Lebenszeichen
Ein rosiges Gesicht spiegelt den gut durchbluteten Körper – marmoriertes Hautkolorit die Minderperfusion, den Schock. Freundliche Zugewandtheit, authentisches, entspanntes, offenes Dasein im Hier und Jetzt offenbart den gesunden Seelenstatus – erloschenes Gemüt, aus der lebendigen Gegenwart luxiert, versteinerter Zynismus hingegen die Enge der Seele, die
Angina animae. Medizinische Universitäten verehren Sigmund Freud, C.G. Jung, Alfred Adler, Viktor Frankl, setzen den berühmten Seelenärzten Denkmäler, doch die Ärzteseele wurde ignoriert – zu lange. Ich selbst war 20 Jahre Klinikarzt, zuletzt leitender Oberarzt einer Intensivstation. Schlüsselerfahrungen erzählte ich in Büchern unter meinem früheren Namen [
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4]. Karriere-Aus durch eine Lebenskrise. Am Tiefpunkt war ich Patient – von heute auf morgen, bei der Visite auf der anderen Seite. Zwangspause. Die notwendige Auszeit führte in ein neues Leben: Arzt sein für den Energiefluss der Seele, für den offenen Herz-Raum, durch den Bewusstsein und Geist einströmen können.
Was die Seele zuschnürt
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Ich klopfe, trete ein. Der Chef tippt am Laptop, den Rücken zu mir. „Guten Morgen, Herr Primarius, darf ich mich vorstellen, ich bin Hubert Gregori.“ „Ja, Ja, KPJ-Student“ (Studierender der Medizin im Klinisch-Praktischen Jahr), winkt er ab, ohne sich umzudrehen, „ich hab jetzt keine Zeit!“
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Manch ältere Ärzt*innen strahlen Nervosität aus, so ein Zeitdruck im OP! Ich will den Patienten noch nicht extubieren, er zieht nicht ausreichend Atemvolumen. „Es reicht!“, schreit die Oberärztin, stößt mich weg, zieht den Tubus raus. „Aus dir wird nie ein Anästhesist!“
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Nachtdienst. Ein Dialysepatient läutete, ihm sei nicht wohl. Ich stufte das nicht als bedenklich ein. Einige Stunden später war er nicht mehr ansprechbar. Bald danach ist er verstorben. Hirnblutung. Niemand machte mir einen Vorwurf. Aber das schlechte Gewissen frisst mich auf: Ich habe sein Unwohlsein nicht hinterfragt. Übelkeit und Kopfschmerzen. Hätte ich den Heparin-Perfusor sofort pausieren sollen? Früher ein CT machen sollen? Habe ich den Patienten umgebracht?
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Eine Leberbiopsie, Routine. Der Kollege ist der beste bei invasiven Eingriffen, seit 20 Jahren. Jetzt schwere Nachblutung, Patient auf der Intensivstation, hämorrhagischer Schock, weite, lichtstarre Pupillen, Ausnahmezustand. Der Kollege sucht Hilfe, Orientierung. Wie auf die Angehörigen zugehen? Patientenanwalt einschalten? Die Zeit zusammen durchstehen. Kann das gutgehen?
Akuten Stress hält jeder Organismus aus. Gefährlich werden chronische Stressoren: äußere und ins Unbewusste verdrängte. Gefühle wie Angst, Wut, Trauer, Scham sind Urenergien und unzerstörbar. Werden sie nicht erkannt und transformiert, somatisieren sie, machen krank, rauben als komplex-gebundene Energiewirbel im Untergrund ständig die Lebenskraft. Statt eines einzigen, gegenwärtigen Konflikts feuern zehn alte Rucksäcke mit. Permanenter Survival-Modus!
Hier geschieht gemeinsames Erkennen, Verstehen – Mitgefühl ist zugegen.
„Meine Mutter wollte mich nicht. Ich war auf mich gestellt. Hielt mich viel im Freien auf, mit den Kindern im Nachbardorf. Ich ließ immer die anderen entscheiden, was wir spielen. Tat alles, um dazuzugehören. Wenn es heute heißt ‚Wer springt ein?‘, überlege ich hundertmal, ob ich nein sage!“
Unser früheres Verhalten hat uns einmal gehalten. Gemeinsam erkennen, würdigen, loslassen. Das Bombardement aus dem Unbewussten ist beendet. Immense Mengen an Lebensenergie werden frei!
Wir müssen aufeinander zugehen! Im Zweifelsfall JA! Nachfragen, hinschauen. Egozentrik ist obsolet. Kooperation und Mitgefühl sind angesagt: „Ich bin jetzt für dich da. Ich kümmere mich.“
Grünes Licht für den offenen Herz-Raum: Die Brücke zum Geist („spirit“, <l’esprit>)
Emotionale Kompetenz wird landläufig als „soft skill“ bezeichnet. Es braucht ein Re-Definieren: Die Natur des Mitgefühls ist die wirkmächtigste Kraft im Universum: Die erfahrene Psychologin nimmt die Hand des vierjährigen Mädchens. Seine Mama liegt im Sterben. Sie erklärt ihm, was passiert ist, ruhig, auf Augenhöhe, in einfachen Worten: „Bei deiner Mama ist eine Ader im Kopf geplatzt, deswegen ist sie umgefallen. Sie hat einen Schlauch im Mund, durch den sie gut Luft kriegt. Sie hat keine Schmerzen, sie schläft, siehst du?“ Die Psychologin ist da für die Kleine, bis zuletzt. „Deine Mama wird nicht mehr aufwachen. Sie wird sterben. Aber deine große Schwester bleibt bei dir.“ So jemanden braucht es. Einen Menschen mit Mut, offenem Herzen, der da ist, trotz allem.
Vom Überlebensmodus in den Schöpfermodus
Das Frontalhirn leuchtet auf, das begrenzte Ich verbindet sich mit dem Reich der Möglichkeiten. In diesen Hirnarealen ist der/die innere Ärzt*in beheimatet [
6]. Der Mensch findet wieder Harmonie, besseren Schlaf. Diese Homöostase berührt über das autonome Nervensystem jedes Organ, jede Zelle (50 Billionen = 50 × 10
12 Zellen). Frieden wird Realität.
Aus dieser Lebenskraft erkennt sich ein Mensch als kostbares Geschenk für die Welt, wird sicher im Authentisch-Sein, wohlwollend zu sich selbst. Das verbessert die Kommunikation mit anderen, Angestellten, Mitarbeiter*innen durch die Resonanz der Spiegelneurone [
7]. Der Konkurrenzkampfmodus wird abgelöst. Kooperation, die Kraft des „mutual support“, ist als Evolutionsschritt angesagt. Ein Zustand der Sicherheit, des Heimkommens und Ganzseins [
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Geliebt zu werden bedeutet wahrgenommen zu werden. Das ist ein Naturgesetzgesetz. So wahr, wie Wasser verdampft bei 100 °C. Auf diese Naturgesetze wollen junge Kolleg*innen ihr Leben bauen, und das ihrer Partner*innen und Kinder: Im Hier und Jetzt bewusst leben, liebevoll gegenüber Jungen und Alten und jedem Lebewesen – über ihre „Skills“ und ihr wertvolles Fachwissen hinaus. Geschätzte Kolleg*innen, so gehen wir gemeinsam voran im global notwendigen Bewusstseinswandel und leben bereits jetzt die Veränderung, die wir für die Welt wünschen – rosig, freundlich und im Geist offen.
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