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Erschienen in: ProCare 3/2023

01.04.2023 | PFLEGE & WISSENSCHAFT Zur Zeit gratis

Cochrane Pflegeforum

Standardisiertes Dekubitus-Risikoassessments versus klinische Beurteilung — Einfluss auf die Inzidenz von Dekubitus im Krankenhaus

verfasst von: Camilla Neubauer, BSc, MA

Erschienen in: ProCare | Ausgabe 3/2023

Einleitung

Dekubitus wird definiert als „eine lokal begrenzte Schädigung der Haut und/oder des darunter liegenden Gewebes, typischerweise über knöchernen Vorsprüngen, infolge von Druck oder Druck in Verbindung mit Scherkräften“ [1]. Gefährdet sind vor allem ältere Patientinnen und Patienten oder diejenigen, welche durch Immobilität oder Empfindungsstörungen beeinträchtigt sind [2].
Um das Risiko der Entstehung von Dekubitus zu bewerten und abzubilden, wurden strukturierte Risikobewertungsinstrumente entwickelt [3]. Zu diesen zählen unter anderem die Norton-Skala, Waterlow-Skala, Braden-Skala oder die Ramstadius-Skala [4]. In der internationalen Literatur wird häufig ein grundsätzliches Risikoscreening [57] oder zum Teil auch eine reflektierte Anwendung dieser Instrumente empfohlen [8]. Sie dienen als praktisches Hilfsmittel, um potenzielle Risikofaktoren, insbesondere für weniger erfahrene Pflegefachkräfte, zu identifizieren und in Folge Pflegeinterventionen anzupassen [3].

Fragestellung & Methode

Eine beschleunigt erstellte Evidenzsynthese (Rapid Review) bildet die Grundlage des vorliegenden Artikels [9]. Diese widmete sich der Fragestellung welchen Einfluss die Anwendung eines Instruments zur Einschätzung des Dekubitus-Risikos bei erwachsenen Patientinnen und Patienten im klinischen Setting auf die Anzahl neu auftretender Dekubitus-Fälle während des Krankenaufenthalts im Vergleich zur Einschätzung ohne Instrument/mittels klinischer Beurteilung hat.

Auswahl der Studien

Die Basis des Rapid Reviews bildete eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken/Suchoberflächen CINAHL, JBI EBP Database, Ovid MEDLINE®, CDSR und CENTRAL (Cochrane Library). Alle Studien zu der genannten Fragestellung, die bis zum 28. September 2022 gefunden werden konnten, wurden berücksichtigt. Die Studien schlossen hospitalisierte, erwachsene Personen (≥18 Jahre) ein, bei denen die Risikoeinschätzung für Dekubitus mittels eines standardisierten Instruments im Vergleich zu keinem Instrument bzw. auf Basis klinischer Einschätzung erfolgte. Als relevanter Endpunkt wurde die Häufigkeit neuauftretender Dekubitalgeschwüre jeder Kategorie im Krankenhaus definiert.

Überblick über die Studien

Zwei relevante randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) [10, 11] konnten identifiziert werden. In der Studie von Webster et al. [10] wurden 1.231 Patientinnen und Patienten der Abteilung für Onkologie oder Innere Medizin eingeschlossen. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmenden lag knapp über 60 Lebensjahren. Circa 90 Prozent der Personen waren in der Lage, sich selbstständig umzupositionieren. Zu Beginn der Studie wurde eine Einteilung der Patientinnen und Patienten in drei Gruppen vorgenommen. Als standardisierte Messinstrumente zur Einschätzung eines Dekubitus-Risikos kamen entweder die Waterlow-Skala (n=411) oder die Ramstadius-Skala (n=410) zum Einsatz. In der Kontrollgruppe (n=410) erfolgte die Risikobewertung mittels klinischer Einschätzung ohne Instrument. Die Beobachtungsdauer der Patientinnen und Patienten lag bei vier Tagen.
In dem Cluster-RCT von Saleh et al. [11] wurden 256 Patientinnen und Patienten in einem Militärkrankenhaus auf neun verschiedenen Stationen untersucht. Das Alter sowie das Ausmaß der Mobilität der Personen wurde nicht berichtet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden in drei Gruppen eingeteilt, um unterschiedliche Methoden des Dekubitus-Risikoassessments zu vergleichen. Die erste Gruppe (n=74) erhielt eine verpflichtende Schulung zum Thema Wundmanagement und Dekubitusprävention sowie zur Braden-Skala, die sie nach der Schulung anwenden musste. Die zweite Gruppe (n=76) erhielt dieselbe Schulung wie die erste, musste jedoch die Braden-Skala nach der Schulung nicht anwenden. Die dritte Gruppe (n=106) absolvierte nur eine verpflichtende Schulung zum Thema Wundmanagement und schätzte das Dekubitus-Risiko ohne standardisiertes Instrument ein. Die Beobachtungsdauer lag bei acht Wochen.

Ergebnisse

Waterlow- bzw. Ramstadius-Skala versus Einschätzung ohne Instrument. Weder die Einschätzung des Dekubitus-Risikos mittels der Waterlow-noch mittels Ramstadius-Skala ergaben im Vergleich zur Risikoeinschätzung ohne standardisiertes Instrument einen statistisch signifikanten Unterschied in Bezug auf die Häufigkeit der Neuentstehung eines Dekubitus. Im Detail entwickelten in der Gruppe, in der die Waterlow-Skala genutzt wurde, 7,5 Prozent (31 von 411 Patientinnen und Patienten) und in der Gruppe, in der die Ramstadius-Skala angewendet wurde, 7,5 Prozent (31 von 411 Patientinnen und Patienten) und in der Gruppe, in der die Ramstadius-Skala angewendet wurde, 5,4 Prozent (22 von 410 Patientinnen und Patienten) einen Dekubitus. In beiden Gruppen wurde pro Person nur ein Dekubitus gezählt. In der angeführten Kontrollgruppe entstand bei 6,8 Prozent (28 von 410 Personen) ein Dekubitus.
Braden-Skala und Schulung versus Einschätzung ohne Instrument mit Schulung. Beim Vergleich der Gruppe, bei der eine Risikobewertung mittels Braden-Skala und Schulung stattfand, zu der Gruppe, in der die Risikobewertung von Dekubitus ohne standardisiertes Instrument und Schulung erfolgte, zeigte sich kein statistisch signifikanter Unterschied in der Häufigkeit der Entstehung von Dekubitus. In der Gruppe, die eine Schulung erhielt und die Braden-Skala nutzte, entwickelten 22 Prozent (16 von 74 Patientinnen und Patienten), in der genannten Vergleichsgruppe ebenfalls 22 Prozent (17 von 76 Personen) einen Dekubitus.
Braden-Skala und Schulung versus Einschätzung ohne Instrument und ohne Schulung. Beim Vergleich der Gruppen, in der die Braden-Skala und Schulung zur Risikobewertung angewendet wurde, zu der Gruppe, in der eine Risikobewertung von Dekubitus ohne standardisiertes Instrument sowie ohne Schulung erfolgte, wurde kein statistisch signifikanter Unterschied in der Häufigkeit der Entstehung von Dekubitus beobachtet. In der geschulten Gruppe, in der die Braden-Skala angewendet wurde, entwickelten 22 Prozent (16 von 74 Patientinnen und Patienten), in der beschriebenen Vergleichsgruppe 15 Prozent (16 von 106 Personen) einen Dekubitus.

Fazit

Der Vergleich des Einsatzes eines standardisierten Instrumentes zur Einschätzung eines Dekubitus-Risikos im Vergleich zu keiner Anwendung eines solchen bzw. der klinischen Risikoeinschätzung ergab keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der Entwicklung eines Dekubitus. Das Vertrauen in das Ergebnis ist niedrig bis moderat. Neue Studien werden einen wichtigen Einfluss auf die Einschätzung des Behandlungseffektes bzw. der Intervention haben.

COCHRANE PFLEGE FORUM: WISSEN WAS WIRKT

Das „Cochrane Pflege Forum“ ist eine Serie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Cochrane Zentrum und dem Cochrane Zentrum Österreich. Es zeigt in regelmäßigen Abständen den aktuellen Stand der Forschung in Form von Zusammenfassungen von Cochrane Reviews auf. Dabei werden unterschiedliche pflegerische Themen aufgegriffen. Ziel der Serie ist es, den Pflegekräften Forschungsergebnisse schneller und direkter zur Verfügung zu stellen.

EXPERTINNENKOMMENTAR

Karin Haubenwaller, BSc ist Pflegeberaterin/APN mit Schwerpunkt Wundmanagement im Haus der Barmherzigkeit. Sie spricht sich für einen reflektierten Einsatz von Risikoskalen aus und betont den Stellenwert einer laufenden Pflegeentwicklung.
In der Praxis werden im Rahmen der Dekubitusprävention häufig standardisierte Instrumente zur Risikoerfassung eingesetzt, obwohl deren Einsatz im Expertenstandard Dekubitusprophylaxe nicht empfohlen wird [6], Seite 116 p. Darüber hinaus kritisieren Pflegepersonen häufig, dass der Einsatz von Risikoskalen die Dokumentation lediglich um weitere Elemente ergänzt, ohne einen wesentlichen Nutzen zu erbringen. Dokumentation ist im Pflegebereich häufig negativ besetzt und wird als mühevoll und ständig umfangreicher werdend wahrgenommen [12]. Hier braucht es meiner Meinung nach eine Schärfung des Grundverständnisses für den Pflegeprozess. Aus meiner Sicht gilt es, die Anwendung von Risikoskalen differenziert zu betrachten. Der Einsatz von standardisierten Instrumenten kann in einem oft hektischen Pflegealltag dazu beitragen, dass wichtige Schritte des Pflegeprozesses nicht vergessen werden. So können Skalen eine Gedächtnisstütze sein, die Dokumentation erleichtern und vor allem die pflegerische Diagnostik unterstützen. Pflegepersonen werden durch standardisierte Instrumente zu einem systematischen Vorgehen angeleitet. Skalen können aber immer nur einen ersten Hinweis auf eine Problemlage liefern und niemals eine professionelle Einschätzung ersetzen. Pflegepersonen müssen in der Lage sein, Ergebnisse korrekt zu interpretieren und adäquate Schlussfolgerungen daraus zu ziehen [12]. Jede Risikobeurteilung, egal ob mit oder ohne Risikoskala, ist wertlos, wenn keine Konsequenzen folgen. Es ist daher essenziell, dass Pflegepersonen über aktuelles Wissen zu Dekubitusprävention verfügen. Dieses Wissen kann meiner Erfahrung nach am besten durch eine systematische Pflegeentwicklung und die laufende Praxisbegleitung, etwa durch eine Advanced Practice Nurse, nachhaltig vermittelt werden. Das Potenzial von Risikoskalen, den Pflegeprozess zu ergänzen, kann nur ausgeschöpft werden, wenn diese adäquat eingesetzt und laufend weiterentwickelt sowie validiert werden.

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Literatur
2.
Zurück zum Zitat Mervis JS, Phillips TJ. Pressure ulcers: Pathophysiology, epidemiology, risk factors, and presentation. J Am Acad Dermatol. 2019;81(4):881–90.CrossRefPubMed Mervis JS, Phillips TJ. Pressure ulcers: Pathophysiology, epidemiology, risk factors, and presentation. J Am Acad Dermatol. 2019;81(4):881–90.CrossRefPubMed
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Metadaten
Titel
Cochrane Pflegeforum
Standardisiertes Dekubitus-Risikoassessments versus klinische Beurteilung — Einfluss auf die Inzidenz von Dekubitus im Krankenhaus
verfasst von
Camilla Neubauer, BSc, MA
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
ProCare / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0949-7323
Elektronische ISSN: 1613-7574
DOI
https://doi.org/10.1007/s00735-023-1678-5

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