, USA. Sie war eine Gründung eines Berliner Exilanten, und Rudi hatte dort Zeit und Muße, bedeutende Werke zu verfassen und die psychoanalytische Therapie psychiatrischer kranker Kinder zu erproben.
Hans Seyle ging aus wissenschaftlichen Gründen nach New-York, wo es ihm nicht gefiel. Als er seinen Aufenthalt abbrechen wollte, berief ihn die kanadische McGill Universität zu sich, wo er seinen völlig neuen Ansatz, das Stress-Konzept, physiologisch und biochemisch weiter erforschte. Letztlich wurde es ein neues Konzept der Krankheitslehre.
Man versteht, mein Artikel wird manches auslassen müssen. Herleitungen, Einschätzungen zur Psychoanalyse im NS-Staat, sowie Beurteilungen Wiener Psychotherapeuten bleiben aus.1

Psychosomatik unter Kriegsbedingungen im Deutschen Reich

M.H. Göring bekam die Leitung des Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie vor allem, weil er Vetter des preußischen Ministerpräsidenten und Luftwaffenfeldmarschalls Hermann Göring war. C.G. Jung firmierte mit M.H. Göring als Herausgeber des Zentralblatts für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete. Es wurde die Persönlichkeit des „Deutschen Analytikers“ in den Vordergrund gestellt. Die wenigen arischen Mitglieder der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) wurden übernommen. Hier sei August Aichhorn erwähnt, dessen Buch: „Verwahrloste Jugend“ (1925) einen empathischen Zugang zum psychosozial gestörten Kind aufzeigte. Es war eine verstehende Gegenwelt zu den NS-Mördern vom Spiegelgrund am Steinhof unter Heinrich Gross.2 die diese töteten. A. Aichhorn blieb pädagogischer Psychoanalytiker in Wien und versorgte im Namen der WPV den „Wolfsmann“3, Sergej Konstantinowitsch Pankejeff, der Freuds erster kinderanalytischer Fall war. Dieser war am Ende seines Lebens mein Patient an der 2. Inneren Abteilung des Wiener Wilhelminenspitals. Ich fragte ihn, ob ihm die Analyse geholfen hätte. „Nein,“ war seine eindeutige Antwort: „aber ich habe dort nur nette Menschen kennengelernt!“4
Einige der Mitglieder der WPV wurden ermordet, die meisten flohen ins Ausland. Rudi Eckstein musste wegen seiner sozialistischen Aktivitäten sofort nach dem (1915–93) Anschluss fliehen. Von London ging’s in die USA. In der Menninger Foundation in Topeka, Arkansas beschrieb er neues Verständnis für schwergestörte Kinder, wie Autisten. Ein Beitrag Rudis zur Psychosomatik bestand in der Supervisionsarbeit an der psychosomatischen Station im Wilhelminenspital. Er lehrte dem Team das unmittelbare Verstehen eines Kindes und seiner Familie oft nur aus dem ersten Satz, der ersten Situation. Staunend erlebten wir, dass schon ein Satz, eine Geste die Interaktion bestimmen kann. Seither erkennen wir alle, die das erleben durften, in Kriminalfilmen den Mörder sofort, in Erstgesprächen den Grund der Vorstellung und an uns selbst die unkontrollierbare Sofortreaktion, die oft diagnoseleitend ist. Rudis Bücher beschreiben die Macht der Sprache. In „The language of psychotherapy“ beschreibt er, wie der Therapeut das virtuelle Raumschiff der Innenwelt des Kindes betritt. Mit ihm fliegt er zu unbekannten Welten. Er hat die Erlebniswelt des Kindes nicht an seinem Realitätssinn zu prüfen, sondern er fliegt in die fantastische Lebenswelt des Kindes, das sich unverstanden fühlt.

Hans Seyle

Eine völlig neue Forschungsrichtung entwickelte sich zum Wohle der pädiatrischen Psychosomatik in Nordamerika: die Stressforschung.
Hans Seyle (1907–82) beobachtete als Student in Prag, dass viele echt Kranke ähnlich aussehen: bleich, erschöpft und abgemagert. Da er als Famulus wiederholt im Warteraum der Ambulanz herumstand oder bei der Visite in der letzten Reihe stand, hörte er zwar unverständliche Diagnosen, vor allem sah er erschöpft wirkende Kranke, die lieber im Bett lagen als standen, die müde und lebensunlustig waren. Intellektuell unterschied er spielerisch Kranke und Gesunde – nur nach dem Erscheinungsbild. In den meisten Fällen gelang es ihm.
Diese Beobachtung ließ ihn nach einem zugrundeliegenden Muster suchen. Er hatte ein zweites Doktorat in organischer Chemie in Europa erworben, was ihm ein Stipendium am der John-Hopkins-Universität Philadelphia eingebracht hatte. Dort 1934 angekommen, setzte er Ratten sowohl akuten Belastungen als auch anhaltend schlechten Bedingungen aus. Die chronisch Belasteten zeigten immer die gleichen Symptome: Magengeschwüre, Leukopenie und Marasmus. Es war wie beim Menschen: Nebst den Äußerungen der Erkrankung hatten die Ratten dieselben Symptome die wirklich Kranken. Seyle untersuchte in Montreal den Hormonstoffwechsel der beobachteten Reaktion. Sein Chef, J.B. Collip hatte das Parathormon entdeckt, und H. Seyle befasste sich mit Adrenalin als möglichem Botenstoff eines bis dahin nur in der Materialtechnik5 bekannten Begriffs: Stress. Ein neues Wort, eine neue Entität wurde der Medizin hinzugefügt.
Gerade in der Pädiatrie hat die Idee der „Bereitstellungserkrankungen“ (oder der „Anpassungsstörung“ wie es Seyle genannt hat) vielen Ideen Vorschub geleistet: Heidi Als’ Studien zur sanften Neugeborenenpflege wären ohne die Erkenntnisse H. Seyles undenkbar gewesen. Der Stress, der im Baby beispielsweise durch dauerndes Angeleuchtetwerden, plötzliche Verletzungen der Ferse zwecks SBH-Bestimmung, Berührungen ohne feinfühlige Ankündigungen oder Mangel an Hautkontakt erzeugt wird, führt zu pathologischem Stress, der sich in vermehrten intrakraniellen Blutungen und in anderen Symptomen schlechter Adaptation äußert. Chronifizierungen von Asthma bronchiale bei psychosozialer Belastung, aber auch Krankheiten nach psychischer, sexueller oder körperlicher Misshandlung lassen sich mit dem Stressmodell gut erklären und durch Änderungen der Umwelt des Kindes positiv beeinflussen.
Die sich daraus ergebenden Therapien sind vor allem Veränderungen des Umfelds: Bei den Neugeborenen wurde die Art der Blutabnahme, ja, schon die Begrüßung im Inkubator so geändert, dass das Kind den Stress bewältigen kann. Coping – also das Zurechtkommen mit Belastungen, wurde ebenso ein Modewort, wie Resilienz6, also die Fähigkeit, den Status quo ante wieder zu erreichen.
Wenn ich mich an die Heilpädagogik der Kinderklinik Wien mit H. Asperger als Chef und Hofrat Kussen als Leiter erinnere, die klerikofaschistische Aussagen zu Kindern trafen („Das Kind ist moralisch verworfen und kann nie ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft werden“ – so lasen sich auch die Krankengeschichten am Spiegelgrund) und die weiterhin von „Stigmata“ des Kindes sprachen, wird mir heute noch schlecht. Erst die 1968er-Studentenbewegung zeigte auf, dass: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren!“ steckte. Die Professoren des 1000-jährigen Reichs waren nach einer oberflächlichen Entnazifizierung belassen worden: Der meistbeschäftigte Gerichtsgutachter unseres Landes bis 1980 war H. Gross, der die Schädel und Gehirne der Ermordeten für 27 Publikationen zu Ursachen für Dissozialität nutzte. H. Gross wurde nie verurteilt.

Vorschau: Teil 4

Österreich hielt bis zur Rede des Bundeskanzlers Franz Vranitzky (1986–97) am 09.08.1991 vorm israelischen Parlament (Knesset) an seiner – in den Verträgen von Jalta (04.–11.02.1945) von den Siegermächten festgeschrieben – Legende fest, dass es das erste Opfes des Nationalsozialismus gewesen sei. Der jubelnde Empfang des „Führers“ am Heldenplatz nach dem Anschluss der Ostmark an das Altreich, sollte ebenso vergessen werden, wie die Mittäterschaft vieler Österreicher und Östereicherinnen in der Shoa. Leider erlebt Österreich 2024 das öffentliche Wiederaufleben des Judenhasses. Dagegen stellen sich Vertrerinnen und Politiker aller Parteien und zuvörderst das österr. Parlament unter Führung von Mag. W. Sobotka entschieden!
Diese Entwicklung der Jahre bis zur Jahrtausendwende werden im 4. Teil beschrieben, der Aufstieg zu einer „Spezialisierung“ bleibt dem 5. Teil vorbehalten.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

P.J. Scheer gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Fußnoten
1
Der Autor muss damit zufrieden sein, ein Forum zu finden, dass diesen Zeitraum nicht ausspart, wie es leider selbst 2024 noch in vielen Institutionen der Fall ist. Selbst Einrichtungen wie das Tiroler Elektrizitätswerk (TILAG) oder das Autozuliefererwerk MIBA haben zwar ihre „Vergangenheit“ aufarbeiten lassen, aber die Publikationen, welche sich daraus ergeben haben, sind nicht erhältlich.
 
2
Gerade als ich diesen Artikel schreibe, erfahre ich vom Tod Werner Vogts: Seiner Zivilcourage und Ausdauer ist es zu danken, dass der überlebende, ehemalige Insasse des Spiegelgrunds nicht nochmals in der 2. Republik von H. Gross „verurteilt“ wurde. Diese Geschichte wurde von Nikolaus Habjan in dem Stück: „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ aufgearbeitet.
 
3
Die Analyse trägt den Titel: Wolfsmann, weil der Patient in seinen Träumen wiederkehrend Wölfe im Baum vor seinem Fenster sitzen sah, die er sehr fürchtete. Vorstellungsgrund war extreme Obstipation, die häufiger Klistiere ebenso bedurfte wie manueller Ausräumungen, so wie bei meiner ersten analytischen Begleitung einer Jugendlichen im Karolinen Kinderspital 60 Jahre später.
 
4
Er starb an meinem 28. Geburtstag, meine Fotosammlung von ihm finde ich nicht mehr.
 
5
So wie der heute besser als psychologischer Begriff bekannte: Resilienz, eigentlich aus der Fähigkeit des pneumatischen Rads zur Wiedererlangung der ursprünglichen Form nach einer Verformung (zum Beispiel durch ein Steinchen auf der Straße), kommt; so kommt der Begriff aus der Metallurgie: Dort beschreibt er die Verformung des Metalls unter Belastung oder Anspannung. Diesen Begriff führte H. Seyle in die Medizin ein.
 
6
Resilienz ist ebenso ein Wort aus der Materialkunde. Es handelt sich um die Fähigkeit des pneumatischen Reifens, seine ursprüngliche Form nach einer Eindellung wieder anzunehmen. In der Psychosomatik meint man damit die Fähigkeit, schmerzende Erlebnisse so zu verarbeiten, dass man wieder funktionsfähig wird.
 
Metadaten
Titel
Die Geschichte der Psychosomatik in Österreich
Anmerkungen eines Zeitzeugen – Teil 3
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Peter J. Scheer
Publikationsdatum
26.02.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Pädiatrie & Pädologie / Ausgabe 2/2024
Print ISSN: 0030-9338
Elektronische ISSN: 1613-7558
DOI
https://doi.org/10.1007/s00608-024-01186-5

Weitere Artikel der Ausgabe 2/2024

Pädiatrie & Pädologie 2/2024 Zur Ausgabe