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Ärzte Woche

01.12.2023 | Vergewaltigung

Vom Abhören zum Zuhören

verfasst von: Astrid Kuffner

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Allgemeinmediziner und Fachärztinnen können für Opfer häuslicher Gewalt oder misshandelte Kinder viel tun. Eine Online-Toolbox der Gesundheit Österreich GmbH für die niedergelassenen Ärzte enthält Tipps und Kontakte. Sie dient zum Erkennen, zum Ansprechen und zum Dokumentieren und Weitervermitteln Schutzbedürftiger.

Gewaltbetroffene – vom Kindesalter bis zum Pflegefall – leben meist abgeschottet. Dennoch ist damit zu rechnen, dass rund ein Drittel der Opfer häuslicher Gewalt irgendwann im Gesundheitssystem vorstellig wird. Wegen einer akuten Verletzung, einer Behandlung oder mit unspezifischen Beschwerden. Und genau dann gilt es „aufmerksam zu sein“, sagt Dr. Claudia Westreicher, Mitglied der Expertengruppe, welche die neue „Online Toolbox Gewaltschutz“ für den niedergelassenen Bereich entwickelt hat.

Ziel dieser Sammlung von Checklisten, regionalen Hilfsangeboten, Gesprächsleitfäden und Anleitungen ist es, diese Kontaktmöglichkeit zu nutzen. Bei Kindern besteht ohnehin Handlungsbedarf, bei Erwachsenen kann die vertrauliche Atmosphäre genutzt werden, um Hilfe anzubieten und an den weiterführenden Gewaltschutz heranzuführen. Neben der Behandlung gilt es für die Ärzte, Auffälligkeiten zu erkennen und einen Verdacht vorsichtig anzusprechen. Im nächsten Schritt wird die akute Gefährdungssituation abgeklärt sowie eine etwaige Anzeigepflicht. Laut Ärztegesetz wird die Verschwiegenheit aufgehoben bei Verdacht auf Straftaten an Kindern und Jugendlichen, bei schwerer Körperverletzung und sexueller Misshandlung von wehrlosen Erwachsenen – bei allen anderen erwachsenen Personen braucht es deren Zustimmung. Als weiterer Schritt kann die Spurensicherung nötig werden, also die gerichtsfeste Sicherung von Beweisen. Die Vermittlung von Hilfsangeboten sollte immer angeboten werden.

In Hinblick auf häusliche Gewalt gehören Frauen, Kinder, behinderte oder beeinträchtigte Menschen, Menschen mit Migrationshintergrund und Pflegebedürftige zu den besonders schützenswerten Gruppen. Laut Statistik Austria hat jede dritte Frau hierzulande ab dem Alter von 15 Jahren körperliche oder sexuelle Gewalt erlebt.

Subtile Spuren

Blaue Flecken an den Innenseiten der Oberarme oder Oberschenkel sollten die Alarmglocken immer läuten lassen, sagt Claudia Westreicher, denn diese können sich Patienten kaum selbst zufügen. Würgemale am Hals sind meist schwer zu erkennen, für die Opfer aber besonders quälend. Ebenfalls ein Warnsignal, wenn ein Kind auf Verhalten der Eltern stark reagiert. Weitere Signale sind chronische Beschwerden ohne konkrete physische Ursache und Verletzungen (im Gesicht) mit unplausiblen Ursachen. Bei Pflegebedürftigen ist auf den Status bei Ernährung, Flüssigkeitszufuhr und Medikation zu achten – auch hier kann Gewalt ausgeübt werden. Die Devise: Lieber einmal zu viel vorsichtig angesprochen und Hilfe angeboten haben, als einmal zu wenig. Es geht darum, das Radar für subtile Anzeichen anzuwerfen.

Aus der Toolbox zitiert

„Wird die Gewalterfahrung von der Patientin / vom Patienten bejaht, ist es wichtig, dass Gesundheitskräfte diesen Aussagen glauben und dazu ermuntern, weiter darüber zu sprechen. Für das Gegenüber ist es hilfreich zu hören, dass Gewalt immer ein Unrecht ist und dass es niemand verdient, geschlagen, getreten, missbraucht oder bedroht zu werden. Allerdings ist hier jegliche abfällige Bemerkung über den Gewalttäter zu vermeiden, da die Gefahr besteht, dass die Opfer blockieren, die Tat verharmlosen oder sogar rechtfertigen. Wenn eine Patientin oder ein Patient trotz begründeten Verdachts die Gewalterfahrung negiert, ist es dennoch hilfreich zu hören, dass eine begründete Sorge vorliegt und dass auch zu einem späteren Zeitpunkt Gesprächsbereitschaft besteht. Diese Signale sind nicht zu unterschätzen, ebenso wie weitere Informationen über spezielle Unterstützungsangebote.“

Die Toolbox listet konkrete Beispielsätze auf, mit denen das heikle Thema eingeleitet werden kann: „Fühlen Sie sich zu Hause sicher?“; „wissen Sie, wir haben hier öfter Patientinnen, die mit körperlichen Verletzungen zu uns kommen, weil sie von jemandem, der ihnen nahesteht, verletzt worden sind. Es gibt Hilfe!“; „es ist gut verständlich, dass es ein schwieriges Thema ist. Wenn Sie noch nicht so weit sind – ich bin für Sie da! Und Sie können jederzeit später wiederkommen.“

Die Toolbox wurde seit dem Launch im September 2020 laufend aktualisiert und nun auf den niedergelassenen Bereich erweitert, erklärt Projektleiterin Michaela Pichler von der Gesundheit Österreich GmbH: „Der niedergelassene Bereich ist für uns sehr wichtig, weil hier gute Chancen bestehen, Betroffene von Gewalt zu erkennen. Diese Gatekeeper-Funktion birgt aber auch Herausforderungen“, betont sie. Im Dorf oder in der Wohnanlage wissen die Behandelnden vielleicht von einem aufrechten Betretungs- und Annäherungsverbot, oder ob das Jugendamt bereits im Einsatz ist. „Es ist ein Vorteil, dass niedergelassene Ärzte und Ärztinnen oft eine jahrelange Beziehung zu ihren Patienten haben, abseits vom Akutfall. So können sie komplexe Folgeerscheinungen wie psychosomatische Symptome oder Wesensveränderungen bemerken. Der Kontext kann aber auch ein Nachteil sein, etwa wenn die ganze Familie behandelt wird und man am Land ins soziale Gefüge stark eingebunden ist – das macht es schwer, jemanden anzuzeigen“.

„Es braucht Sensibilität, Mut und wenn Gefahr im Verzug ist, auch entschiedenes Tun“, sagt Westreicher, die von der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte in die Toolbox-Arbeitsgruppe entsandt wurde.

Das Einmaleins des Gewaltschutz

„Wer kümmert sich um was?“ – das ist die entscheidende Frage beim Gewaltschutz. Eine Telefonnummer, eine konkrete Ansprechperson und regionale Anlaufstellen sollte man mitgeben können. Die passenden Kontakte sind in neun Bundesländerversionen in der Toolbox zu finden und auch über die Regionalseiten der Ärztekammern abrufbar.

In der Mehrzahl sind die Opfer von häuslicher Gewalt Frauen, Männer sind zu rund 10 % betroffen, meist pflegebedürftige Personen. Westreicher, erste Vizepräsidentin der Ärztekammer Oberösterreich, arbeitet als Wahlärztin in der Kinderheilkunde und in der Mütterberatung. Sie macht sich keine Illusionen über die Handlungsmöglichkeiten, will aber Kollegen ermutigen, es nicht unversucht zu lassen: „Mit 1.300 Euro Pension zeigst du deinen prügelnden Ehemann vermutlich nicht an, aber du kannst einmal die Polizei rufen. Frauenhäuser können die Chance auf einen Neuanfang sein.“

Im Regelfall gibt es in der Praxis kein großes Team – man ist auf sich allein gestellt und die Verantwortung nicht teilbar. Daher wird im Leitfaden genau festgehalten, wo die Verantwortung beginnt und endet, damit die eigenen Grenzen gut abgesteckt werden können. Es gibt Fälle, die an ein Krankenhaus delegiert werden müssen, wo andere Möglichkeiten für die Spurensicherung und bessere Schutzräume vorhanden sind. Bei der Frauenhelpline können Mediziner zudem fallbezogen Rücksprache halten – sie ist 24 Stunden besetzt. Im Ärztegesetz sind Meldepflichten verankert, als Ausnahmen von der Verschwiegenheitspflicht. Im Einzelfall werden die beiden Pflichten gegeneinander abgewogen. Wer die einzelnen Schritte dokumentiert und begründet, hat im Regelfall keine rechtlichen Konsequenzen zu befürchten.

Den Anfang machen die Spitäler

Es gibt Unterstützungsangebote für Betroffene, aber sie werden nicht immer in Anspruch genommen. Eine Prävalenzstudie der Statistik Austria aus 2021 ergab, dass Betroffene Hilfe im Gesundheitssystem suchen und bekommen können, die es aus verschiedenen Gründen nicht zur Polizei oder zu Gewaltschutzeinrichtungen schaffen. Der Leitfaden „Häusliche Gewalt: Erkennen, ansprechen, dokumentieren und weitervermitteln“ ist stetig gewachsen und in den Spitälern seit 2020 im Einsatz. Ausgangspunkt war die sogenannte „Istanbul Konvention“, das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Akutkrankenanstalten sind seit 2011 verpflichtet, Opferschutzgruppen einzurichten; Kinderschutzgruppen sind dort seit 2004 Pflicht. 95 Prozent der Krankenanstalten hierzulande haben aufrechte Opfer- und Kinderschutzgruppen, „wiewohl es Luft nach oben gibt, was die nachhaltige Absicherung der Arbeiten betrifft“, erläutert Dr. Christina Dietscher, Abteilungsleiterin im Gesundheits- und Sozialministerium.

Es geht um die Sensibilisierung von noch mehr Gesundheitsfachkräften, die Unterstützungsangebote aufzeigen, und noch mehr Möglichkeiten, Betroffene auf einem schwierigen Weg zu unterstützen. Einen weiteren wichtigen Schritt sieht Dietscher in der künftigen Vernetzung mit den spezialisierten Gewaltschutzambulanzen, deren Aufbau vom Justizministerium 2024 weiter vorangetrieben wird. In der Uniklinik in Innsbruck können Gewaltbetroffene jede Person ansprechen und einen Termin mit „Doktor Viola“ verlangen – vom Portier bis zur Reinigungsfrau, ob bei der Anmeldung, bei einer Pflegeperson oder im ärztlichen Gespräch. Das Codewort kennt jeder im Haus, es löst einen standardisierten Prozess aus.

Vom Gatekeeper zum Missing Link

Bewährte Leitfäden und Checklisten für niedergelassene Ärzte wurden durch einen interdisziplinären Fachbeirat aktualisiert, angepasst und erweitert. Es ging nicht darum, das Rad neu zu erfinden, sondern bewährte Rezepte zur Verfügung zu stellen. „Wenn alle Gesundheitsfachkräfte ihre Gatekeeper-Funktion gemeinsam erfüllen, wären sie das Missing Link“, sagt Mag. Michaela Pichler. Die Toolbox ist für sie nur der Anfang: „Wir arbeiten an einem langwierigen Prozess, in dem sämtliche Gesundheitsfachkräfte bereits in der Ausbildung geschult werden sollen. Die Toolbox und der Leitfaden ersetzen standardisierte Schulungen nicht, aber es war wichtig, nicht darauf zu warten.“

Häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder hat systemische Folgen. Die Statistik Austria legt für Frauen Daten vor (2021): „17,71 % der Frauen, die innerhalb der vergangenen fünf Jahre körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlebt haben, trugen körperliche Verletzungen davon. Unter psychischen Folgen leiden 22,19 % der Frauen. Insgesamt berichten damit 29,89 % von gesundheitlichen Folgen – körperlich und/oder psychisch.“

Wer als Missing Link im Gewaltschutz wirken möchte, respektiert das Tempo und das Selbstbestimmungsrecht der Patientin; informiert über die berufliche Schweigepflicht bzw. die Anzeigepflicht; verurteilt die Gewalttat, nicht den Täter, um keine weiteren Schuldgefühle beim Opfer zu wecken; vermeidet eine Re-Traumatisierung durch detailliertes Nachfragen; vermittelt Informationen; mobilisiert Ressourcen; nutzt seine Chance.


Metadaten
Titel
Vom Abhören zum Zuhören
Schlagwort
Vergewaltigung
Publikationsdatum
01.12.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 49/2023

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