Open Access 02.08.2024 | Sozialmedizin | Originalie
Langzeitfolgen einer Intensivtherapie
Ein Appell für eine flächendeckende, strukturierte Nachsorge in Österreich
Erschienen in: Anästhesie Nachrichten | Ausgabe 3/2024
Zusammenfassung
Das Post-Intensive Care Syndrom (PICS) beschreibt Beeinträchtigungen der physischen, kognitiven oder psychischen Funktionen, die nach einem Intensivaufenthalt erstmals oder verstärkt auftreten. Diese Langzeitfolgen stellen eine Herausforderung für den Alltag Betroffener und deren Familien, aber auch für das Gesundheitssystem und den Arbeitsmarkt dar. Die strukturierte Nachsorge durch multiprofessionelle Teams in Form von Spezialambulanzen bzw. spezifischen Rehabilitationsprogrammen verbessert die Lebensqualität ehemaliger Intensivpatient:innen. In Österreich gibt es bisher keine flächendeckende Nachsorge für Betroffene. Ziel dieses Artikels ist die Sensibilisierung der Behandlungsteams und das Aufzeigen der Vorteile einer strukturierten Nachsorge mit Anbindung an das Krankenhaus.
Die Langzeitfolgen eines Intensivaufenthalts werden unter dem Begriff „Post-Intensive Care Syndrom (PICS)“ zusammengefasst und stellen eine Herausforderung für den Alltag Betroffener und deren Familien, aber auch für das Gesundheitssystem und den Arbeitsmarkt dar. Der folgende Artikel soll die Awareness hinsichtlich PICS innerhalb der verantwortlichen Behandlungsteams erhöhen. Darüber hinaus möchten wir einen Appell an die Krankenhausträger und Verantwortlichen im Gesundheitssystem richten, die Bestrebungen hinsichtlich der Etablierung einer flächendeckenden, strukturierten Nachsorge durch multidisziplinäre Behandlungsteams in Österreich zu unterstützen.
Das Post-Intensive Care Syndrom (PICS) beschreibt die nach einem Intensivaufenthalt neu aufgetretenen oder im Vergleich zu vorher verstärkt auftretenden Beeinträchtigungen der physischen, kognitiven oder psychischen Funktionen [1]. Zu den physischen Symptomen gehören u. a. verminderte Lungenfunktion, Bewegungseinschränkungen, Mangelernährung und Schlafstörungen [2]. Kognitive Symptome können Delirium, Gedächtnisverlust und eingeschränkte exekutive Funktionen umfassen, während psychische Symptome Angstzustände, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) einschließen [2].
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Internationale Daten zeigen, dass ca. 80 % der Überlebenden eines Intensivaufenthalts innerhalb des ersten Jahres nach der Entlassung aus dem Krankenhaus an PICS-Symptomen leiden [2]. Die Langzeitfolgen einer Intensivtherapie betreffen nicht nur die ehemaligen Patient:innen selbst: die psychische Belastung, die durch die Sorge um eine:n An‑/Zugehörige:n oder finanzielle Probleme entsteht, wirkt sich oft auch auf das nahe soziale Umfeld aus (PICS Family – Abb. 1; [1, 2]).
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Darüber hinaus hat PICS einen sozioökonomischen Aspekt: Betroffene können unter Umständen nicht mehr oder nur eingeschränkt ihren bisherigen sozialen Verpflichtungen (Stichwort: Care-Arbeit) und/oder ihrem Beruf nachkommen; anhaltende Symptome führen außerdem zu vermehrten Kontakten mit dem Gesundheitssystem und erhöhten Behandlungskosten [1‐4].
Zusammengefasst beeinträchtigt PICS die Lebensqualität und stellt eine Herausforderung für den Alltag Betroffener und deren soziales Umfeld, aber auch für das Gesundheitssystem und den Arbeitsmarkt dar.
In Österreich werden jährlich ca. 170.000 Patient:innen intensivmedizinisch betreut, wobei die Prävalenz von PICS bisher unbekannt ist [5]. Eine strukturierte Nachsorge mit Anbindung an das zuvor behandelnde Krankenhaus ist in Österreich bislang nicht flächendeckend etabliert; es gibt jedoch nationale Bestrebungen in diese Richtung, die unterstützt und gefördert werden sollten.
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Zu den nicht beeinflussbaren Risikofaktoren zählen höheres Alter, weibliches Geschlecht, psychische Vorerkrankungen sowie schwere Krankheitsverläufe (z. B. Sepsis, ARDS), die mit einer langen Intensivaufenthaltsdauer einhergehen [2]. Die meisten Risikofaktoren können jedoch durch individuell angepasste Behandlungsstrategien modifiziert werden: Vermeidung hoher Dosen von Sedativa, adäquate Schmerztherapie, kurze Beatmungsdauer, Delirprophylaxe, frühzeitige Mobilisation, bestmögliche Einbindung von An‑/Zugehörigen sowie die Möglichkeit zur Reflexion des Intensivaufenthalts nach Entlassung wirken sich positiv aus [1, 6, 7]. Eine enge interdisziplinäre Absprache und Zusammenarbeit sind dabei unerlässlich.
Obwohl eine Vielzahl von Risikofaktoren bekannt ist, gibt es derzeit keine verlässlichen Vorhersagemodelle, welche Patient:innen tatsächlich PICS-Symptome entwickeln werden [8, 9]. Um dennoch möglichst frühzeitig präventive Maßnahmen oder therapeutische Interventionen einleiten zu können, ist es notwendig, aufmerksam zu bleiben und (ehemalige) Intensivpatient:innen wiederholt auf das Vorhandensein von Risikofaktoren und/oder Symptomen zu screenen. Es wird empfohlen,
a.
Risikopatienten:innen bereits während des Aufenthaltes auf der Intensivstation zu identifizieren,
b.
während des weiteren Krankenhausaufenthaltes regelmäßig zu reevaluieren und
c.
zeitnah (innerhalb von 2–4 Wochen) nach der Entlassung aus dem Krankenhaus mittels standardisierter Tests zu untersuchen [8]. Dazu zählen u. a. der 6‑Minuten-Gehtest (6-MWT) und/oder der EuroQol-5D-5L Fragebogen zur Beurteilung der körperlichen Belastungsfähigkeit und Lebensqualität, das Montreal Cognitive Assessment (MoCA) zur Evaluierung kognitiver Dysfunktionen, die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) zur Beurteilung depressiver Symptome und die Impact of Events Scale-Revised (IES-R) zur Testung posttraumatischer Belastungsstörungen [8]. Um den eigenen Erfahrungswerten sowie personellen und zeitlichen Ressourcen Rechnung zu tragen, verwenden einzelne Zentren jedoch auch modifizierte/andere Tools. [10]
Multiprofessionelle Teams sind nicht nur für das Screening von Risikofaktoren und/oder Symptomen verantwortlich, sondern auch für die weitere Betreuung der Patient:innen, sofern Defizite festgestellt werden. Im Rahmen einer krankenhausbasierten, ambulanten Nachsorge könnten hierfür bereits bestehende Strukturen genutzt werden. Die Vorteile für die Patient:innen liegen auf der Hand: die einzelnen Professionen sind „unter einem Dach“ vereint, sodass die Wege auch bei fächerübergreifender Betreuung kurz sind. Sollte eine Nachbesprechung der Ereignisse rund um den Intensivaufenthalt (z. B. Erinnerungen an medizinische Interventionen, „Albträume“ im Rahmen eines Delirs, Gefühl der Hilflosigkeit durch Immobilität) gewünscht werden, ist es zielführend, mit den Teams der betreuenden Intensivstationen zu sprechen (alternativ mit Behandler:innen, die mit den Abläufen im jeweiligen Krankenhaus vertraut sind).
Die strukturierte Nachsorge ehemaliger Intensivpatient:innen in dem Krankenhaus, in dem sie zuvor intensivmedizinisch behandelt wurden, bringt einen weiteren Vorteil mit sich: Die Behandlungsteams erhalten direktes Feedback zu ihrer Arbeit auf der Intensivstation. Anhand der Rückmeldungen können Schwerpunkte für die Aus- und Weiterbildung festgelegt und neue Behandlungskonzepte entwickelt werden. Darüber hinaus können die Rückmeldungen der Patient:innen auch zur Reflexion des eigenen Rollenbilds als Behandler:in und zu mehr Zufriedenheit im Job beitragen [11].
Internationale Zentren haben u. a. Spezialambulanzen mit multiprofessionellen Teams zur strukturierten Nachsorge ehemaliger Intensivpatient:innen etabliert. Beispiele renommierter Einrichtungen sind die „PICS Hochschulambulanz“ der Charité (Berlin, Deutschland) oder das „ICU Recovery Center“ des Vanderbilt University Medical Center (Nashville, USA) [12, 13]. Neben der Betreuung der Betroffenen werden auch Informationsmaterialien zum Thema PICS und PICS-Family für An‑/Zugehörige auf den Homepages oder vor Ort zur Verfügung gestellt, um die Awareness zu erhöhen und die Betroffenen zu stärken (Empowerment). Mögliche Strategien zur Implementierung einer Ambulanzstruktur für ehemalige Intensivpatient:innen sind publiziert [14].
Daneben gibt es Programme, die eine frühzeitige, strukturierte Rehabilitation für ehemalige Intensivpatient:innen anbieten. Das schottische InS:PIRE-Programm (Intensive Care Syndrome: Promoting Independence and Return to Employment) wurde 2016–2018 als Studienprojekt begonnen und von der Health Foundation unterstützt [15]. Das fünfwöchige Reha-Programm richtet sich an ehemalige Intensivpatient:innen und deren An‑/Zugehörige und wurde zwischenzeitlich vom National Health Service (NHS) auf fünf Zentren in Schottland ausgeweitet [16]. Ärzt:innen, Fachpflegepersonal, Ergotherapeut:innen, Physiotherapeut:innen, Pharmazeut:innen und Psycholog:innen arbeiten in Einzel- und Gruppensitzungen mit den Betroffenen an einer Rückkehr in den gewohnten Alltag bzw. an einer Neuorganisation der bestehenden Strukturen [16]. Das Programm zeigte positive Auswirkungen auf die Lebensqualität aller Betroffenen, sowohl der ehemaligen Intensivpatient:innen selbst als auch ihrer An‑/Zugehörigen [17, 18]. Aktuelle Daten zeigen auch den potenziellen Benefit des Programms hinsichtlich des sozioökonomischen Aspekts [19].
Die internationalen Daten zum Thema PICS entfachten 2022 auch an der Klinischen Abteilung für Allgemeine Anästhesie und Intensivmedizin der Medizinische Universität Wien die Diskussion um eine strukturierte Nachsorge ehemaliger Intensivpatient:innen. 2023 begann ein Team engagierter Kolleg:innen mit der Vorbereitung und Durchführung sog. „Co-Creation Workshops“, im Rahmen derer die Bedürfnisse sowie die praktische Umsetzbarkeit einer PICS-Studienambulanz mit ehemaligen Intensivpatient:innen, deren An‑/Zugehörigen sowie einem multiprofessionellem Behandlungsteam diskutiert wurden.
Parallel dazu erfolgte die Vernetzung mit den PICS-Ambulanzteams des Vanderbilt Medical Center und der Charitè für einen „On-site Visit“ und den regelmäßigen fachlichen Austausch. Im März 2024 wurde schließlich im Rahmen des EU-geförderten Innovative Health Initiative (IHI)-Projekts „Smart and Silent ICU (SASICU)“ [20] die „PICS Studienambulanz“ eröffnet.
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Entsprechend dem zuvor beschriebenen internationalen Standard werden ehemalige Intensivpatient:innen dort an drei definierten Zeitpunkten innerhalb eines Jahres nach Entlassung aus dem Krankenhaus von einem multiprofessionellen Team (Abb. 2) auf das Bestehen von PICS-Symptomen untersucht. Durch die Verknüpfung des klinischen Outcomes mit hochauflösenden Daten, die während des Intensivaufenthalts gesammelt werden, sowie mit den Ergebnissen epigenetischer Untersuchungen wird das Studienteam einen Beitrag zur Entwicklung künftiger PICS-Vorhersagemodelle leisten.
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Abseits der wissenschaftlichen Arbeit haben wir festgestellt, dass das Angebot von den ehemaligen Intensivpatient:innen als sehr wertvoll empfunden und gut angenommen wird. Die Gespräche, die wir bisher mit den Betroffenen führen durften, sind bewegend und eine Bereicherung für die eigene Arbeit auf der Intensivstation. Umso wichtiger wäre es, solche Nachsorgeambulanzen künftig im Rahmen des Routinebetriebs im Krankenhaus allen ehemaligen Intensivpatient:innen anbieten zu können.
Dem Input der „Co-Creation Workshops“ folgend erarbeitete unser Team in den vergangenen Monaten außerdem Informationsmaterial zum Thema PICS für Betroffene und deren An‑/Zugehörige in Form kurzer Videoclips (Infobox 1).
Infobox Videos
Informationen für PICS-Betroffene und deren An‑/Zugehörige (PICS-F) bieten auch zwei Videoclips an, die vom MedUni Wien Team erarbeitet wurden:
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Seit August 2024 gibt es außerdem eine Peergruppe („ReSTART – Gemeinsam vorankommen in der Zeit nach dem Intensivaufenthalt“), die sich einmal monatlich online zum Erfahrungsaustausch trifft. Ehemalige Intensivpatient:innen und deren An‑/Zugehörige können sich dort vernetzen und über das Erlebte sprechen (Anmeldung offen für alle Betroffenen in Österreich, Mail an peer@viennapics.at).
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Die aktuelle Definition des Post-Intensive Care Syndroms wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich durch weitere Aspekte ergänzt werden. Daten zu Hormonstatus, Mikrobiom, neuromuskulären Veränderungen, geschlechtsspezifischen Aspekten der Langzeitfolgen, aber auch zum Beispiel zur Schlafqualität oder Copingstrategie/Resilienz werden derzeit nicht oder in (noch) geringem Umfang erhoben.
Aktuelle Strategien basieren – mit wenigen Ausnahmen (z. B. der Delir-Prävention) – darauf, im Sinne therapeutischer Maßnahmen zu reagieren, wenn PICS-Symptome festgestellt werden. Der Einsatz von Artificial Intelligence (AI) könnte helfen, künftig verlässliche Vorhersagemodelle zu entwickeln und zielgerichtet präventiv zu agieren.
Das Feedback ehemaliger Patient:innen ist eine wertvolle Ressource für die Reflexion der eigenen Arbeit und die Zufriedenheit im Beruf. Aufklärung und Information über die Langzeitfolgen eines Intensivaufenthalts für die Betroffenen, aber auch für die allgemeine Bevölkerung sind nicht zuletzt im Hinblick auf die öffentliche Diskussion über die Zukunft des österreichischen Gesundheitssystems wichtig.
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M. Wiegele, M. Hermann, O. Kimberger, E. Schaden und A. Tiboldi geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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