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Erschienen in: ProCare 3/2023

01.04.2023 | Pflege | INTERVIEW Zur Zeit gratis

„Die Pflege hat sich selbst über Wasser gehalten“

verfasst von: Thomas Filip

Erschienen in: ProCare | Ausgabe 3/2023

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Als diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger und Produktmanager beim Medizingeräteherstellers Arjo verfolgt Thomas Filip die aktuellen Entwicklungen in der Pflege sehr genau und kennt aus dem persönlichen Kontakt mit Berufsangehörigen die Probleme und Stimmungslagen. Sein Befund: Die Politik hat auf die geänderten Anforderungen und Entwicklungen im Berufsbild nicht ausreichend reagiert. Die Ergebnisse der im vergangenen Herbst präsentierten MISSCARE-Studie überraschen ihn nicht, er sieht sie aber differenziert, wie er im Gespräch mit PROCARE erklärt.
Sie kommen selbst aus der Pflege und kennen die Praxis gut — welche Faktoren sind aus Ihrer Sicht die Hauptgründe für Unzufriedenheit und Frustration im und letztlich den Rückzug aus dem Pflegeberuf?
FILIP: In den vergangenen Jahren haben sich die Aufenthaltszeiten der Patienten deutlich verringert. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer im Akutbereich beträgt zwischen fünf und sieben Tagen, in der Langzeitpflege habe ich nach Gesprächen mit Kundinnen und Kunden den Eindruck gewonnen, dass sich auch hier die Aufenthaltsdauer reduziert hat. In manchen Aussagen auf vier bis sechs Monate. Auch unser Lebensstil hat sich verändert: Viele Menschen verbringen ihre Freizeit heute risikobehafteter und die Zunahme von Freizeitaktivitäten, wie im Sommer Radfahren oder Skaten oder im Winter Skifahren oder Tourengehen und ähnliches, führen potenziell zu mehr Unfällen. Zudem auch dem Lebensstil geschuldet, führt das zu einem Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und ähnlichem und kann damit Einfluss auf höhere Patienten- und Bewohnerzahlen haben.
Der Pflegebedarf ist wesentlich höher, weil Patienten in kürzerer Zeit mehr Versorgung, Schulung, Mobilisierung usw. benötigen und die Bewohnerinnen und Bewohner in der Langzeitpflege, so gewinnt man den Eindruck, mit deutlich höheren Pflegestufen zur Aufnahme kommen. Auch der Anstieg der Zahl an Bewohnerinnen und Bewohnern mit demenziellen Erkrankungen hat Auswirkungen auf den Pflegebedarf = Aufwand. Aber der Personalstand ist im Wesentlichen unverändert. Auch im mobilen Bereich sind psychische und demenzielle Erkrankungen im Zunehmen bei einer Reduktion des sozialen Umfeldes.
Die administrative Arbeit hat sicher zugenommen, so dass in Summe die Arbeitslast gestiegen ist. Inwieweit Assistenzpersonal oder/und digitale Lösungen das Fachpersonal entlasten können, wird aus meiner Sicht eine der zukünftigen Diskussionen sein (müssen).
Das Bewusstsein über die wichtige Rolle der Pflege ist durch die Corona-Pandemie gestiegen, aber die Berufszufriedenheit ist offenbar noch gesunken.
FILIP: Es gab viele Versprechungen, aber in der Realität ist bisher nicht viel angekommen. Es ist an der Zeit, Versprechen und Wirklichkeit zur Deckung zu bringen, dass das, was der Pflege zugesagt wurde, auch einmal eingehalten wird, wie beispielsweise die Einhaltung der vereinbarten Arbeitszeit durch genügend Personal. Die durchschnittliche Verweildauer im Beruf beträgt zwischen fünf und sieben Jahre. Da muss man sich strukturell etwas überlegen, dass man die Leute mit Freude und Zufriedenheit im Beruf hält. Das ist nicht zwingend das Geld, das sind vor allem die Rahmenbedingungen.
Speziell in der Pandemie scheint man auf die Arbeitsbedingungen in der stationären Pflege im Krankenhaus, in der Langzeitpflege aber auch in der Hauskrankenpflege vergessen zu haben. Der psychische Druck durch die Kontaktsperre zu Angehörigen, die Schutzkleidung, die speziell für demenzkranke Personen die vertraute Umgebung völlig verfremdet haben, haben eine enorme psychische Herausforderung für Pflegende und Bewohnerinnen und Bewohner bzw. Kundinnen und Kunden dargestellt. Die Leistungen der Pflegepersonen in der Hauskrankenpflege wurden in den vergangenen Jahren zu wenig beachtet.
Wir wissen, dass die Menschen länger in den eigenen vier Wänden versorgt werden wollen, um selbstbestimmt und würdevoll leben zu können. Dazu müssen sie nicht nur punktuell mit beispielsweise einem Verbandwechsel, sondern grundsätzlich versorgt werden — auch sozial und präventiv, um möglichst lange eigenständig leben zu können und nicht zu vereinsamen. Ressourcenorientierung und Ressourcenförderung ist das große Thema, aber auch massiv zeitaufwendig. Die Angehörigenpflege kann hier nur zum Teil zum Tragen kommen, da viele Angehörige vielfach noch im Berufsleben stehen. Die mobile Hauskrankenpflege leistet hier Enormes aber auch hier, und sicher auch schon vor Corona, sind psychische und vor allem auch physische Belastungen (Mangel an Hilfsmitteln, Arbeitsfeld) ein gravierender Punkt bezüglich Arbeitszufriedenheit.
Glauben Sie, dass das Konzept der Community Nurse in der Hauskrankenpflege etwas bessern wird?
FILIP: Wie Beispiele in anderen Ländern zeigen, sind Community Nurses wichtig. Dabei geht die Krankenpflege zu den Klienten und kann auch Produkte zur Wund- oder Inkontinenzversorgung, die ja in die Kompetenz der Pflege fallen, verordnen. Auf der anderen Seite haben einige dieser Länder nicht dasselbe gut ausgebaute Hauskrankenpflege-Netzwerk, wie es in Österreich grundsätzlich aufgebaut ist. Aus meiner Sicht sind Community Nurses und Hauskrankenpflege gut dazu geeignet, die kostenintensive stationäre Pflege sowohl in Akut-wie auch Langzeitpflege zu entlasten.
In diesem Zusammenhang glaube ich auch, dass es wichtig ist, die Verordnungskompetenz für die Pflege einzuführen. Wir haben exzellent ausgebildete und kompetente Bachelor und Master in der Krankenpflege, diplomiertes Krankenpflegepersonal mit ebenfalls exzellenter Ausbildung und Erfahrung. Die weiterhin bestehende Abhängigkeit von niedergelassenen Ärzten bei der Verordnung bestimmter Produkte ist meiner Meinung nach ein bisschen absurd. Das würde aus meiner Sicht ebenfalls Entlastung bringen. Auch die Primary Healthcare Centers — PHC könnten viel Last aus dem stationären Bereich, vielleicht auch aus dem Langzeitpflegebereich nehmen. Wenn Patienten daheim richtig und umfassend versorgt werden, wird man sie wahrscheinlich nicht so bald in eine Langzeitpflegeeinrichtung transferieren müssen. Community Nursing und Primary Health Care-Zentren sind, wie die Praxis in anderen Ländern zeigt, sicher der nächste Schritt in der Gesundheitsversorgung. Aber diese Dinge dauern bei uns politisch leider viel zu Lange.
Hat die MISSCARE Austria Studie für Sie etwas Unerwartetes ergeben?
FILIP: In der MISSCARE Studie wurden erstmals für Österreich auf Evidenzebene anerkannte Probleme dargestellt, das ist sehr wichtig. Das Gesamtergebnis der Studie hat mich aus den genannten Gründen nicht überrascht, allerdings ist die fast durchgängig hohe Anzahl an Missed Care-Situationen dann doch beunruhigend. Auch hier zeigt sich, dass es nicht gelungen ist, die Personalbedarfsberechnungen an die veränderte Situation anzupassen. Das betrifft nicht nur die Pflege, sondern auch den medizinischen Bereich. Aber wenn diese Situation des Mangels zu einem dauerhaften Zustand wird, nimmt man damit in Kauf, dass die Pflegequalität, trotz formaler Höherqualifizierung durch das Bachelor- oder Masterstudium, nicht auf dem Stand ist, der unserem hochwertigen Gesundheitssystem angemessen ist. Es sind aber nicht nur die Bachelorabsolventen, die die Qualität der Pflege erhöhen, sondern der Großteil der Diplomierten Pflegekräfte, die Pflegefachund Pflegeassistenz sowie die Heimhilfen, die im Beruf stehen und die Voraussetzungen und den Anspruch für eine hohe Pflegequalität mitbringen und das System und die geforderte hohe Qualität aufrechterhalten.
„Die weiterhin bestehende Abhängigkeit von niedergelassenen Ärzten bei der Verordnung bestimmter Produkte ist meiner Meinung nach ein bisschen absurd.“
Bei der doch oft sehr kurzen Aufenthaltszeit in der Akutpflege haben manche Pflegehandlungen dann vielleicht nicht die erste Priorität, sondern werden in der nachfolgenden Betreuung auf andere Einrichtungen verschoben, je nachdem ob der Patient nach seiner Entlassung aus dem Akutspital nach Hause, in die Rehabilitation oder die Langzeitpflege geht.
Diese Priorisierung der Aufgaben sollte heute mit der Definition von Pflegezielen und der Pflegedokumentation besser möglich sein. Ich glaube, dass man die Prioritäten entsprechend setzen muss. Die Ergebnisse der MISSCARE-Studie sollten jedenfalls nicht dazu führen, dass Pflegekräften unterstellt wird, dass sie ihre Arbeit nicht gut machen. Ich glaube, man sollte stattdessen kommunizieren, dass jeder Arbeitsbereich Prioritäten mit klar definierten (und mit dem Patienten/ Kunden/ Bewohner vereinbarten) Pflegezielen hat, auf die sich die Pflege fokussieren kann. Dann entsteht nicht der Eindruck, notwendige Maßnahmen werden nicht durchgeführt, sondern es ist klar, dass diese von einer anderen Einheit übernommen werden. Es geht darum, die richtigen Prioritäten zum richtigen Zeitpunkt beim richtigen Patienten zu setzen und das auch mit den richtigen Personalqualifikationen und Ressourcen.
Wie könnte man die Situation für die Pflegepersonen relativ kurzfristig aber auch längerfristig verbessern?
FILIP: Das geht nur über das Einhalten von Versprechen und die Verbesserung der Bedingungen, unter denen jemand arbeitet. Dass die Bevölkerung älter wird, war demographisch absehbar. Damit war auch klar, dass wir einen höheren medizinischen und pflegerischen Bedarf haben werden.
Der „Pflegeskandal“ ereignete sich Ende der 80er Jahre und man gewinnt den Eindruck, dass wir heute noch immer vom selben Problem reden. Wir haben immer wieder Pflegeskandale, in denen Bewohnerinnen und Bewohner gequält werden — auch wenn nicht juristisch bestätigt. Das Thema Gewalt und Zunahme der Gewaltbereitschaft sowohl von Mitarbeitern gegenüber Bewohnerinnen und Bewohnern/ Patientinnen und Patienten als auch vermehrt umgekehrt, ist massiv gestiegen. Bewohnerinnen und Bewohner, Kundinnen und Kunden sowie Patientinnen und Patienten und zum Teil auch deren Angehörige werden verbal oder physisch zunehmend aggressiv gegenüber Pflegenden.
Es braucht meiner Meinung nach Schulung und vor allem Sensibilisierung zum Thema und Entlastungsangebote für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Durch die kontinuierliche Überforderung der Pflegenden und mangelnde Kompensations- und Reflexionsangebote für diese kann es vermehrt zu Gewaltsituationen kommen.
Man hat es nicht geschafft, das Gesundheitssystem mit der demographischen Entwicklung in Einklang zu bringen, und hat alle, die jetzt im Beruf sind, egal ob akademisiert, diplomiert, Pflegeassistenz oder Pflegefachassistenz, im Regen stehen gelassen. Aus meiner Sicht fehlen hier Entlastungs — und Begleitangebote für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und da meine ich nicht nur die sechste Urlaubswoche.
Dazu gehören unter anderem die Harmonisierung der Personalschlüssel bundesweit, massive Ausbildungsoffensiven, das Arbeiten am Übergang zwischen Theorie und Praxis — von beiden Seiten und das Arbeiten mit der neuen Generation Z — Teilzeitarbeit und Dienstplantreue.
Ich sehe als roten Faden durch alle diese Fragestellungen das Fehlen der politischen Konsequenz. Jeder sagt, die Pflege ist wichtig, aber es fehlt die Konsequenz festzustellen, wer pflegt wen und warum und vor allem: Wo sollen diese Pflegekräfte herkommen. Dazu muss man die Attraktivität des Berufes ganz grundsätzlich besser darstellen. Ich weiß nicht, ob das bei allen Menschen richtig angekommen ist, was Pflege in der Gesellschaft leisten könnte und sollte bzw. jetzt schon Enormes leistet. In der Pflege hat sich in den vergangenen Jahren sehr viel verändert, wenn ich z.B. das Wundmanagement, die gesamte Fachpflege und die Qualität der Arbeit, aber auch die Diskussion über Pflegewissenschaft, Ausbildungsgrade, und -stufen anschaue. Immer noch möchten junge Leute diesen Beruf ausüben, weil er interessant und attraktiv ist. Das ist aber nicht der Politik, sondern der Pflege an sich zu verdanken. Die Pflegekräfte haben trotz des geringeren Personalstands die Qualität der Pflege aufrechterhalten und haben gearbeitet. Die Pflege hat sich selbst über Wasser gehalten. Politisch und wirtschaftlich ist da nichts gekommen. Der wirtschaftliche Druck auf die Häuser und die Hauskrankenpflege ist gewachsen und natürlich muss man letztlich auch wirtschaftlich denken. Aber wir wollen uns in Österreich ein Gesundheitswesen leisten, das auf die demographische Veränderung eingeht — und das kostet Geld.

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Metadaten
Titel
„Die Pflege hat sich selbst über Wasser gehalten“
verfasst von
Thomas Filip
Publikationsdatum
01.04.2023
Verlag
Springer Vienna
Schlagwort
Pflege
Erschienen in
ProCare / Ausgabe 3/2023
Print ISSN: 0949-7323
Elektronische ISSN: 1613-7574
DOI
https://doi.org/10.1007/s00735-023-1670-6

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