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Erschienen in:

Open Access 02.08.2024 | Der interessante Fall

Zervikale Flexionsmyelopathie nach Drogenintoxikation

verfasst von: Lt.OA PD Dr. Martin W. Dünser, DESA, EDIC, Dr. Dominik Jenny

Erschienen in: Anästhesie Nachrichten | Ausgabe 3/2024

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Ein 20-jähriger Patient wird vom Notarzt direkt in die Notaufnahme gebracht. Er wurde zuhause bewusstlos in Rechtsseitenlage am Boden liegend vorgefunden. Anamnestisch war der polytoxikomane Mann vor ca. 48 h nach Einnahme unbekannter Substanzen das letzte Mal wach und wohlauf gesehen worden. In der Zwischenzeit wurde er wiederholt von den Angehörigen in derselben Stellung liegend, in der er zuletzt aufgefunden wurde, gesichtet. Da er atmete, wurden keine weiteren Maßnahmen getroffen. Erst nachdem er selbst nach zwei Tagen nicht erweckbar war, wurde die Rettung alarmiert.
Beim Eintreffen in der Notaufnahme zeigte der Patient das klinische Bild einer „intrakraniellen Katastrophe“. Er wies einen Glasgow Coma Score (GCS) von 5 auf (E1 V1 M3). Die Pupillen waren mittelweit, isokor und reagierten träge auf Licht. Der Atemweg war teilverlegt. Es bestand eine Maschinenatmung. Der Patient schwitzte stark, war tachykard (Sinusrhythmus 150/min) und hyperton (160/80 mm Hg). Die Temperatur betrug 35,7 °C. Auffallend war, dass der Patient an den unteren Extremitäten selbst auf starken Schmerzreiz keine motorische Reaktion zeigte oder grimassierte. An den oberen Extremitäten beugte er auf der rechten Seite unspezifisch, auf der linken Seite zeigte er Strecksynergismen. Außerdem wies er einen Priapismus auf.
Anhand der Anamnese und des klinischen Bilds ergaben sich somit zwei Verdachtsdiagnosen, die nur schwer in Zusammenhang zu bringen waren:
  • Hypoxische Enzephalopathie nach Drogenintoxikation
  • Halsmarkläsion
War doch ein Trauma die Ursache der Bewusstlosigkeit? In der klinischen Untersuchung fanden sich bis auf zwei Dekubiti (seitliche Thoraxwand und Trochanter major jeweils auf der rechten Seite) sowie eine „Lipom-artige“ Schwellung im Bereich des linken Nackens keine Trauma-Hinweise. Insbesondere ergab die genaue Untersuchung der Muskellogen der unteren Extremitäten sowie gluteal keinen Hinweis auf ein Kompartmentsyndrom.
Nach Anlage eines zweiten venösen Zugangs, einer arteriellen Kanüle sowie der Notfallintubation wurde eine Computertomographie durchgeführt. Diese kraniale CT-Untersuchung erbrachte erwartungsgemäß keinen wegweisenden Befund. (Anmerkung: Die CCT ist wenig sensitiv zum Nachweis einer hypoxischen Enzephalopathie.) Die Wirbelsäule wies keine ossären Defekte auf (Abb. 1).
Bei genauer Durchsicht fiel jedoch auf, dass die linke Nackenmuskulatur stark ödematös und aufgeschwollen war (Abb. 2).
Wir erklärten uns dies mit der prolongierten Rechtsseitenlage mit andauernder Flexion des Kopfs nach rechts unten. Eine Literaturrecherche ergab, dass zervikale Rückenmarksschäden bei intoxikierten Patient:innen, die über mehrere Stunden bzw. Tage (wie in unserem Fall) mit/in einer nicht-achsengerechten (Kopf‑)Stellung gelegen haben, auftreten können [13].

Lagebedingte Schädigung des Rückenmarks

Als Myelopathie werden Schädigungen des Rückenmarks bezeichnet, welche anhand der Lokalisation in zervikale und thorakale sowie – abhängig vom Auftreten – in akute, subakute und chronische Myelopathien unterteilt werden können. Die Beschwerden reichen von lokalen Schmerzen über Störungen der Feinmotorik oder Sensibilität bis hin zur Tetraplegie. Der Pathomechanismus für eine solche Flexionsmyelopathie ist unklar. Hypothesen reichen von der Minderperfusion des Rückenmarks infolge einer Überdehnung über vorbestehende Spinalkanalstenosen hin zur Behinderung des venösen Abstroms durch die Schwellung der Nackenmuskulatur.
Aus anästhesiologischer Sicht sind besonders lagebedingte Myelopathien interessant. Diese werden vor allem nach chirurgischen Eingriffen mit extremen Lagerungen beschrieben. Typischerweise sind hier neurochirurgische Eingriffe im Bereich der hinteren Schädelgrube zu nennen, bei welchen der Kopf in eine deutliche Flexionsstellung (Kinn berührt fast die Brust) gebracht wird.
Myelopathien im Zusammenhang mit Intoxikationen sind seltene Ereignisse und werden in der Literatur nach Konsum unterschiedlichster ZNS-dämpfender Substanzen (z. B. Alkohol, Benzodiazepine, Opioide, Pregabalin) beschrieben [4]. Bei ehemals Opiatabhängigen kann dies nach längerer Abstinenz und erneutem Konsum auftreten. Einige Autor:innen vermuten hierbei einen Heroin-induzierten neuronalen Entzündungsprozess. Zusätzlich könnte eine vaskuläre Komponente, bedingt durch Hypotension und Rückenmarksischämien, dazu beitragen [5]. Interessanterweise werden auch Kokain-induzierte Rückenmarksischämien beschrieben. Diese betreffen meist die vordere Rückenmarksarterie (A. spinalis anterior) und sind ein seltenes Ereignis [6].
Mit dieser Erkenntnis konnten wir die Klinik des Patienten bei Aufnahme einordnen und verlegten den Patienten mit folgenden Diagnosen auf die Intensivstation:
  • Hypoxische Enzephalopathie bei Z. n. Intoxikation mit Kokain und Benzodiazepinen (DDx: Intoxikation mit im Harnstreifentest nicht nachweisbarer/n ZNS-depressiver/n Substanz/en)
  • Nebenbefundlich: Rhabdomyolyse der zervikalen Rückenmuskulatur mit stauungs- und/oder flexionsbedingter Myelopathie zervikal sowie Tetraparese; Dehydratation
Leider erwies sich die hypoxische Enzephalopathie im Verlauf als so schwerwiegend, dass der junge Patient nach Umstellung der Behandlung auf eine Comfort-Terminal-Care letztlich verstarb.

Interessenkonflikt

M.W. Dünser und D. Jenny geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
1.
Zurück zum Zitat Honkaniemi J, Rummukainen J, Väänänen P, Vuorialho M. Cervical Myelopathy associated with deep neck muscle Rhabdomyolysis after polysubstance abuse: a case report. Case Rep Neurol. 2022;14:31–7.CrossRefPubMedPubMedCentral Honkaniemi J, Rummukainen J, Väänänen P, Vuorialho M. Cervical Myelopathy associated with deep neck muscle Rhabdomyolysis after polysubstance abuse: a case report. Case Rep Neurol. 2022;14:31–7.CrossRefPubMedPubMedCentral
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Zurück zum Zitat Pichiorri F, Masciullo M, Foti C, Molinari M, Scivoletto G. Cocaine-related cervical spinal cord infarction: a case report and review of the literature. J Med Case Rep. 2022;16:59.CrossRefPubMedPubMedCentral Pichiorri F, Masciullo M, Foti C, Molinari M, Scivoletto G. Cocaine-related cervical spinal cord infarction: a case report and review of the literature. J Med Case Rep. 2022;16:59.CrossRefPubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Zervikale Flexionsmyelopathie nach Drogenintoxikation
verfasst von
Lt.OA PD Dr. Martin W. Dünser, DESA, EDIC
Dr. Dominik Jenny
Publikationsdatum
02.08.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Anästhesie Nachrichten / Ausgabe 3/2024
Print ISSN: 2617-2127
Elektronische ISSN: 2731-3972
DOI
https://doi.org/10.1007/s44179-024-00237-3