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Ärzte Woche

15.02.2023 | Neurochirurgie

Freies Navigieren

verfasst von: Reinhard Hofer

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Die Anatomie eines realen Menschen in hochauflösender 3D-Optik, und zwar bis zum kleinsten Gefäß, frei zoom- und drehbar: Mit Virtual Anatomy wird Medizin zu einem Abenteuertrip durch den menschlichen Körper. Im Linzer MedSPACE wird Lernen zum Vergnügen.

Das Auditorium hält den Atem an. Prof. Dr. Andreas Gruber, Vorstand der Universitätsklinik für Neurochirurgie, klemmt das Hirnaneurysma mit einem kleinen Metall-Clip vom Blutgefäß ab. Dazu musste der Schädel des Patienten geöffnet und das Gefäß mit der krankhaften Veränderung freigelegt werden. Was in Wirklichkeit nur einige Millimeter umfasst, erscheint auf dem Bildschirm überlebensgroß und bedrohlich.

Ein Aneurysma ist für den Betroffenen eine Bedrohung, obwohl es sich eigentlich „nur“ um eine Aussackung eines Blutgefäßes handelt. Eine Frage steht den Zusehern und Zuseherinnen ins Gesicht geschrieben: Was ist, wenn das Aneurysma platzt? Trotz der Faszination will wohl niemand eine Live-Ruptur mitansehen. Nun ist die Klemme gesetzt, das Aneurysma spannt und bläht sich auf, aber es platzt nicht. Die entscheidende Phase des Eingriffs, der mehrere Stunden dauern kann, ist vorbei. Das Publikum kann aufatmen.

Neue Art des Lernens

Die Entfernung vom Operationssaal im Neuromed Campus Linz zum Übertragungsort am MedSPACE des Kepler Uniklinikums beträgt kaum drei Kilometer. Sind die technischen Voraussetzungen gegeben, können solche Übertragungen von überall her erfolgen. Damit sind die Möglichkeiten des Linzer MedSPACE aber noch nicht ausgeschöpft: Medizinprofessoren und -professorinnen können damit Anatomie auf eine neue Art lehren. Mit 3D-Brillen lässt sich der menschliche Körper aus jedem Blickwinkel und stufenlos zoombar in einer stereoskopischen 3D-Darstellung inspizieren. MRT- und CT-Daten werden zu fotorealistischen Bildern der menschlichen Anatomie verschmolzen: Organe, Blutgefäße, Muskeln, Sehnen und mehr können überlebensgroß aus allen Winkeln als dreidimensionale, messerscharfe Objekt betrachtet und alle dazugehörigen Daten per Knopfdruck ein- und ausgeblendet werden.

In einer Demonstration führt Prof. Dr. Franz Fellner, Vorstand des Zentralen Radiologie-Instituts am Kepler Universitätsklinikum und Dekan für Lehre an der Medizinischen Fakultät der JKU, auf fast 16 x 9 Metern in 8K und 3D durch die Anatomie des Menschen. Er besitzt bereits eine jahrelange Erfahrung mit Virtual Anatomy, locker navigiert er mit einem Controller, ähnlich einer Spielkonsole, durch den Körper. Jeden noch so kleinen Muskel oder Nerv kennt er mit Namen. „Der JKU medSPACE ist ein Prototyp für medizinische Universitäten weltweit und wird voraussichtlich in einigen Jahren State of the Art sein. Es wird einen großen Einfluss auf medizinische Studien haben, wenn Daten von echten, lebenden Menschen gezeigt werden. Das hebt das Verständnis und die Versorgung von Patienten und Patientinnen auf eine neue Ebene“, sagt Fellner.

Tatsächlich ermöglichen die riesigen Dimensionen im MedSPACE eine bessere und anschaulichere Sichtbarkeit von Patienten- und Patientinnendaten und erleichtern somit den Vergleich mit ähnlichen Erkrankungen und unterschiedlichen Behandlungen. Dabei kommen keine abstrahierten Modelle zur Anwendung, vielmehr werden die Daten von echten, lebenden Patienten und Patientinnen aus der Zentralen Radiologie des Kepler Universitätsklinikums eingespeist. Mit Virtual Anatomy lernen Studierende den menschlichen Körper als Ganzes und in seiner ganzen Vielfalt kennen, samt seinen pathologischen Veränderungen. „Ein weiterer Schritt hin zur personalisierten Medizin, denn jeder klinische Fall ist anders und unterscheidet sich von der standardisierten Version aus dem Lehrbuch“, sagt Fellner.

Reise durch den Körper

Im JKU medSPACE können die Nutzerinnen und Nutzer nach Belieben durch Anatomiedaten navigieren, nahtlos zwischen verschiedenen Ebenen wechseln, ein- und ausschneiden, in jeden Bereich in jedem Winkel zoomen und Rendering-Parameter laufend ändern. Möglich macht das die Kombination der Programme Cinematic Rendering von Siemens Healthineers und Virtual Anatomy des Ars Electronica Futurelab. Cinematic Rendering wird verwendet, um die MRT- und CT-Daten zu importieren, zu anonymisieren und die anfänglichen Schlüsselbildanimationen festzulegen. Außerdem werden Metadaten für die Visualisierung generiert. Im JKU medSPACE verarbeitet Virtual Anatomy die Daten weiter, fügt wichtige Informationen wie Positionierung, Skalierung und Drehung des 3D-Zeigers hinzu und zeigt deren Visualisierung an.

Eine Herzklappe wird geschlossen

Die Vorführung ist noch nicht zu Ende, nun wird in den nächsten Operationssaal geswitcht. Univ.-Prof. Dr. Andreas Zierer ist am Kepler Universitätsklinikum live bei einer Herzoperation zugange. Die Bedeutung des Wortes „Multitasking“ bekommt eine neue Dimension: Während er die Mitralklappenoperation durchführt, gibt er Anweisungen an seine Kollegen und Kolleginnen und an die Techniker der MedSPACE Übertragung. Gleichzeitig beantwortet der Chirurg Fragen aus dem Publikum im MedSPACE, währenddessen die Kamera von der endoskopischen Sicht im Inneren des Herzens in die Totale des Operationssaales wechselt. Am Ende ist die Mitralkappe erfolgreich gesetzt, nun kann das Blut nicht mehr aus der linken Herzkammer in Vorhof und Lunge zurückfließen.

Abgerundet wird die Präsentation noch von einer aufgezeichneten Augen-OP in 3D, kommentiert vom Vorstand der Augenklinik, Univ.-Prof. Dr. Matthias Bolz, persönlich. Plastisch und überlebensgroß erlebt das Auditorium den Austausch einer Linse mit Grauem Star. „Wir werden immer älter, weshalb die meisten von uns das selber erleben werden“, prophezeit Bolz. Kooperationen des MedSPACE mit der Medizinischen Universität in Graz sind in Planung. Auch Vertreter einer bayrischen Universität haben bereits den Wunsch nach Kooperation kundgemacht. Vorlesungen in virtueller Anatomie können dann in Zukunft gleichzeitig in Linz, Graz und Bayern mitverfolgt werden.

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Titel
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Schlagwort
Neurochirurgie
Publikationsdatum
15.02.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 07/2023

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