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Erschienen in: Schmerz Nachrichten 1/2024

Open Access 01.02.2024 | DFP-Fortbildung

Schmerztherapeutisches Management der diabetischen Polyneuropathie

verfasst von: ao. Univ.-Prof. Dr. Sabine Sator

Erschienen in: Schmerz Nachrichten | Ausgabe 1/2024

Hinweise

Fortbildungsanbieter

Österreichische Schmerzgesellschaft

Lecture Board

OÄ Dr. Waltraud Stromer, Abteilung für Anästhesie und allgemeine Intensivmedizin, Landesklinikum Horn, Horn, Österreich
Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar, MSc, Abteilung für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Klinikum Klagenfurt, Klagenfurt, Österreich

Aktualisierte Version

Bei diesem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete und den neuesten Erkenntnissen und bzw. der rezenten Literatur angepassten Version eines DFP-Beitrags, der in den Schmerz Nachrichten 3/2020 erstpubliziert wurde.
Literatur bei der Verfasserin

Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Jede:r zweite:r Diabetiker:in leidet an einer Polyneuropathie (PNP). Oft können schon kleinste Berührungen im Bereich der Füße oder der Unterschenkel unerträgliche Schmerzen auslösen. Das schränkt nicht nur die Lebensqualität massiv ein, sondern führt auch zu Problemen im Alltag.
Gemäß der Taxonomie der International Association for the Study of Pain (IASP) 2011 wird neuropathischer Schmerz als „Schmerz definiert, der durch eine Läsion oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystems verursacht wird“. Die endgültige Diagnose einer Neuropathie (NP) erfordert eine nachweisbare zugrundeliegende Läsion oder Erkrankung, die etablierte neurologische Diagnosekriterien erfüllt. Die schmerzhafte diabetische Polyneuropathie (dPNP) ist ein häufiger Subtyp der peripheren NP (pNP). Sie wird wie folgt definiert: auch „Schmerz als direkte Folge von Anomalien im peripheren somatosensorischen System bei Menschen mit Diabetes. Der neuropathische Schmerz wird entweder nach der zugrundeliegenden Läsion oder Erkrankung oder nach dem klinischen Phänotyp definiert und eingeteilt.“ Dieser pathologische Zustand beeinträchtigt neben der Lebensqualität die psychische Gesundheit der Patienten erheblich. Während der klinische Phänotyp für ein zukünftiges personalisiertes NP-Management nützlich sein kann, unterscheidet die 11. Auflage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) NP peripheren und zentralen Ursprungs und umfasst neun typische Erkrankungen, die mit persistierenden oder wiederkehrenden Schmerzen bei der Erkrankung einhergehen (Tab. 1 und 2).
Tab. 1
Klassifikation chronischer neuropathischer Schmerzen nach ICD-11
Top‑/First-Level-Diagnose
Chronischer neuropathischer Schmerz
Diagnose der zweiten Ebene
Chronischer peripherer neuropathischer Schmerz
Chronischer zentraler neuropathischer Schmerz
Diagnose der dritten Ebene
Trigeminusneuralgie
Chronische neuropathische Schmerzen nach peripherer Nervenverletzung
Schmerzhafte Polyneuropathie
Postherpetische Neuralgie
Schmerzhafte Radikulopathie
Chronischer zentraler neuropathischer Schmerz im Zusammenhang mit Rückenmarkverletzungen
Chronischer zentraler neuropathischer Schmerz im Zusammenhang mit Hirnverletzungen
Chronischer zentraler neuropathischer Schmerz nach Schlaganfall
Chronischer zentraler neuropathischer Schmerz im Zusammenhang mit MS
Tab. 2
Neuropathischer Schmerz aufgrund einer peripheren Nervenschädigung
Ätiologie
Typische neuropathische Schmerzsyndrome
 
Mechanisch (komprimierend/traumatisch)
Karpaltunnelsyndrom
Postoperative Schmerzen
Schmerzhafte Radikulopathie
Tumorschmerzen
Phantomschmerzen in den Gliedmaßen
Vollständige oder teilweise Nervendurchtrennung, chronische Einschnürung der Nerven
Stoffwechsel/ischämisch
Diabetische Polyneuropathie (dPNP)
Mangel an Vitamin B12
Hyperglykämischer Zustand oder durch Streptozotocin induziert; genetisch
Entzündlich (infektiös/autoimmun)
Postherpetische Neuralgie
HIV-Neuropathie
Lepra
Guillain-Barré-Syndrom
Kritische Krankheit
Polyneuropathie
Systemische oder spezifische Injektion viraler Proteine oder Zellen, z. B. Ischiasnerv
Ratten-Sepsis-Modell
Toxisch
Chemotherapie-induzierte periphere Neuropathie
Alkoholische Neuropathie
Injektion von Medikamenten oder Ethanol, systemisch oder gezielt, z. B. Ischiasnerv
Strahlung
Postbestrahlungsneuropathie
Röntgenstrahlung auf periphere Nerven
Genetisch
Charcot-Marie-Tooth-Krankheit
Morbus Fabry
Genetische Modelle der Maus (z. B. Mäuse mit ÿ‑GAL-Mangel für Morbus Fabry)
Allerdings entwickeln nicht alle Patient:innen, die von neuralen Störungen oder Läsionen betroffen sind, eine NP. Ausmaß und Schweregrad der NP variieren deutlich zwischen Patient:innen, die an derselben Grunderkrankung oder denselben Nervenläsionen leiden, insbesondere bei dPNP. Ob Patient:innen eine NP entwickeln oder nicht, scheint ein multifaktorielles Zusammenspiel psychosozialer, genetischer, biologischer und klinischer Risikofaktoren zu sein.
Chronische NP verursachen häufig großes Leiden, eine verminderte Lebensqualität und Behinderungen bei Patient:innen und sind ein wesentlicher Faktor, der zur globalen Krankheitslast beiträgt. Begleiterkrankungen wie Schlafstörungen, Angstzustände/Depressionen sowie starke Schmerzen treten bei mehr als der Hälfte der Betroffenen auf. Geschätzte 7–10 % der Bevölkerung sind in Europa von neuropathischen Schmerzen betroffen. Bei der schmerzhaften dPNP liegt die europäische Prävalenz jedoch deutlich höher zwischen 6 und 34 % bei Diabetes-mellitus-Patient:innen – von diesen können 20–50 % Schmerzen ausbilden. Risikofaktoren für die Entwicklung neuropathischer Schmerzen sind neben den ursächlichen Läsionen oder einer Dysfunktion des Nervensystems Alter, Geschlecht oder Schmerzdauer.
Die Prävalenz von NP wird wahrscheinlich zunehmen, da wir neben anderen Risikofaktoren mit einer alternden Bevölkerung, steigender Adipositas und einem Anstieg der Überlebensrate von Tumorpatient:innen konfrontiert sind, die möglicherweise unter den Folgen von Chemotherapeutika leiden. Eine systematische Erfassung der Inzidenz und Prävalenz von NP in der Allgemeinbevölkerung ist jedoch schwierig, da sich die aktuellen Versionen der Internationalen Klassifikation von Krankheiten (ICD‑9 oder ICD-10) auf die zugrunde liegenden Läsionen oder Krankheiten konzentrieren, und nicht darauf, ob diese vorhanden oder nicht schmerzhaft sind. Im Allgemeinen ist der Zusammenhang zwischen Schmerzen und der zugrunde liegenden neurologischen Erkrankung sehr unterschiedlich. Während bei manchen Krankheiten wie der postherpetischen Neuralgie oder der Trigeminusneuralgie in nahezu 100 % Schmerzen die auffälligste Manifestation sind, können sie bei anderen, wie der Chemotherapie-induzierten Neuropathie oder der dPNP, nur bei einer Untergruppe von Patient:innen auftreten. Selbst bei Patient:innen mit derselben zugrundeliegenden Ursache für eine NP können die schmerzhaften Symptome und Anzeichen je nach untersuchter Population, diagnostischen Instrumenten oder Kriterien unterschiedlich sein.
Die diabetische Polyneuropathie manifestiert sich zumeist an den Füßen, im weiteren Verlauf auch im Bereich der Unterschenkel und kann außerdem die Hände betreffen. Das Risiko steigt mit höherem Alter, zunehmender Diabetesdauer, unzureichender Diabeteseinstellung, verstärkt noch durch übermäßigen Alkoholkonsum, Rauchen und mangelnde körperliche Aktivität. Rezente Daten weisen bereits beim Prädiabetes auf eine erhöhte Prävalenz der distalen symmetrischen Polyneuropathie (DSPN) hin, insbesondere bei gleichzeitigem Vorliegen einer gestörten Glukosetoleranz und nicht normwertigen Nüchtern-Blutglukosewerten (Tab. 3). Häufig begleiten Komorbiditäten eine DSPN, etwa eine diabetische Retino- und Nephropathie, Adipositas, Hypertonie, periphere arterielle Verschlusskrankheit, Mediasklerose vom Typ Mönckeberg und Depressionen. Die Schmerzformen, die damit vergesellschaftet sind, gehören zum neuropathischen Formenkreis und gehen meist mit einschießenden starken, anfallsartig auftretenden Schmerzen einher, die stechend, brennend, elektrisch oder dumpf sein können. Nicht selten sind sie von Parästhesien, Hyper- und Hypästhesie, Hyperalgesie sowie Allodynie begleitet. Diabetiker:innen, die an einer Polyneuropathie leiden, haben im Bereich der Füße oder der Unterschenkel oftmals mit mechanischer Allodynie zu kämpfen, weshalb kleinste Berührungen unerträgliche Schmerzen auslösen. Sie ertragen beispielweise keine Socken oder können sich beim Schlafen nicht zudecken, was die Lebensqualität erheblich einschränkt und sie vor Probleme im Alltag stellt.
Tab. 3
Klassifikation der diabetischen Neuropathie. ([1, 2] © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020)
1. Diffuse Neuropathie
A. Distal-symmetrische Polyneuropathie (DSPN)
Symptomatische DSPN:
Schmerzhafte DSPM
Nichtschmerzhafte DSPN
Asymptomatische DSPN
B. Autonome Neuropathie (AN)
Kardiovaskuläre AN
Gastrointestinale AN
Urogenitale AN
Lungenfunktionsstörungen
Schweißsekretionsstörungen
Störungen der endokrinen Regulation
Pupillenfunktionsstörungen
C. Akute therapieinduzierte schmerzhafte und/oder autonome Neuropathie (TIND)
2. Mononeuropathie
Neuropathie einzelner kranialer oder peripherer Nerven
Multiple Mononeuropathie (Mononeuritis multiplex)
Kompressions- und Engpassneuropathie
3. Radikulopathie oder Polyradikulopathie
Radikuloplexusneuropathie (lumbosakrale Polyradikulopathie, proximale motorische Amyotrophie)
Thorakoabdominale Radikulopathie
Beim neuropathischen Schmerz gibt es sowohl Positiv- als auch Negativ-Symptome (Tab. 4).
Tab. 4
Positiv- und Negativ-Symptome beim neuropatischen Schmerz
PLUS-SYMPTOMATIK
MINUS-SYMPTOMATIK
Missempfindungen wie Kribbeln, Ameisenlaufen, Brennen, Stechen; primär nicht-schmerzhaft (Parästhesie) oder unangenehm/schmerzhaft (Dysästhesie)
Verminderte Berührungs- und Temperaturempfindlichkeit auf nicht-schmerzhafte Reize (Hypästhesie), v.a.:
– Reduzierte Empfindung eines Warm- oder Kaltreizes (Thermhypästhesie)
– Pelzigkeits- oder Taubheitsgefühl
Erhöhte Berührungs- und Temperaturempfindlichkeit auf nicht-schmerzhafte Reize (Hyperästhesie)
Überempfindlichkeit für Schmerzreize durch Druck, Hitze, Kälte (Hyperalgesie)
Reduzierte Empfindung auf schmerzhafte Reize; mechanisch, Hitze oder Kälte (Hypalgesie)
Schmerzempfindung auf eigentlich nie schmerzhafte Reize (Allodynie)
Verminderte Tiefensensibilität (Propriozeption)
Ruheschmerzen, ständig vorhandene brennende Schmerzen oder einschießende Schmerzattacken
Vermindertes Vibrationsempfinden (Pallhypästhesie)
Sensibilitätsstörungen zählen zu den typischen neuropathischen Symptomen, Schmerzen und Missempfindungen v. a. in Füßen und Unterschenkeln. Motorisch stehen Muskelkrämpfe und eine Stolperneigung wegen Fußheberschwäche im Vordergrund. Eine DSPN beginnt oft schleichend und verläuft ohne Intervention chronisch progredient. Sie manifestiert sich bevorzugt in den distalen Abschnitten der unteren Extremitäten, seltener auch der oberen Extremitäten (strumpf- bzw. handschuhförmige Verteilung) mit Schmerzen, Parästhesien, Hyperästhesien, Allodynien und Taubheitsgefühl, die sich in der Regel von distal (Zehen, Füße, Unterschenkel) nachproximal ausbreiten („dying back neuropathy“).
Die Schmerzen werden meist als brennend („burning feet“), bohrend, einschießend, krampfartig oder stechend beschrieben. Charakteristisch sind die nächtliche Exazerbation der Beschwerden, wie „schmerzhafte Bettdecke“ sowie ihre Besserung beim Gehen. Schmerzen können auch durch nichtnoxische Reize (z. B. Berührung) evoziert (Allodynie) oder durch noxische Reize (z. B. Nadelstich) verstärkt werden (Hyperalgesie).
Klinisch haben die Patient:innen im Spätstadium abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe, Atrophien der kleinen Fußmuskeln, Sensibilitätsstörungen, sensible Ataxie mit Gang- und Standunsicherheit, Hypästhesie und herabgesetzte Thermästhesie und Algesie. Bei diesem Krankheitsbild sind sowohl die langsam leitenden, kleinkalibrigen markarmen oder marklosen Aδ- und C‑Fasern als auch die schnell leitenden großkalibrigen Aα- und Aβ-Fasern beteiligt. Eine Funktionsstörung der kleinen Nervenfasern kann sich bereits frühzeitig isoliert im Sinne einer „small fiber neuropathy“ (SFN) durch reduzierte Thermästhesie oder verminderte intraepidermale Nervenfaserdichte (IENFD) mit bzw. auch ohne Schmerzen manifestieren, bevor sonstige objektive Hinweise auf eine Neuropathie vorliegen. Neuropathische Defizite mit Reduktion bzw. Verlust der Temperatur‑, Schmerz‑, Bewegungs- oder Berührungssensibilität sind von größter klinischer Bedeutung, da sie den Weg zur neuropathisch bedingten Ulzeration – bis hin zur Amputation – ebnen können.

Iatrogene schmerzhafte und autonome Neuropathie

Eine Besonderheit stellt das akute Auftreten einer iatrogenen schmerzhaften und autonomen Neuropathie nach einer zu raschen Korrektur einer ausgeprägten Hyperglykämie dar, wobei die Schmerzen in schweren Fällen das distale strumpfförmige Muster verlassen und ubiquitär lokalisiert sein können (Therapie-induzierte Neuropathie bei Diabetes [TIND]; sog. Insulin-Neuritis nach Caravati). Meistens sind die Schmerzen innerhalb des Verlaufs mehrerer Monate unter analgetischer Therapie deutlich rückläufig bzw. sistieren. Im Rahmen einer Optimierung der Diabeteseinstellung ist daher eine Senkung des HbA1c-Spiegels (HbA1c: Glykohämoglobin Typ A1c) um maximal 2–3 % innerhalb von 3 Monaten anzustreben, um das Risiko für die Entwicklung einer TIND zu minimieren.
Die relativ seltenen fokalen und multifokalen Neuropathien mit asymmetrischen Ausfällen einzelner oder mehrerer Nerven bedürfen in der Regel einer weiterführenden neurologischen Diagnostik.

Diagnostik

Laut neuerer Daten der deutschen Diabetesgesellschaft sind bereits innerhalb des ersten Jahres nach Diagnose eines Typ-2-Diabetes vielfältige, mit verschiedenen Methoden messbare funktionelle und morphologische Veränderungen der peripheren Nerven nachweisbar, sodass die DSPN keineswegs als eine sog. Spätkomplikation, sondern korrekterweise als Frühkomplikation des Diabetes anzusehen ist.
Zur Diagnosestellung und Sicherung von peripheren neuropathischen Schmerzen sind validierte einfache Tests wie der Pain-DETECT®-Fragebogen, der „DN4“-Fragebogen oder der General Pain Screener (GPS) gleich bei der Erstvorstellung sinnvoll.
Nach einer Anamnese, bei der ein Hinweis auf ein neuropathisches Schmerzgeschehen aufliegt (Fragebögen und Hinweise auf relevante Nervenläsionen oder Nervenerkrankung, plausible neuroanatomische Schmerzausbreitung), kann von der Arbeitshypothese neuropathischer Schmerz ausgegangen werden (Diagnose-Algorithmus für neuropathische Schmerzen; Abb. 1). Die klinisch-neurologische Basisuntersuchung umfasst eine allgemeine medizinische und neurologische Anamnese, eine Fußinspektion und Fußpalpation zur Untersuchung der Trophik und Durchblutung sowie eine neurologische Untersuchung der Sensibilität mit Hilfe einfacher semiquantitativer Bedside-Instrumente, wie z. B. 10 g-Semmes-Weinstein-Monofilament (Druck/Berührung), Temperaturbestimmung mittels Plastik-Metall-Kombination (semiquantitativ), C 64 Hz-Stimmgabel nach Rydel-Seiffer (Vibration), Einmalnadel/Holzzahnstocher (Schmerz) und eine Lagesinnbestimmung sowie eine Untersuchung von Muskelkraft und Muskeleigenreflexen.
Häufig finden sich eine sensible Ataxie mit Gang- und Standunsicherheit, Hypästhesie sowie eine herabgesetzte Thermästhesie und Algesie, motorisch abgeschwächte oder fehlende Muskeleigenreflexe und Atrophien der kleinen Fußmuskeln. Die neurologische Untersuchung sollte nicht zuletzt aus Gründen der Standardisierung unter Verwendung einfacher Scores für neuropathische Symptome und Defizite bei jedem Diabetespatienten mindestens einmal im Jahr vorgenommen werden.
Subjektive Symptome können klinisch mit dem Neuropathie-Symptom-Score (NSS) und der Schweregrad neuropathischer Defizite mit dem Neuropathie-Defizit-Score (auch „neuropathy disability score“, NDS) oder Michigan-Neuropathie-Screening-Instrument (MNSI) erfasst werden. Am häufigsten werden Einzelkomponenten wie Prüfung des Vibrationsempfindens mittels Stimmgabel, des Schmerzempfindens mittels spitzer Reize und des Achillessehnenreflexes angewendet.
Bei unklarer Diagnose kann eine initiale Therapie eingeleitet werden, zugleich sollte aber, genauso wie bei Nichtansprechen auf die induzierte Therapie, eine Überweisung zu Spezialist:innen erfolgen, wo ggf. weitere Untersuchungen durchgeführt werden können: Mittels klinischer Untersuchung können nur relativ fortgeschrittene bzw. symptomatische Stadien der Neuropathie erfasst werden. Frühstadien und die SFN können reproduzierbar nur unter Einsatz apparativer Methoden sensitiv nachgewiesen werden. So gilt die Elektroneurographie (Nervenleitgeschwindigkeit [NLG]) nicht nur als Goldstandard zur Bestätigung der DSPN-Diagnose, sondern auch als sensitive Methode zur Früherkennung der Dysfunktion der großkalibrigen Aα-und Aβ-Nervenfasern. Hingegen kann die reine SFN nicht mittels Elektroneurographie, sondern durch quantitative Funktionsprüfung (quantitative sensorische Testung [QST]) der kleinkalibrigen Aδ- und C‑Fasern durch Messung der Warm- und Kaltschwellen bzw. als Goldstandard durch Hautbiopsie mit Bestimmung der intraepidermalen Nervenfaserdichte nachgewiesen werden. Die QST wird im medizinischen Rahmen ergänzend zur klinischen Sensibilitätsprüfung genutzt und konnte inzwischen eine beachtliche Stellung in der Forschung einnehmen, während sie in der klinischen Praxis derzeit nur wenig eingesetzt wird. Als valides Untersuchungsinstrument, das zur Evaluierung des gesamten somatosensorischen Profils geeignet ist, bietet die QST vor allem im Bereich der SFN einen erheblichen Vorteil gegenüber konventionellen Testverfahren. Diese kleinen Fasern scheinen insbesondere in der Frühphase von Neuropathien betroffen zu sein und können über konventionelle Testverfahren nicht evaluiert werden. Das macht den Einsatz von Teilaspekten der QST zu einem nützlichen Instrument für Physiotherapeuten und medizinisches Personal, was besonders in der Früherkennung von Neuropathien von großem Nutzen ist.
Als Surrogatmarker für die IENFD konnte sich die konfokale Korneamikroskopie (CCM) etablieren, insbesondere als nichtinvasive In-vivo-Methode, um den Grad von Nervenregeneration nach therapeutischen Interventionen zu untersuchen. Diese Untersuchungen werden jedoch nur in Spezialzentren angeboten.
Zeigen sich auch bei der körperlichen Untersuchung (grobneurologischer Status) positive und negative sensorische Symptome und/oder das Vorliegen einer Läsion oder Erkrankung, ist der neuropathische Schmerz wahrscheinlich oder gesichert (Abb. 2). Ab da kann eine adäquate Therapie eingeleitet werden.
Bei unklarer Diagnose kann eine initiale Therapie eingeleitet werden, zugleich sollte aber, genauso wie bei Nichtansprechen auf die induzierte Therapie, eine Überweisung zu Spezialist:innen erfolgen, wo ggf. weitere Untersuchungen durchgeführt werden müssen.

Therapie

Die Behandlung der dPNP hängt vom jeweiligen Subtyp ab. Eine Optimierung der Glukosekontrolle im frühen Verlauf des Typ-1-Diabetes mellitus (T1DM) wird empfohlen, um kardiale autonome Neuropathie (CAN) zu verhindern oder zu verzögern, während bei Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) eine Optimierung der Glukosekontrolle im Frühstadium des Typ-2-Diabetes mellitus (T2DM) empfohlen wird. Volumensättigung, körperliche Aktivität, niedrig dosiertes Fludrocortison oder Midodrin und Kompressionsstrümpfe gehören zu den Behandlungsmöglichkeiten der CAN bei Patienten mit T1DM oder T2DM. Der Ausschluss anderer Ursachen einer gastrointestinalen autonomen Dysfunktion, insbesondere von Opioiden oder Glukagon-ähnlichen Peptid-Rezeptor-Agonisten sowie einer Magenobstruktion, ist vor der Einleitung einer Kurzzeitkur mit Metoclopramid zur Gastroparese unerlässlich. Die urogenitale autonome Neuropathie ist eine Ausschlussdiagnose, bei der mehrere Medikamente, niedrige Hormonspiegel und Infektionen die drei wichtigsten Differenzialdiagnosen sind, die berücksichtigt werden müssen, bevor eine Dysfunktion auf Diabetes zurückgeführt wird. Die pharmakologische Behandlung der männlichen erektilen Dysfunktion umfasst Phosphodiesterase-5-Hemmer. Das topische Antimuskarinikum Glycopyrrolat kann zur Behandlung von gustatorischem Schwitzen eingesetzt werden, während tägliche feuchtigkeitsspendende Lotionen trockene Haut lindern. Die Behandlung der DSPN kann sowohl systemisch als auch topisch erfolgen und bis zur invasiven Schmerztherapie führen. Bisher gibt es nur eine heterogene Evidenzlage zur Wirksamkeit und deren zum Teil widersprüchliche Beurteilung durch systematische Reviews und Metaanalysen. Die Palette an Arzneimitteln, die für die Behandlung neuropathischer Schmerzen verfügbar sind, hat sich in den vergangenen Jahren erweitert. Es kommen topische und systemische Medikamente zum Einsatz, wobei auch eine Kombination von Substanzen aus beiden Anwendungsformen möglich ist.
Kommt eine systemische Therapie in Betracht, muss die individuell geeignete Dosierung in Abhängigkeit von Wirkung und Nebenwirkungen durch sorgfältige Titration ermittelt werden. Die Auswahl sollte anhand des zugrundeliegenden Krankheitsbildes, des Nebenwirkungsprofils und der Komorbiditäten sowie unter Berücksichtigung von Komedikation und Kontraindikationen erfolgen.
Die Therapie der schmerzhaften dPNP kann sich schwierig gestalten, da die Titration bis zur optimalen Wirkdosis häufig durch dosisabhängige Nebenwirkungen erschwert ist und nur bei etwa der Hälfte der Patient:innen eine mindestens 50 %ige, durch eine Einzelsubstanz bedingte, Schmerzreduktion zu erwarten ist. Darüber hinaus betrug die Therapiedauer in kontrollierten Studien zur Wirksamkeit von Analgetika bei schmerzhafter dPNP nicht mehr als 3 Monate, sodass kaum Daten zur Langzeitanwendung verfügbar sind.
Obwohl nur wenige Daten zur Kombinationstherapie vorliegen, sind in der Praxis häufig Kombinationen verschiedener Substanzklassen bei therapieresistenten Schmerzen unumgänglich, insbesondere wenn die Monotherapie (bei maximaltolerierter Dosis) nur zu einem partiellen Schmerzrückgang (< 30 %) führte. Zu bedenken ist ferner, dass (im Gegensatz zur α‑Liponsäure) nicht untersucht wurde, inwieweit Analgetika auch nichtschmerzhafte Symptome wie Parästhesien oder Taubheitsgefühl beeinflussen können, da deren Vorliegen allein keine Indikation zur Gabe von Analgetika darstellt.

Substanzen erster Wahl

Als systemisch pharmakologische Therapie erster Wahl werden Antikonvulsiva mit Wirkung auf neuronale Kalziumkanäle (Gabapentin, Pregabalin) sowie tri- und tetrazyklische Antidepressiva empfohlen. Von den Antikonvulsiva sind die a2-δ-Liganden des spannungsabhängigen Kalziumkanals Gabapentin und Pregabalin bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie wirksam. Gabapentin hat sich bei den meisten, aber nicht allen Studien bei der schmerzhaften diabetischen Neuropathie effektiv erwiesen. Aufgrund seines pharmakokinetischen Profils erfordert Gabapentin eine schrittweise Titration. Pregabalin hat eine lineare und dosisproportionale Resorption im therapeutischen Dosisbereich. Die meisten Studien zu Pregabalin zeigen eine Wirksamkeit bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie mit einer Schmerzlinderung von mindestens 30–50 %, obwohl nicht alle Studien positiv verlaufen sind, insbesondere bei Patienten mit fortgeschrittener refraktärer Erkrankung. Einige Studien deuten auf eine Dosis-Wirkungs-Beziehung hin, mit einer schwächeren therapeutischen Wirkung bei niedrigeren Dosen von Pregabalin. Die Nebenwirkungen beider Medikamente können Verwirrtheit und Schwindel umfassen, sind bei älteren Patienten schwerwiegender und können durch niedrigere Anfangsdosen und eine allmählichere Titration abgeschwächt werden. Ebenfalls als Therapie erster Wahl gilt der selektive Serotonin‑/Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Duloxetin, der allerdings nur zur Behandlung der dPNP zugelassen ist und auch in Studien als wirksam erwiesen wurde. Das auf neuronale Natriumkanäle wirkende Antikonvulsivum Carbamazepin kommt insbesondere wegen seiner stärkeren Nebenwirkungen wie Schwindel und Ataxie seltener zum Einsatz. Neuere systematische Reviews und Metaanalysen zeigten, dass die vorliegende Evidenz zur Wirksamkeit selbst für Mittel der ersten Wahl wie die α2-δ-Liganden des spannungsabhängigen Kalziumkanals Pregabalin und Gabapentin als schwach anzusehen ist. Lediglich in 7 von insgesamt 15 mit Pregabalin durchgeführten kontrollierten Studien bei schmerzhafter DSPN wurde ein positiver Effekt für diese Substanz nachgewiesen. Die Wirksamkeit von Gabapentin dagegen ist widersprüchlich. Hingegen wurde in zwei Cochrane-Reviews gezeigt, dass Pregabalin (300–600 mg/Tag) und Gabapentin (1200–3600 mg/Tag) bei moderater Evidenz bei Patient:innen mit schmerzhafter DSPN einen nennenswerten Schmerzrückgang bewirken können. Meistens sind beide Substanzen in der Praxis unterdosiert.
Duloxetin ist ein selektives SNRI, dessen Wirksamkeit bei der Behandlung der schmerzhaften diabetischen Neuropathie in mehreren multizentrischen randomisierten Studien nachgewiesen wurde. Die Behandlung mit Duloxetin kann auch die Lebensqualität im Zusammenhang mit Neuropathie verbessern. Zusätzlich kann es auch bei Patientinnen, die Angststörungen aufweisen, eingesetzt werden. Venlafaxin ist ein weiteres SNRI, das bei der Behandlung von Schmerzen bei diabetischer Neuropathie wirksam sein kann. SNRIs sind mit einer Reihe von Nebenwirkungen verbunden, die schwerwiegender sein können als diejenigen, die bei Gabapentin und Pregabalin beobachtet wurden, wie z. B. Schwindel, Müdigkeit, Übelkeit und Schlaflosigkeit. Die Evidenz für die Wirksamkeit des Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmers (SNRI) Duloxetin wurde ebenfalls als moderat eingestuft, während Venlafaxin für diese Indikation nicht zugelassen ist. Trizyklische Antidepressiva (nichtselektive Monoamin-Wiederaufnahmehemmer [NSMRI]), von denen Amitriptylin am besten untersucht ist, haben neben Duloxetin weiterhin ihren Stellenwert, sind jedoch aufgrund ihres Nebenwirkungsprofils (Sedierung, anticholinerger Effekt, anticholinerges Syndrom) besonders bei älteren Patient:innen mit kardiovaskulären Komorbiditäten und autonomer Neuropathie problematisch bzw. kontraindiziert. Amitriptylin ist das am häufigsten verwendete TCA und hat in kleinen randomisierten, verblindeten, placebokontrollierten klinischen Studien eine Wirksamkeit bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie gezeigt. Nortriptylin und Desipramin haben weniger Nebenwirkungen als Amitriptylin und Imipramin und könnten bei älteren Erwachsenen sicherer sein. Es gibt jedoch weniger und kleinere randomisierte kontrollierte Studien, die auf die Wirksamkeit von Nortriptylin und Desipramin hinweisen.
Wenn Patient:innen unter Angst- oder Schlafstörungen leiden, sind Pregabalin und Duloxetin empfehlenswert. Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Schwindel treten seltener auf. Das trizyklische Antidepressivum Amitriptylin, das zur Behandlung von neuropathischen Schmerzen bei vorliegender diabetischer PNP ebenfalls zur Anwendung kommt, ist bei von Glaukom Betroffenen und Patient:innen mit Prostatahyperplasie kontraindiziert.
Außerdem kommt es im Rahmen der Kombinationstherapie immer wieder zu unerwünschten Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit und Mundtrockenheit bei Antikonvulsiva und Antidepressiva. Die Dosissteigerung erfolgt langsam und kann je nach Patient:in stark variieren. Es dauert einige Wochen, bis die vollständige Wirkung einsetzt und beurteilt werden kann, wobei eine vollständige Schmerzfreiheit nahezu ausgeschlossen werden muss. Patient:innen müssen davon in Kenntnis gesetzt werden, dass lediglich mit einer Schmerzreduktion zu rechnen ist.

Substanzen zweiter Wahl

Systemische Therapieoptionen.
Opioide stellen Substanzen der zweiten bzw. dritten Wahl dar: Tramadol, Oxycodon, Buprenorphin und Tapentadol. Vor allem zentralnervöse Nebenwirkungen wie Somnolenz und Schwindel erschweren die Therapie mit Antidepressiva, Antikonvulsiva und Opioiden.
Auch Opioide bzw. μ‑Opioid-Rezeptor-Agonisten/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (MOR/NRI) wie Tapentadol können in der Therapie chronischer neuropathischer Schmerzen eingesetzt werden, wobei sie besonders bei starken Schmerzen und als Rescue-Medikation für einen raschen therapeutischen Effekt ihren Stellenwert haben. Bei den meisten Untersuchungen zum Einsatz von Opioiden bei peripheren neuropathischen Schmerzen handelt es sich um Kurzzeitanwendungen, Langzeitdaten fehlen. In der Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioiden bei nichttumorbedingten Schmerzen wurden die Leitsätze zur Anwendung von Opioiden u. a. bei schmerzhafter DSPN formuliert: Opioidhaltige Analgetika werden als Option in der kurzfristigen Therapie (4–12 Wochen) angesehen, während von einer Langzeittherapie (≥ 26 Wochen) nur ca. 25 % der Patient:innen profitieren. Um die möglichen Risiken einer Therapie mit opioidhaltigen Analgetika zu minimieren (missbräuchliche Verwendung, sexuelle Störungen, Hormonverschiebungen etc.), ist eine regelmäßige Kontrolle der Wirksamkeit und Nebenwirkungen erforderlich. Eine antineuropathische Wirksamkeit weisen das schwache Opioid Tramadol sowie die starken Opioide Oxycodon, Buprenorphin und Tapentadol auf.
Tapentadol hat in 2 Phase-3-Studien Wirksamkeit bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie gezeigt, obwohl eine systematische Überprüfung und Metaanalyse durch die Special Interest Group on Neuropathic Pain (NeuPSIG) ergab, dass die Evidenz für die Wirksamkeit von Tapentadol bei der Linderung neuropathischer Schmerzen nicht schlüssig war. Tramadol hat eine ähnliche Wirkungsweise wie Tapentadol. Zwei große Studien haben die Wirksamkeit von Tramadol bei schmerzhafter diabetischer Neuropathie gezeigt, und die Wirkung kann langanhaltend sein. Oxycodon verbesserte die Schmerzwerte in zwei monozentrischen Studien bei Patienten mit schmerzhafter diabetischer Neuropathie; eine Studie hatte jedoch eine kleine Stichprobengröße. Zusätzlich weist Oxycodon ein erhöhtes Suchtpotenzial auf. Obwohl Tapentadol und Tramadol Belege für ihre Wirksamkeit bei diabetischen neuropathischen Schmerzen haben, verdient es weitere Untersuchungen, ob sich das Risiko-Nutzen-Verhältnis dieser Medikamente von jenem bei stärkeren Opioiden unterscheidet. Die Rolle, wenn überhaupt, anderer Opioide ist unklar, aber diese Medikamente sollten angesichts der zunehmenden Hinweise auf Schäden wahrscheinlich bei den meisten, wenn nicht sogar bei allen Patienten vermieden werden.
Nicht geeignet sind die vorwiegend nozizeptiv wirksamen Opioide Hydromorphon und Fentanyl. Zur Verminderung einer opioidinduzierten Obstipation müssen während der Therapiedauer Laxanzien angewendet werden.
Topische Therapieoptionen.
Zur topischen Behandlung von peripheren neuropathischen Schmerzen und speziell bei diabetischen neuropathischen Schmerzen können kutane Pflaster mit dem Wirkstoff Lidocain 700 mg (5 %) und Capsaicin 179 mg (8 %) zum Einsatz kommen.
Aufgrund des geringen Risikos für systemische und zentrale Nebenwirkungen und Medikamentenwechselwirkungen sollte der primäre Einsatz vor allem bei älteren Patient:innen, multimorbiden Personen und Menschen unter Polymedikation oder mit eingeschränkter Organfunktion erfolgen. Auch die Patientenpräferenz, die Compliance sowie die Dringlichkeit einer wirksamen therapeutischen Intervention sollten in die Entscheidung für einen möglichen primären Einsatz einfließen. Für den Erfolg der topischen Therapie ist an einen frühzeitigen Start der Anwendung zu denken.
Lidocain unterbindet über eine Blockade der spannungsabhängigen Natriumkanäle die Entstehung von ektopen Aktionspotenzialen über eine Blockade der Natriumkanäle. Das Lidocainpflaster ist allerdings nur zur Linderung der Symptome neuropathischer Schmerzen nach einer Herpes-Zoster-Infektion bei Erwachsenen zur Mono- oder Kombinationstherapie zugelassen. Die aktuelle DGN-Leitlinie vom Mai 2019 empfiehlt dieses grundsätzlich als Zweitlinientherapie bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen, bei Post-Zoster-Neuralgie sei der primäre Einsatz zu erwägen. Eine systematische Überprüfung von 23 Studien zeigte, dass Lidocain-5 %-Pflaster im Vergleich zu Placebo die Schmerzen wirksam linderte und ähnlich zu topischem Capsaicin, Amitriptylin, Gabapentin usw. war Pregabalin, mit weniger Nebenwirkungen.
Bei Verwendung des 5 %igen Lidocain-Pflasters sollte bei nicht zufriedenstellender Schmerzlinderung direkt der Wechsel auf eine systemische Therapie erfolgen oder zunächst eine topische Therapie mit 8 %igem Capsaicin in Erwägung gezogen werden. Auch eine Kombination aus topischer und systemischer Therapie kann sinnvoll oder notwendig sein.
Laut aktueller DGN-Leitlinie für Diagnostik und Therapie in der Neurologie kann das Capsaicin-Pflaster (179 mg) zur Therapie neuropathischer Schmerzen jeglicher Ursache empfohlen werden. Es sollte als Mittel der zweiten Wahl verwendet werden, der Effekt sei bei guter Verträglichkeit vergleichbar mit den etablierten oralen Medikamenten. Bei lokalisierten neuropathischen Schmerzen ist auch der primäre Einsatz zu erwägen, so die DGN-Leitlinie.
Capsaicin ist ein Alkaloid, das in roten Chilischoten vorkommt und als transienter Rezeptor-Potenzial-Vanilloid-1-Rezeptor(TRPV1)-Agonist wirkt, der zu Substanz-P-Depilation und Desensibilisierung von TRPV1 führt und so Schmerzreize reduziert. Eine RCT (n = 252) ergab eine Verbesserung der Schmerzen mit 0,075 % topischem Capsaicin, eine andere Studie mit einer niedrigeren Konzentration (0,025 %) zeigte jedoch keinen Nutzen. Ein Problem bei der lokalen Anwendung von Capsaicin besteht darin, dass es zu einer Denervierung epidermaler Nervenfasern mit anschließender Veränderung der Nozizeption kommen kann. Eine kürzlich Überprüfung der verfügbaren Literatur zum Capsaicin-8 %-Pflaster zur Behandlung neuropathischer Schmerzen und DPN kam zu dem Schluss, dass es allein oder in Kombination mit anderen Wirkstoffen (z. B. Kalziumkanal-Liganden oder SNRIs) eine effektive Therapie darstellt. Die minimale Anwendung von bis zu 4 Capsaicin-8 %-Pflastern kann eine schnelle und anhaltende Schmerzlinderung für bis zu 12 Wochen bewirken. Wiederholte Anwendungen alle 12 Wochen waren für die Nachbeobachtungszeit von 52 Wochen wirksam. Zu den Nebenwirkungen zählten lokale (Schmerzen, Brennen, Erythem und Juckreiz) und systemische Reaktionen. Capsaicin ist ein selektiver Agonist des TRPV1-Rezeptors (Transienter Rezeptor-Potenzial-Kationenkanal der Unterfamilie V Subtyp 1), der nach Applikation eines Hochdosis-Pflasters (8 %) zu einer langfristigen reversiblen Defunktionalisierung nozizeptiver Afferenzen in der Haut führt. Das Indikationsspektrum für das Capsaicin-Pflaster (179 mg) umfasst alle peripheren neuropathischen Schmerzätiologien bei Erwachsenen. Nicht zuletzt deshalb stellt die lokale Therapie mit hochdosiertem 8 %-Capsaicinpflaster eine Alternative dar. Die Dauer der Applikation auf die maximalschmerzenden Stellen (durch geschultes Personal in der Praxis/Klinik) beträgt 30–60 min und kann im Erfolgsfall alle 3 Monate wiederholt werden. Als Nebenwirkung können lokale Rötungen und Schmerzen auftreten, die im Normalfall nach 1–3 Tagen abklingen und durch Vorbehandlung mittels Kühlung supprimiert werden können.
Die lokale Therapie, üblicherweise Therapie zweiter Wahl, sollte bei älteren und multimorbiden Patient:innen mit Kontraindikationen auf systemische Therapien als Therapie erster Wahl gewählt werden.

Substanzen dritter Wahl

Hier können verschiedene Natriumkanalblocker (v. a. Antikonvulsiva wie Carbamazepin, Oxcarbazepin, Topiramat, Lamotrigin, Lacosamid und Valproat) erwogen werden. Die Evidenz ist allerdings für die Nachfolgesubstanzen von Carbamazepin ebenfalls schwach, sodass sie für diese Indikation nicht zugelassen wurden („off-label use“). Es ist allerdings denkbar, dass genetische Typisierungen mit Nachweis von Mutationen der Natriumkanäle bzw. der Einsatz von spezifischeren Natriumkanalblockern in Zukunft den Stellenwert dieser Substanzen verbessern könnten.
Orale Cannabinoide – z. B. Dronabinol, Tetrahydrocannabinol‑/Cannabidiolspray (THC-/CBD-Spray), Nabilon – kommen als Drittlinien- bzw. Add-on-Therapie nach Ausschöpfung der anderen empfohlenen Maßnahmen in Betracht. In einem systematischen Review wurde eine eingeschränkte Evidenz für THC/CBD-Spray bei sorgfältig ausgewählten Patienten mit therapierefraktären neuropathischen Schmerzen nahegelegt.
Botulinumtoxin kann zur Therapie neuropathischer Schmerzen in Betracht kommen, allerdings nur als Drittlinientherapie bei lokal begrenzten Beschwerden. Viele andere Wirkstoffe (wie intradermales Botulinumtoxin Typ A, topisches Nitrat, Vitamin D3, spannungsgesteuerter Natriumkanalantagonist, Cibinetid, Mirogabalin usw.) oder Kombinationen (Dextromethorphan/Chinidin, niedrig dosiertes Gabapentin/Trazodon, Gabapentin/Nortriptylin usw.) wurden für die dPNP getestet und/oder befinden sich in der Entwicklung. Einige haben vielversprechende Ergebnisse gezeigt, aber es sind sicherlich noch weitere qualitativ hochwertige Beweise erforderlich. Ein innovativerer Ansatz (mit Plasmid-DNA, die zwei Isoformen des Hepatozyten-Wachstumsfaktors [HGF] kodiert) wurde kürzlich in einer Phase-3-Studie zur Behandlung von dPNP-Schmerzen untersucht.
Bei Einleitung einer systemischen Schmerzbehandlung ist ein systematisches Therapiemonitoring erforderlich, auch um im Bedarfsfall eine Anpassung oder Änderung der Therapiestrategie vorzunehmen.

Invasive Therapieoptionen

Zeigen konventionelle Therapien keine ausreichende Wirksamkeit, stehen invasive Verfahren wie etwa die Spinal-Cord-Stimulation (SCS) oder die Dorsal-Root-Ganglion-Stimulation zur Verfügung, die jedoch nur in spezialisierten Zentren zum Einsatz kommen.
Eine kürzlich durchgeführte systematische Überprüfung und Metaanalyse individueller Patient:innen- und Gesamtdaten bewertete die Wirksamkeit der SCS zur Behandlung von dPNP-Schmerzen im Vergleich zur besten medikamentösen Therapie allein. Es zeigte sich eine signifikante und klinisch bedeutsame Verringerung der Schmerzintensität mit SCS auf einer 10-Punkte-Skala bei der Nachuntersuchung nach 6 Monaten. Mehr Patient:innen erreichten eine Verringerung der Schmerzintensität um 50 %. Daher kann diese Therapiemethode in refraktären Fällen eingesetzt werden, jedoch nur in Schmerzzentren mit entsprechender Expertise.
Das Gefäßsystem spielt eine große Rolle in der Pathophysiologie von dPNP, da eine mögliche vorteilhafte Nebenwirkung von SCS – insbesondere bei Hochfrequenz-SCS – eine periphere Vasodilatation ist. Die Autoren nahmen in dieser tierexperimentellen Studie an, dass HF-SCS (500 Hz) im Vergleich zu konventionellen oder Niederfrequenz-SCS zu einer erhöhten Linderung der mechanischen Überempfindlichkeit in chronische experimentelle PDPN führt.
Es ist oft sehr schwierig, eine In-vivo-Bewertung des Nervenleitungsmechanismus bei Patient:innen mit dPNP durchzuführen. Eine Forschungsgruppe versucht, mit Hilfe einer funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) mögliche Aktivierungen im Rückenmark zu untersuchen, um ein besseres Verständnis der Nervenleitungsmechanismen der diabetischen Neuropathie zu ermöglichen und eine neuartige klinische Methode zur Bewertung von Nervenverletzungen vorzustellen. Es wurde in dieser Studie untersucht, ob eine positive Korrelation zwischen dem Prozentsatz des Signals mit Veränderungen des Gesamtcholesterin/Glukose in der dPNP-Gruppe vorliegt.
Die fMRT-Untersuchung des Rückenmarks, eine indirekte Methode, misst die regionalen Änderungen im Blutfluss als Maß für die neuronale Aktivität. Hier werden die Änderungen der Hirnaktivität unter experimentellen Bedingungen mit einem Ausgangswert verglichen und so die lokale Beteiligung von einem oder mehreren Hirnarealen an einer Aufgabe nachgewiesen. Die repetitive Aktivierungsverteilung befand sich hauptsächlich auf der Ebene der Th12-Wirbel. Die fMRT des Rückenmarks könnte als potenzielles Instrument zur Beurteilung der Nervenleitungsmechanismen bei DPN fungieren und somit die Früherkennung von diabetischer Neuropathie ermöglichen.
In selten Fällen können all die bisherigen Therapieoptionen versagen. In diesem Fall kann Ziconotid, ein N‑Typ-Kalziumkanalblocker, zur Anwendung kommen. Es ist als nichtopioides Schmerzmittel zur Behandlung von starken chronischen Schmerzen bei Patient:innen angezeigt, die eine intrathekale Analgesie benötigen und auf andere stark wirksame Analgetika inklusive intrathekales Morphin nicht ausreichend ansprechen. Ziconotid soll wesentlich stärker als Morphin wirken. Das nichtopioide Analgetikum blockiert spannungsabhängige N‑Typ-Kalziumkanäle. Diese regulieren die Freisetzung von Neurotransmittern bei Nervenzellen, die für die spinale Verarbeitung von Schmerz verantwortlich sind. Durch die Bindung an die neuronalen Kalziumkanäle hemmt Ziconotid den Kalziumioneneinstrom in die primären nozizeptiven, afferenten Nerven, die in den oberflächlichen Schichten des Hinterhorns des Rückenmarks enden. Dadurch wird die Freisetzung von Neurotransmittern und damit die Signalisierung von Schmerz im Rückenmark gehemmt.
Es gibt nur eine tierexperimentelle Studie, die die Wirksamkeit von Ziconotid bei diabetischen neuropathischen Schmerzen zeigt.
Ein rezenter Review teilt die angeführten medikamentösen und invasiven Therapieoptionen nach Evidenzstärken ein. Die Antikonvulsiva Pregabalin und Oxcarbazepin (geringe Evidenzstärke), die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und Venlafaxin (mäßige Evidenzstärke), die Wirkstoffklassen der trizyklischen Antidepressiva (geringe Evidenzstärke), atypische Opioide Tramadol und Tapentadol (geringe Evidenzstärke) und das intradermale Neurotoxin Botulinumtoxin (geringe Evidenzstärke) waren wirksamer als Placebo zur Schmerzlinderung bei diabetischer peripherer Neuropathie, obwohl alle oralen Arzneimittelklassen aufgrund von Nebenwirkungen eine Abbrecherquote von > 10 % aufwiesen.
Für nichtpharmakologische Behandlungen fanden wir keine Interventionen mit mehr als geringer Evidenzstärke. Die Stimulation mit α‑Liponsäure und SCS wies im Vergleich zu Placebo nur eine geringe Evidenzstärke für die Schmerzreduktion auf. Letzteres birgt jedoch das Risiko schwerwiegender Nebenwirkungen. Die Wirkungsgrade waren im Allgemeinen moderat und alle Studien wiesen Qualitätsdefizite auf. Es gab nur wenige Studien, in denen nichtpharmakologische Interventionen wie körperliche Betätigung oder kognitive Therapie auf Schmerzen untersucht wurden.
Die Wirksamkeit einer eingeleiteten Schmerztherapie sollte bei allen therapeutischen Optionen erst nach Ablauf einer entsprechenden Zeit und unter ausreichender Dosierung beurteilt werden. Zusätzlich zu einer laufenden Pharmakotherapie ist ein multimodaler schmerztherapeutischer Ansatz häufig unverzichtbar, bei dem in spezialisierten Einrichtungen die medikamentösen Verfahren durch nichtmedikamentöse Verfahren aus der Physio‑, Sport- und Psychotherapie ergänzt werden.

Nichtpharmakologische Interventionen

Weitere Therapieansätze (z. B. transkutane elektrische Nervenstimulation [TENS], perkutane elektrische Nervenstimulation und frequenzmodulierte elektromagnetische Nervenstimulation [FREMS], Reiki-Therapie, monochromatische Infrarotenergie, Akupunktur, physikalische Maßnahmen, psychologische Unterstützung, elektrische Rückenmarksstimulation Stimulation usw.) wurden auch für die Schmerzbehandlung evaluiert. Einige davon (elektrische Stimulation, FREMS, psychologische Interventionen, Behandlung mit elektromagnetischen Feldern, Laser niedriger Intensität, monochromatisch) zeigten eine gewisse Wirksamkeit bei der Verbesserung der Symptome/Schmerzen einer peripheren Neuropathie. Zusätzlich könnte Akupunktur zur Anwendung kommen. Bei Akupunktur kann man an Elektro-Ohrakupunktur und Vagusstimulation denken.
Ist die Diagnose des peripheren neuropathischen Schmerzes nicht eindeutig, sollte der Patient/die Patientin mit einer fachärztlichen Überweisung zur weiteren Abklärung in ein spezialisiertes Zentrum überwiesen werden.
Abschließend soll festgehalten werden, dass alle genannten Therapiemaßnahmen mit Bewegungstherapie kombiniert werden sollten, da eine dPNP zumeist mit Gleichgewichtsstörungen einhergeht. Die Therapieform richtet sich nach verschiedensten Gesichtspunkten und wird auf jeden Betroffenen individuell abgestimmt.

Interessenkonflikt

S. Sator gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hinweis des Verlags

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Fußnoten
1
Literatur bei der Verfasserin
 
Literatur
2.
Zurück zum Zitat Boulton A.J.M., Feldman E.L., Bril V., Freeman R., Malik R.A., Sosenko J.M., Ziegler D. Diabetes Care. 2017;40(1):136–154. Published online 2016 Dec 10. https://doi.org/10.2337/dc16-2042PMCID: PMC6977405PMID: 27999003 Diabetic Neuropathy: A Position Statement by the American Diabetes AssociationRodica Pop-Busui. Boulton A.J.M., Feldman E.L., Bril V., Freeman R., Malik R.A., Sosenko J.M., Ziegler D. Diabetes Care. 2017;40(1):136–154. Published online 2016 Dec 10. https://​doi.​org/​10.​2337/​dc16-2042PMCID: PMC6977405PMID: 27999003 Diabetic Neuropathy: A Position Statement by the American Diabetes AssociationRodica Pop-Busui.
3.
Zurück zum Zitat Treede RD et al. Neuropathic pain: Redefiniton and a grading system for clinical and research purposes. Neurology 2008; 70(18):1630–1635. Treede RD et al. Neuropathic pain: Redefiniton and a grading system for clinical and research purposes. Neurology 2008; 70(18):1630–1635.
Metadaten
Titel
Schmerztherapeutisches Management der diabetischen Polyneuropathie
verfasst von
ao. Univ.-Prof. Dr. Sabine Sator
Publikationsdatum
01.02.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schmerz Nachrichten / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-023-00159-7

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