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Ärzte Woche

20.06.2018 | Migrationsmedizin

„Sie verlieren die Hoffnung“

verfasst von: Martin Krenek-Burger

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Ärzte ohne Grenzen wie auch die Betreuungseinrichtung Hemayat kritisieren den psychosozialen Notstand im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Kaum einer der traumatisierten Flüchtlinge wird als besonders schutzwürdig anerkannt.

„No deportations.“ Keine Abschiebungen. Dieser Wunsch steht in großen weißen Lettern auf dem Asphalt des Donaukanal-Radwegs in Wien. Das wünschte sich auch Ibrahim, ein Flüchtling, der im Lager Moria auf der Insel Lesbos festsitzt. Seine Geschichte in groben Zügen: Islamisten haben ihn gezwungen, Enthauptungen mitanzusehen, er wurde auf der Flucht in der Türkei inhaftiert und dort ebenfalls misshandelt; seine Familie, die er zurückgelassen hatte, um sie eines Tages nachzuholen, kam bei einem Bombenanschlag ums Leben. Kurzum: Ibrahim ist psychisch ein Wrack. Nachdem sein Asylgesuch abgelehnt wurde, wollte er sich erhängen. Er hat Albträume und leidet unter chronischen Kopfschmerzen. Ein Schicksal von mehr als 6.000 im Flüchtlingslager Moria.

Wenige Meter Luftlinie vom Donaukanal entfernt sitzt die Psychotherapeutin Dr. Monika Gattinger-Holböck, Psychotherapeutin im Wiener Büro von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières, MSF), an ihrem Schreibtisch. Nach ihrem jüngsten Einsatz auf Lesbos ist ihr das Lachen vergangen. „Ich habe noch nie so ein psychisches Elend gesehen – bei uns in Europa.“ Nach Einsätzen in Pakistan, im Libanon und im Norden des Irak war sie zuletzt in einer MSF-Klinik für Überlebende von Folter und Gewalt auf Lesbos im Einsatz.

Völlig unzureichenden Strukturen stehen in Moria 7.400 Menschen – mehr als 2.000 sind Kinder – gegenüber. Sie müssen im Flüchtlingslager nach den Vorgaben des im März 2016 geschlossenen Türkei-EU-Deals auf die Entscheidung in ihrem Asylverfahren warten.

„Die meisten verlieren dort jede Hoffnung und brechen seelisch zusammen“, sagt Gattinger-Holböck, „die Klinik kann dem Bedarf nicht gerecht werden.“ 30 neue Patienten pro Tag wurden Anfang Oktober behandelt, bis zu zehn von ihnen wegen akuter Suizidgefährdung oder psychotischen Symptomen. Zwei Monate später standen 554 Patienten auf der Warteliste.

Flüchtlinge zahlen hohen Preis

„Durch die absurde EU-Politik der Abschottung bezahlen die Flüchtlinge schwer mir ihrer Gesundheit – auch mit ihrer seelischen Gesundheit“, sagt die Salzburger Psychologin. Seitens der griechischen Behörden ortet sie teils Überforderung und teils Unwillen. So seien in dem Lager sechs Psychologen im Auftrag des Gesundheitsministeriums tätig, um traumatisierte Flüchtlinge zu identifizieren, sie haben aber keine Übersetzer zur Verfügung. Traumatisierte Menschen gelten laut einer EU-Richtlinie und der Genfer Flüchtlingskonvention als besonders schutzwürdig. Ihnen stehen bessere Aufnahmebedingungen und psychosoziale Betreuung zu. Nach den Erfahrungen Gattinger-Holböcks wird auf Lesbos fast kein Flüchtling als besonders schutzwürdig anerkannt.

Die Ungewissheit über den Ausgang des Asylverfahrens oder rassistische Übergriffe, von denen man bei Hemayat zunehmend häufiger höre, seien neben der fehlenden Möglichkeit, eine Arbeit aufzunehmen, die größten Hindernisse für die Betroffenen, ihre Traumata hinter sich zu lassen, sagt Psychotherapeutin Dr. Barbara Preitler von der Betreuungseinrichtung Hemayat . Diese Traumata können sich in psychotischen Zuständen äußern, in Albträumen, Depressionen oder Angst, zu den häufigsten Symptomen gehören Konzentrations- und Merkstörungen. Mehr Sensibilität wünscht sich die Psychologin auch bei Befragungen im Asylverfahren, denen die Flüchtlinge ohnehin mit Angst entgegensehen. „Ein traumatisierter Mensch ist vielleicht gar nicht imstande, eine stringente Geschichte zu erzählen“, erläutert Preitler.

Massenmenschenhaltung

Die auch von Bundeskanzler Sebastian Kurz unterstützte Idee, Asylzentren außerhalb der EU zu etablieren, lehnt Gattinger-Holböck ab: „Wir alle wissen, was die Auswirkungen von Massentierhaltung sind, massiver Stress und Verhaltensstörungen, das ist bei Menschen nicht anders. Wenn man ein Mittel sucht, Menschen bewusst zu schädigen, dann soll man über solche Massenlager nachdenken.“ Gattinger-Holböck weiß zwar, dass das zynisch klingt. Aber: „Als ich von Lesbos zurückgekommen bin, habe ich in der U-Bahn die Werbung mit den Heumilchkühen gesehen, die geeigneten Auslauf, adäquates Futter und medizinische Versorgung bekommen. Ich habe mir gedacht: Das würde ich mir für Geflüchtete wünschen.“

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Metadaten
Titel
„Sie verlieren die Hoffnung“
Publikationsdatum
20.06.2018
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 26/2018

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