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Erschienen in:

Open Access 08.09.2023 | Journal Club

Wann ist genug wirklich genug?

Grössenstabilität und Patientenalter als Faktoren für einen Überwachungsstopp bei Seitenast-IPMN

verfasst von: Dr. med. Marius Zimmerli, PD Dr. med. Henriette S. Heinrich

Erschienen in: Schweizer Gastroenterologie | Ausgabe 3/2023

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Die ursprüngliche Online-Version dieses Artikels wurde überarbeitet: Die Zitierung der Originalpublikation wurde korrigiert. Der letzte Satz im Abschnitt „Methodik“ wurde überarbeitet. Im Abschnitt „Resultate“ wurde der zweite Satz im zweiten Abschnitt angepasst und im Abschnitt „Diskussion“ wurde der erste Satz korrigiert.
Zu diesem Beitrag ist ein Erratum online unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s43472-023-00112-7 zu finden.

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Originalpublikation
Marchegiani G, Pollini T, Burelli A et al (2023) Surveillance for presumed BD-IPMN of the pancreas: stability, size, and age identify targets for discontinuation. Gastroenterology. https://​doi.​org/​10.​1053/​j.​gastro.​2023.​06.​022.
Hintergrund.
Die Prävalenz der zystischen Pankreasläsionen nimmt mit steigendem Alter zu [1]. Zusammen mit verbesserten Bildgebungsmodalitäten werden daher in den letzten 20 Jahren mehr zystische Pankreasläsionen – meistens klein und asymptomatisch als Zufallsbefunde – diagnostiziert, überwacht und behandelt [24]. Intraduktale papilläre muzinöse Neoplasien des Pankreasseitengangs (SG-IPMN) sind die am häufigsten entdeckten zystischen Läsionen des Pankreas, die ein Progressionsrisiko zu einem Pankreaskarzinom bergen und laut Guidelines einer Surveillance bedürfen [5].
Dennoch fehlen aussagekräftige, prospektive Daten über den natürlichen Verlauf von SG-IPMN und deren tatsächliches Progressionsrisiko zu einem Pankreaskarzinom, weswegen die Intervalle und vor allem die Dauer der Surveillance weiterhin – auch angesichts steigender Gesundheitskosten – umstritten sind [6].
Die Guidelines der American Association of Gastroenterology (ACG) empfiehlt das Sistieren der Surveillance bei kleinen, nicht wachsenden SG-IPMN ohne Warnzeichen nach 5 Jahren – die Leitlinien der International Association of Pancreatology gibt regelmässige Verlaufskontrollen der SG-IPMN mittels MRT oder EUS sowie CEA-19‑9 vor – sie legen sich aber auf Grund kontroverser Datenlage nicht auf eine zeitlich begrenzte Surveillance fest, sondern machen das Ende der Surveillance von der fehlenden Operabilität des Patienten abhängig [7]. Neueren Studien zufolge bleiben die meisten kleinen SG-IPMN über die Zeit unverändert und bergen ein geringes Malignitätsrisiko – dennoch ist belegt, dass eine maligne Transformation oft bei älteren Patienten über 65 mit multiplen Vorerkrankungen, die immer noch operabel sind, auftritt [810].
Ziel der Studie.
Marchegiani et al. legen in Gastroenterology eine grosse, retrospektive Multicenterstudie von 3844 altersgematchten Patienten mit einer SG-IPMN vor, die im Mittel über 53 Monate in Bezug auf die Entwicklung von allgemeinen Risikomerkmalen und Hochrisikomerkmalen (u. a. Grössenwachstum) beobachtet wurden.
Ziel der Studie war die Identifikation von Patientengruppen mit SG-IPMN, deren Risiko einer malignen Transformation der Pankreasläsion vergleichbar mit der gleichaltrigen adjustierten Allgemeinbevölkerung ist.
Methodik.
In diese retrospektive Beobachtungsstudie wurden 3844 Patienten aus 12 Zentren in Europa, Amerika und Asien eingeschlossen. Als Einschlusskriterien galten eine Beobachtungszeit von > 12 Monaten sowie die Diagnose einer SG-IPMN in der Bildgebung (CT/MRT) oder zytologisch/histologisch bestätigte SG-IPMN ohne besorgniserregende Merkmale (WF) und/oder Hochrisiko-Stigmata (HRS) nach den Fukuoka-Guidelines.
Ausgeschlossen wurden alle Patienten, welche innerhalb von 12 Monaten nach Studieneinschluss eine Pankreasoperation erhielten oder in der Vergangenheit eine Pankreasoperation erhalten hatten. Ebenfalls wurden Patienten mit Status nach Pankreaskarzinom oder Pankreaszysten anderer Ätiologie ausgeschossen.
Alle zur IPMN-Charakterisierung erforderlichen Daten wurden über den Surveillance-Zeitraum prospektiv gesammelt (CA19‑9, Zystengrösse, Anzahl und Lokalisation der Zysten, Dicke der Zystenwand, Vorhandensein von Wandknoten, solide Komponenten, Septierung und Pankreashauptgangserweiterung).
Der primäre Endpunkt der Studie war das Auftreten eines IPMN-assoziierten Pankreaskarzinoms. Sekundäre Endpunkte waren die Entwicklung von allgemeinen Risikomerkmalen und Hochrisikomerkmalen. SG-IPMN, welche keine Veränderung (Grösse, WF oder HRS) über 5 Jahre zeigten, wurden, angelehnt an die Guidelines der ACG von 2015, als IPMN mit niedrigem Risiko klassifiziert und in zwei Gruppen in Bezug auf die Zystengrösse (30 mm vs. 15 mm) eingeteilt, um das Pankreasmalignomrisiko der zwei Niedrigrisiko-SG-IPMN-Gruppen mit dem Pankreasmalignomrisiko der gleichalten Allgemeinbevölkerung zu vergleichen.
Resultate.
Insgesamt wurden aus den 12 Zentren 4356 SG-IPMN-Patienten eingeschlossen. Im Verlauf wurden 474 Patienten ausgeschlossen, da die Beobachtungszeit weniger als 12 Monate betrug oder sie Risikostigmata hatten. Weitere 38 Patienten wurden ausgeschlossen, da die Histologie eine Nicht-IPMN-Zyste zeigte. Daten von 1988–2020 wurden berücksichtigt.
Insgesamt wurden 3844 Patienten in die Analyse eingeschlossen. Das mittlere Alter lag bei 66 Jahren und 60,2 % waren Frauen. Der mediane Durchmesser der Zysten bei Einschluss betrug 12 mm und die mittlere Überwachungszeit 53 Monate. Während der Beobachtungszeit entwickelten 775 Patienten (20,2 %) WF und 68 (1,8 %) HRS. Bei 14 (0,4 %) der Patienten bestand der radiologische Verdacht auf ein Karzinom, jedoch wurden sie aufgrund des Allgemeinzustands nicht mehr operiert. Bei 40 Patienten (1 %) wurde ein Malignom entweder in der Bildgebung oder der Operation detektiert. Insgesamt wurden 164 (4,3 %) Patienten operiert, wobei 52 davon entweder höhergradige Dysplasien oder ein Karzinom in der Histologie aufwiesen. HRS während der Überwachung waren assoziiert mit dem Vorhandensein eines Pankreaskarzinoms, wobei das Auftreten von WF nicht mit einem Karzinom assoziiert war. Insbesondere waren ein erweiterter Hauptgang, ein erhöhtes CA19-9 > 37 U/l und ein Ikterus mit einem invasiven Karzinom assoziiert.
Bei 1617 (42 %) Patienten zeigte sich keine Veränderung der Zystengrösse über 5 Jahre ohne Entwicklung von WF oder HRS. Aus dieser Gruppe hatten 762 (47,1 %) eine Zyste von < 15 mm. Nach den ersten 5 Jahren entwickelten 14,5 % der Patienten WF oder HRS. Die Gesamtsterblichkeit der Niedrigrisiko-SG-IPMN-Gruppe betrug 4,9 % (n = 79), wobei das Entwickeln von WF oder HRS signifikant mit einem schlechteren Überleben assoziiert war.
Das Risiko ein Pankreaskarzinom zu entwickeln war in der gesamten Kohorte fast 5‑mal so hoch wie in der altersadaptierten Allgemeinbevölkerung.
Bei den unter 65-Jährigen in der Niedrigrisiko-SG-IPMN-Gruppe war das Risiko 7‑mal höher als in der Allgemeinbevölkerung, an einem Pankreaskarzinom zu erkranken. Dies steht im Gegensatz zu den über 75-Jährigen, wo das Risiko ungefähr gleich zur Allgemeinbevölkerung war. Dies spiegelt das erhöhte Pankreaskarzinomrisiko im hohen Alter wider.
Betrachtet man die die kleinen, unter 15 mm grossen IPMN, stellt man fest, dass diese in der Kohorte ein genau gleich grosses Risiko zur maligen Entartung wie die altersadaptierte Allgemeinbevölkerung hatten. Mit zunehmender Zystengrösse über 30 mm zeigt sich in dieser Kohorte ein über 10fach erhöhtes Risiko zur malignen Entartung im Vergleich zur altersadaptierten Allgemeinbevölkerung. Dies spiegelt das bereits gut erforschte geringere Risikopotenzial kleinerer Seitenast-IPMN zur malignen Transformation wider.

Diskussion

Diese Studie zeigt an einem grossen Kollektiv – jedoch retrospektiv und über einen langen Zeitraum, in dem sich Guidelines und Beurteilung von zystischen Pankreasläsionen kontinuierlich gewandelt haben –, dass die Überwachung von Seitenast-IPMN in einem ausgewählten Patientengut gestoppt werden könnte, da diese Patienten ein gleich hohes Risiko zur Entwicklung eines Pankreaskarzinoms wie die gleichaltrige Allgemeinbevölkerung haben.
Die in der Studie erhobenen Daten zeigen, dass ein Surveillance-Stopp nach 5 Jahren bei Patienten > 75 Jahren mit Zysten < 30 mm gerechtfertigt sein könnte. Weiterhin könnte bei Patienten, die älter als 65 sind und Zysten < 15 mm haben, ebenfalls die Surveillance eingestellt werden.
Hierbei sind Zystengrösse und Grössenstabilität über 5 Jahre die wichtigsten Entscheidungskriterien. Die Erkenntnis, dass kleine IPMN ein niedrigeres Malignomrisiko aufweisen, ist nicht neu, jedoch von grossem Interesse, da Pankreaszysten oft als Zufallsbefund diagnostiziert werden und deren Surveillance sowohl mit hoher psychischer Belastung für die Patienten als auch mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem assoziiert sind. Dennoch räumen die Autoren ein, dass eine akkurate Diagnose bei kleinen Pankreaszysten schwierig ist und dies bei der Entscheidung zur Einstellung der Surveillance berücksichtigt werden sollte.
Die Studie von Marchegiani et al. zeigt erneut deutlich, wie gering die Aussagekraft von WF sind, und macht den Bedarf der Entwicklung von molekularen Biomarkern zur Risikostratifizierung vordringlich. In der vorliegenden Arbeit war so wie in vorangegangen Studien nur das Vorhandensein von Hochrisikofaktoren (Ikterus, Gangkalibersprung, CA19-9-Erhöhung) mit dem Vorliegen eines invasiven Karzinoms assoziiert.
Weiterhin macht diese Arbeit den Bedarf klarer Richtlinien in Bezug auf das Management von zystischen Pankreasläsionen bei hochbetagten, multimorbiden, jedoch noch operablen Patienten deutlich. Dies wird in den aktuellen Leitlinien meist der Expertise und Beurteilung des behandelnden Arztes überlassen. Der durch die Autoren der vorliegenden Studie bereits erfolgreich validierte AgeAdjusted Charlson Comorbidity Index (ACCI) ist hier ein interessantes Tool. Hier konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einem ACCI > 3 und Niedrigrisiko-SG-IPMN mit höherer Wahrscheinlichkeit an anderen Ursachen als der IPMN versterben. In der vorliegenden Studie hatten mehr als 60 % der Patienten in der Niedrigrisiko-SG-IPMN-Gruppe einen ACCI von unter 3 – was die geringe Ausbeute einer regulären Surveillance erneut deutlich werden lässt.
Weiterhin zeigt die Studie auch das – im bis in die 1980er-Jahre zurückreichenden Studienzeitraum – hohe Risiko der chirurgischen Therapie von Pankreaszysten: Von den 164 Patienten, die sich einer Operation unterzogen, hatten 68 % am Ende in der definitiven, postoperativen Pathologie keinen malignen Befund – dies gibt bei einer 30-Tage-Mortalitätsrate von 2,4 % zu denken. Bei den 1335 Patienten in der Niedrigrisiko-SG-IPMN-Gruppe wurden 25 Patienten operiert – mit einer Mortalität von 8 %. Dies steht in deutlichem Kontrast zur Mortalität der Nichtoperierten in dieser Gruppe von 4 %.
Zusammenfassend ist diese Studie ein weiterer wichtiger Puzzlestein, um festzustellen, wann genug genug ist und eine Surveillance bei Niedrigrisiko-SG-IPMN eingestellt werden kann.
Eine Bestätigung der Resultate an einer zweiten Kohorte ist sicher wünschenswert. Zukünftige prospektive Studien, die die integrierte Rolle der Bildgebung, klinischer Scores und Biomarkern besser erforschen, werden die Anpassung der aktuellen, teils vagen Leitlinien ermöglichen, um Patienten zu identifizieren, die von einer Surveillance tatsächlich profitieren.

Interessenkonflikt

M. Zimmerli und H.S. Heinrich geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Dr. med. Marius Zimmerli
PD Dr. med. Henriette S. Heinrich
Publikationsdatum
08.09.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schweizer Gastroenterologie / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 2662-7140
Elektronische ISSN: 2662-7159
DOI
https://doi.org/10.1007/s43472-023-00108-3

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