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Ärzte Woche

01.12.2023 | Allgemeinmedizin

Nicht ins Dunkel

verfasst von: Astrid Kuffner

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Ärztinnen und Ärzte sind Menschen und machen Fehler. Auch ein unvorhersehbarer oder nur beobachteter Zwischenfall in der Ordination kann ausreichen, um zum zweiten Opfer zu werden. Gerade im niedergelassenen Bereich bleiben Betroffene mit dem Erlebten oft alleine. Der Verein Second Victim bietet in ganz Österreich anonym und kostenlos Entlastungsgespräche an.

„Die niedergelassenen Ärzte und Ärztinnen sind wirklich ganz alleine damit“, sagt Stephanie Niederhuber, Koordinatorin und eine der ehrenamtlichen psychosozialen Beraterinnen des Vereins Second Victim. Ein Erlebnis reicht aus. Der eine Fall, der einem nachgeht und nachhängt, vielleicht Alpträume bereitet. Die Situation, die man um jeden Preis künftig vermeiden will. Wenn Ärztinnen und Ärzte etwas übersehen oder falsch einschätzen, einen Fehler machen oder den Tod nicht abwenden können. Ein Schicksal macht plötzlich ganz anders betroffen, wenn eine Patientin einem geliebten und vertrauten Menschen gleicht. Wenn Angehörige und Patientinnen oder Patienten aggressiv werden, weil sie ihren Fall dringlicher einschätzen.

Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen bleiben die ersten Opfer. Menschen in heilenden und pflegenden Berufen können jedoch zum zweiten Opfer, zu sogenannten Second Victims , werden. Sie können so erschüttert werden, dass sie ihre Arbeit erst einmal nicht mehr machen können.

Der eine Zwischenfall

Der US-amerikanische Arzt Dr. Albert Wu von der Johns Hopkins University, The Bloomberg School of Public Health, hat den Fachbegriff Second Victim im Jahr 2000 geprägt, doch er ist „noch nicht so bekannt, wie wir es uns wünschen würden“, so Stephanie Niederhuber. Wu definierte als Second Victim eine im Gesundheitsbereich tätige Person, die einen Fehler gemacht hat und dadurch selbst traumatisiert wurde.

Susan D. Scott, Managerin Patientensicherheit & Riskomanagement, University of Missouri Health System, erweiterte die Definition 2009 auf „eine medizinische Fachperson, die durch einen unvorhergesehenen Zwischenfall am Patienten, einen medizinischen Fehler und/oder einer Verletzung der/des Patienten/Patientin selbst zum Opfer wird, da sie durch dieses Ereignis traumatisiert wird“. Die neueste Definition der Arbeitsgruppe des European Researchers’ Network Working on Second Victims (ERNST) 2022 lautet: „Any health care worker, directly or indirectly involved in an unanticipated adverse patient event, unintentional healthcare error, or patient injury, and who becomes victimized in the sense that they are also negatively impacted.“

Es muss nicht immer ein Trauma sein. Ein Erlebnis kann einem „nachgehen“, wenn man nicht damit rechnet und es „nur“ beobachtet. Manche finden den Opferbegriff unpassend. Doch er beschreibt ganz gut, dass man sich das Schicksal nicht aussuchen kann. Dass von einem Moment auf den anderen eine gravierende Veränderung eintritt. Die Arbeitsbelastung alleine hinterlässt keine Second Victims . Strukturelle Bedingungen, eine Pandemie, Zeitdruck, Personalmangel oder schlechte Kommunikation können begünstigen, dass dieser Zwischenfall eintritt.

Diverse Symptome

Der Patient, kurz vor Ordinationsschluss eingeschoben, bei dem etwas übersehen wird. Eine falsche Entscheidung, weil man eingesprungen ist. Ein Notfall im Wartezimmer, der nicht erkannt wird. Ein Kind, im gleichen Alter, mit den gleichen braunen Augen wie dein eigenes, das stirbt. Wenn das Erlebte nicht aufgearbeitet wird, können Helfende und Heilende, die es gewohnt sind zu behandeln, selbst krank werden.

Wie sich Verstörung, Schuldgefühle oder die Last der Verantwortung äußern, ist sehr individuell. Eine traumatische Situation kann in den Alltag einbrechen und in unkontrollierbaren Flashbacks immer wieder durchgespielt werden. Vordergründig weniger gravierend, aber auf Dauer untragbar sind Symptome wie Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, permanente Anspannung, nagende Traurigkeit, Suchtverhalten und Selbstzweifel, Abgestumpftheit und Vermeidungsverhalten. Wer die psychischen und physischen Signale ignoriert, kann irgendwann nicht mehr arbeiten. Macht einen Bogen um vergleichbare Situationen, geht in Krankenstand, wechselt den Bereich, steigt aus.

Angebote des Vereins

Der Verein Second Victim hat im Jahr 2022 100 Beratungseinheiten für Betroffene zur Verfügung gestellt. Damit sind die Kapazitäten bei Weitem noch nicht ausgereizt, wie Stephanie Niederhuber klarstellt. Betroffene versuchen oft lange, es mit sich selbst auszumachen.

Das kann auch Andrea Berthold, diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin mit jahrzehntelanger Erfahrung von der Betten- bis zur Intensivstation, bestätigen. Bei ihr summierten sich letztlich einzelne Erlebnisse. Verrohte Sprache, hierarchische Schikane, ein Springereinsatz, von Krise zu Notfall hetzen, einen Verstorbenen nicht verabschieden … obwohl sie beileibe keine Anfängerin war, konnte sie die Belastung irgendwann nicht mehr mit der Arbeitskleidung an der Garderobe ablegen. Sie nahm sie mit nach Hause zu ihrer Familie, stand ständig unter Strom. Bis sie alle ihre wunden Punkte ansprechen konnte, verging Zeit. Manche Tage liefen besser, viele liefen schlecht.

Dass sie erstmals mit einer außenstehenden Person vom Fach darüber reden konnte, beruht auf einer glücklichen Fügung. Nicht auf einem etablierten System. Heute arbeitet sie selbst als Peer für Pflegepersonal im Krankenhaus. Sie kann bestätigen, dass es oft nur ein vertrauliches Gespräch braucht. Eine wohlmeinende Person, die zuhört. Debriefings, Krisenintervention und Supervision sind bei Rettungs- und Einsatzkräften gelebte Normalität. Warum nicht im Krankenhaus? Unter Allgemeinmedizinern, Fachärztinnen und -ärzten?

Die Dunkelziffer an Second Victims ist hoch. Vermutlich können viele Kolleginnen und Kollegen nennen, denen „so etwas“ schon passiert ist. Eine Befragung unter Medizinerinnen und Medizinern der Dachorganisation der deutschen Notarztarbeitsgemeinschaften ergab einen Anteil von 60 Prozent, die bereits betroffen waren. Davon geht auch der österreichische Verein aus.

„Wir haben eine strafende Fehlerkultur und gerade im Gesundheitswesen Selbstbilder, die es schwer machen, sich einzugestehen, dass einen eine Situation mitnimmt. Ich bin die Gesunde, der Patient ist krank. Ich bin stark, ich darf keine Schwäche zeigen. Ebenfalls nicht auszurotten ist das schnell gefällte Urteil: Wenn Du es nicht aushältst, dann bist du im falschen Beruf“, fasst es die Koordinatorin von Second Victim zusammen.

Im September 2023 veröffentlichte der Verein, der 2021 von den beiden Anästhesistinnen und Intensivmedizinerinnen Dr. Eva Potura und Dr. Barbara Sitter sowie dem Unfallchirurgen Dr. Herbert Huscsava gegründet wurde, eine Befragung von Kinderärzten und Kinderärztinnen. Die erste quantitative Erhebung zum Second Victim- Phänomen in Österreich ist in „Healthcare“ erschienen. Darin gaben 89 Prozent der befragten Pädiaterinnen und Pädiatern an, zumindest einmal im Berufsleben mit einem traumatisierenden Erlebnis konfrontiert gewesen zu sein. Zwei von drei Befragten waren sogar mehrfach betroffen. Aggressive Patientinnen und Patienten oder Angehörige sowie ein unerwarteter Todesfall wurden am häufigsten als belastende Ereignisse genannt. Neben geeigneter Rechtsberatung äußerten Betroffene den Wunsch, niederschwellig mit einem Kollegen oder einer Kollegin sprechen zu können.

Worte heilen zuerst

Was hilft dem Second Victim, nachdem er oder sie sich eingestanden hat, Hilfe zu brauchen? Der Verein forscht und klärt auf, er betreibt aber auch ein Krisentelefon für medizinisches Personal. Wenn einem alles über den Kopf wächst, ist diese Akuthilfe derzeit zweimal die Woche – einmal vormittags, einmal nachmittags – erreichbar. Das Krisentelefon soll ab 2024 täglich zwölf Stunden besetzt sein. Jederzeit können Betroffene den Verein per E-Mail unter beratung@secondvictim.at kontaktieren.

„Schreib es Dir von der Seele“ steht in bunten Lettern auf der Website. Manchmal reicht es, Frust und Trauer niederzuschreiben. Oder eine empathische Antwort. Ein weiterführendes Angebot zum Gespräch. Stephanie Niederhuber und Andrea Berthold wollen Betroffene ermutigen. Beratungs- und Therapiestunden können über Second Victim kostenlos und anonym gebucht werden – bis zu zehn Stunden. Im Team des Vereins sind in ganz Österreich Psychotherapeutinnen und -therapeuten und psychosoziale Fachkräfte ehrenamtlich tätig.

Ärztinnen und Ärzte kennen es eigentlich aus ihrem Ordinationsalltag: nicht alle Symptome vergehen von selbst. Die Beratungseinheiten werden durch Spenden finanziert und die Vermittlung erfolgt rasch. So wie es von Mensch zu Mensch unterschiedlich lange dauert, bis Überforderung benannt und darüber geredet werden kann, braucht auch die Bewältigung des Erlebten unterschiedlich viel Zeit. Oft reicht aber ein einziges entlastendes Gespräch aus, um aus einer Spirale wieder auszusteigen, berichten die psychosoziale Beraterin und die diplomierte Krankenpflegerin übereinstimmend.

Als Allgemeinmedizinerin oder Fachärztin im niedergelassenen Bereich zu arbeiten, hat derzeit das höhere Risiko, weil Peer SupportProgramme in heimischen Krankenhäusern schon weiter fortgeschritten sind. Der Verein Second Victim wird ab 2024 ein Peer-Ausbildungsprogramm zur Verfügung stellen. In der Ausbildung werden Grundkompetenzen für den Umgang mit belastenden Situationen, Wissen über Stress und Stressauswirkungen und professionelle Gesprächsführung erlernt. Interessierte, die sich vorstellen können, als Peers für Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich wirksam zu werden, melden sich gerne beim Verein. Das Team will eine entsprechende dezentrale Struktur in Österreich aufbauen.

Auch Prävention und politische Forderungen sind auf der Vereinsagenda. So soll die Traumatisierung durch ein belastendes Ereignis am Arbeitsplatz als Arbeitsunfall oder Berufskrankheit gewertet werten, wie das in Deutschland bereits der Fall ist. Es gibt außerdem ein Fort- und Weiterbildungsprogramm. Handlungsbedarf sehen alle Beteiligten jedenfalls dringend gegeben. Aktuell laufen zwei quantitative Erhebungen zum Second Victim-Phänomen, denn belastbare Zahlen lassen sich nicht so einfach wegdiskutieren wie Dunkelziffern. Befragt werden Pflegekräfte und Hebammen.

Es ist übrigens egal, ob die Bezeichnung Second Victim passend gewählt ist oder nicht. Wenn Sie sich im Gelesenen wiedererkennen, nehmen Sie Hilfe in Anspruch. Professionelle Unterstützung ist angezeigt, wenn:

- Sie mit intensiven Gefühlen oder körperlichen Reaktionen nicht umgehen können;

- körperliche Symptome nicht verschwinden;

- Sie immer wieder Alpträume haben, die Beziehung unter Druck gerät oder Sie vermehrt Streit am Arbeitsplatz haben.

- Sie nach einem Vorfall selbst einen Unfall oder Panikattacken hatten;

- Sie anhaltend mehr rauchen oder trinken;

- Sie sich vor der Wiederholung des Ereignisses fürchten und nicht zum Leistungsniveau davor zurückfinden.

Metadaten
Titel
Nicht ins Dunkel
Publikationsdatum
01.12.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 49/2023

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