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Erschienen in: ProCare 10/2023

01.12.2023 | Migrationsmedizin | DIABETESPFLEGE Zur Zeit gratis

Migration und Diabetes

Kultursensibel zu besserer Vorsorge und Behandlung

verfasst von: Ümmü Ata

Erschienen in: ProCare | Ausgabe 10/2023

Migration in Österreich

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Gesundheit nicht als Fehlen von Krankheit, sondern als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen sowie sozialen Wohlergehens. Grundlegende Bedingungen von Gesundheit sind Frieden, angemessene Wohnbedingungen, Bildung, Ernährung, ein stabiles Ökosystem, eine sorgfältige Verwendung vorhandener Naturressourcen, soziale Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Verbesserung des Gesundheitszustandes ist unumgänglich an diese Grundvoraussetzungen gebunden.
Bewerten wir die Lebensbedingungen und -welten von Personen mit Migrationshintergrund, wie oben beschrieben, so wird einiges verständlich und sehr deutlich klar: Viele Grundvoraussetzungen treffen bei Menschen mit Migrationshintergrund nicht zu, weswegen ein gesundes Leben kaum möglich ist (vgl. Domenig, S. 153f).
Wobei hier angeführt werden muss, dass sich die Migrantinnen und Migranten in Österreich deutlich voneinander unterscheiden. Die Unterschiede zeigen sich nach Herkunftsland, Bildungsstand, Religionszugehörigkeit und Einkommensstatus. Eine weitere Voraussetzung hinsichtlich des Gesundheitsverhaltens von Menschen mit Migrationshintergrund sind die Prägung und das Verständnis von Gesundheit sowie die Handlungsweisen im Gesundheitsbereich des jeweiligen Herkunftslandes.
Laut Statistik Austria lebten im Jahr 2022 etwa 2,35 Millionen Personen mit Migrationshintergrund in Österreich. Die Staatsangehörigkeiten sind gereiht nach dem Anteil an der Gesamtbevölkerung:
  • _ Deutschland
  • _ Rumänien
  • _ Serbien
  • _ Türkei
  • _ Kroatien
  • _ Ungarn
  • _ Bosnien und Herzegowina
  • _ Syrien
  • _ Ukraine
  • _ Polen
  • _ Slowakei
  • _ Afghanistan
  • _ Bulgarien
  • _ Italien
  • _ Russische Föderation

Migration und Gesundheitsverhalten

Das Gesundheitsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund in Österreich ist anhand der drei Aspekte Adipositas, Rauchen und körperliche Aktivitäten gut untersucht worden. Daraus lassen sich folgende Ergebnisse ableiten:
Adipositas, einer der Hauptgründe für eine Diabeteserkrankung, tritt bei Personen mit Migrationshintergrund mit einer statistisch signifikant höheren Wahrscheinlichkeit auf. So waren 2019 etwa 35 Prozent der Befragten übergewichtig (BMI 25-30), 16 Prozent litten an Adipositas, mit einem BMI von 30 bis 40. Hier sind besonders stark türkische Migrantinnen betroffen, die mit 33 Prozent Übergewicht und 27 Prozent Fettleibigkeit die Statistik anführen. Auch Migrantinnen aus dem ehemaligen jugoslawischen Raum scheinen mit 37 Prozent der befragten Personen vermehrt übergewichtig zu sein. Die diagnostizierte Adipositas ist hier mit 15 Prozent allerdings weniger ausgeprägt (vgl. ÖIF- Migration in Österreich, Gesundheitliche und Ökonomische Aspekte, S. 29).
Auch Rauchen ist unter Personen mit Migrationshintergrund sehr ausgeprägt. 2019 rauchten 20 Prozent der österreichischen Gesamtbevölkerung. Im Vergleich dazu rauchten 33 Prozent der Migrantinnen und Migranten aus dem ehemaligen jugoslawischen Raum und 28 Prozent der Migrantinnen und Migranten aus der Türkei (vgl. ÖIF- Migration in Österreich, Gesundheitliche und Ökonomische Aspekte, S. 30).
Zur Thematik körperliche Aktivitäten ergaben die Untersuchungen: Etwa 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung führt Ausdauerbewegung von 2,5 Stunden pro Woche aus. Dieser Prozentsatz wird von Menschen mit Migrationshintergrund nicht erreicht. Hier sind Menschen mit türkischem Hintergrund die Schlusslichter mit nur 20 Prozent Ausdauersport in der Woche (vgl ÖIF- Migration in Österreich, Gesundheitliche und Ökonomische Aspekte, S. 31).

Migration und Diabeteserkrankung

Laut International Diabetes Federation — IDF liegt die Diabetesprävalenz in Österreich bei 9,3 Prozent. Bei Personen mit Migrationshintergrund liegt die Prävalenz bei etwa zehn bis zwölf Prozent, wobei von einer hohen Dunkelziffer nicht diagnostizierter Patientinnen und Patienten ausgegangen wird. Deshalb ist es wichtig, auf diese Personengruppe besonderes Augenmerk zu richten, um Spätkomplikationen von Diabetes zu vermeiden bzw. hinauszuzögern.
Diese Dunkelziffer ergibt sich unter anderem aus der Regelmäßigkeit von Arztbesuchen bzw. dem Wahrnehmen von Vorsorgeuntersuchungen. Allerdings ergab sich bei der Vorsorgeblutzuckermessung bei Personen mit Migrationshintergrund mit 56 Prozent nur ein geringer Unterschied zu Personen ohne Migrationshintergrund mit 59 Prozent (Abb. 1; vgl. Statistik Austria, Migration und Integration, 2020, S. 73).

Ernährungsgewohnheiten

Ernährung und Esskulturen von Menschen mit Migrationshintergrund unterscheiden sich je nach Herkunftsland und Religion. Die Mahlzeitkonzepte unterscheiden sich, sowie die Zubereitungsformen und Lebensmittelkombinationen.
So wird in Familien mit Migrationshintergrund aus dem Süden und Osten (Türkei, ehemaliger jugoslawischer Raum, Rumänien, Italien) meist die Hauptmahlzeit am Abend im ganzen Familienverband eingenommen, es gibt regelmäßig Weizenbrot als Zuspeise. Da nicht selten Lebensmittel und Rezepte aus den Heimatländern mitgenommen und verarbeitet werden, eignen sich Rezepte der österreichischen Küche und die Ernährungsberatungen dazu kaum. Aspekte der mediterranen Küche, der Balkanküche, der Küche Osteuropas bzw. des Orients fließen in die Zubereitung ein. Allerdings werden zum Essen sehr häufig stark zuckerhaltige Getränke wie Softdrinks, Säfte und Energydrinks gereicht.
Hier ist es wichtig, Patientinnen und Patienten sowie auch deren Angehörigen den Sinn des eingeschränkten Konsums zu erklären. Verbote bringen in diesem Fall keinen Erfolg, da das Verstehen wichtig ist.

Fastenmonat Ramadan

Die gläubigen Moslems leben nach dem Koran, der nach dem Mondkalender das Jahr einteilt. Hier ist der neunte Monat der Fastenmonat, Ramadan genannt. In dieser Zeit nehmen Moslems die erste Mahlzeit bereits vor dem Sonnenaufgang („Sahur“) zu sich. Erst nach dem Sonnenuntergang wird wieder gegessen und getrunken(„Iftar“). Grundsätzlich sind vom Fasten nur Schwangere, Stillende, Reisende, Kinder (also Menschen vor der Pubertät) und chronisch Kranke ausgenommen. Die Ausnahme bilden hier Diabetikerinnen und Diabetiker, die trotz ihrer chronischen Erkrankung nicht auf das Fasten verzichten wollen. Dies gilt es im Rahmen der Diabetesberatung zu bedenken und bereits frühzeitig mit den Patientinnen und Patienten zu besprechen. Eine engmaschige Beratung und Kontrolle während des Fastenmonats sind wünschenswert. Die Österreichische Diabetes Gesellschaft — ÖDG bietet in ihren Leitlinien Empfehlungen, wie eine erfolgreiche Therapie auch während dieser anspruchsvollen Zeit gelingt.
„Adipositas, einer der Hauptgründe für eine Diabeteserkrankung, tritt bei Personen mit Migrationshintergrund mit einer statistisch signifikant höheren Wahrscheinlichkeit auf.“

Empfehlungen lt. ÖDG Leitlinien beim Ramadan

SGLT-2-Hemmer: Keine Dosisreduktion empfohlen, die Einnahme kann zu Iftar erfolgen. Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr nach dem Fastenbrechen (Iftar) bis zu (Sahur) achten.
Beispiel OADs: Jardiance, Forxiga
Insuline BOT — basalunterstützte orale Therapie: Die einmalige Basalinsulintagesdosierung um 15 bis 30 Prozent reduzieren und im Lauf der Fastenzeit entsprechend der Glukoseeinstellung langsam anpassen. Bei zweimaliger Gabe: übliche Morgendosierung zu Iftar; abendliche Dosierung um 50 Prozent reduzieren, zum Iftar verbreichen. Ein besonderes Augenmerk gilt auch der Insulintherapie. Hier gilt es, Hypoglykämien während des Tages zu vermeiden und nachts den Blutzucker im Normbereich zu halten. Auch die Gefahr der Dehydration und Ketoazidose sollte nicht außer Acht gelassen werden.
Die Übersichtstabelle für die Risikoeinschätzung von Komplikationen während der Fastenzeit dient bei Patienteninnen und Patienten der Risikominimierung (Abb. 2).

Herausforderungen bei Prävention und Versorgung

Tägliche Herausforderungen in der Diabetesberatung sind unter anderem: Sprachbarrieren, kulturelle Sensibilität, sozioökonomische Faktoren, Gesundheitspolitik und Integration.
In der Diabetesberatung spielt die Kommunikation eine wesentliche Rolle. Durch die Sprachbarrieren sind Diabetesberaterinnen und -berater sehr gefordert, Strategien zu entwickeln, um diese zu überbrücken. Die erfolgreichste Strategieform ist das Heranziehen von professionellen Dolmetschdiensten, mit all ihren fachlichen und kulturellen Kompetenzen. Manche Kliniken stellen auch professionelle Dolmetscherinnen und Dolmetscher, die online übersetzen, zur Verfügung. Im extramuralen Bereich bietet zum Beispiel austria.babr.one (€ 29,-) einen guten Dienst. Leider werden noch immer sehr viele „ad hoc Dolmetscherinnen und Dolmetscher“ eingesetzt. Diese sind häufig Angehörige der Klientinnen und Klienten, Angestellte des Krankenhauses, aber auch andere Personen mit mehrsprachigem Hintergrund. Heranziehen von „ad hoc Dolmetscherinnen und Dolmetschern“ ist allerdings nicht unproblematisch.
Diese sind in Notfällen zwar eine Hilfe, jedoch bei Beratungsgesprächen fehl am Platz. Sobald ein Beratungsgespräch komplexer wird, fühlen sich „ad hoc Dolmetscherinnen und Dolmetscher“ rasch überfordert. Die fachlich korrekten Ausdrücke, das medizinische Vokabular oder schlicht das eigene Verständnis fehlen. So entstehen Selbstinterpretationen und es wird nicht mehr sinngemäß übersetzt. Beim Heranziehen der Angehörigen für die Übersetzung kann es zusätzlich vorkommen, dass — auch aufgrund von Familienhierarchien — die Inhalte zensiert werden oder aus Scham nicht alles übersetzt wird (vgl. Lenthe, S. 106f).
Durch die Digitalisierung haben auch Online-Übersetzungsdienste im Gesundheitswesen an Bedeutung gewonnen. Diese sind jedoch auch nur im Notfall brauchbar und in der Beratung kein Ersatz für professionelles Dolmetschen.
Sehr häufig wird Google Translator verwendet. Dies geschieht meist, da die Anwendung sehr einfach ist und es der wohl bekannteste Übersetzerdienst ist. Leider ist keine Übersetzungs-App im Gesundheitswesen qualitativ gut einsetzbar. Es gibt sehr viele Qualitätsunterschiede bei den Übersetzungen. (vgl. Kellerer S. 415).

Migration und Diabetesschulung

Viele Studien belegen, wie wichtig Schulungen für Diabetikerinnen und Diabetiker sind, die von speziell ausgebildeten Diabetesberaterinnen und -beratern durchgeführt werden. Es liegt an der Profession, einschätzen zu können, mit welchem Informationsmaterial bzw. welchen Tools gearbeitet werden kann. Für Menschen mit Migrationshintergrund gewinnt dies nochmals an Wichtigkeit, wenn zusätzliche Sprachbarrieren eine Rolle spielen. Deshalb sollen bei Personen mit Migrationshintergrund vorwiegend Einzelschulungen, gegebenenfalls Gruppenschulungen in der jeweiligen Muttersprache oder mit professionellen Dolmetscherinnen und Dolmetschern und mit entsprechendem Hilfsmaterial, falls vorhanden, in der Sprache der Migrantinnen und Migranten, stattfinden.
Die Erfahrung zeigt, dass die Konzentration bei einem komplexen Thema und einer fremden Sprache sehr gefordert ist und nicht alle Informationen aufgenommen werden können. Daher ist es erfolgreicher, die Beratungstermine eher kurz zu gestalten und die Betroffenen dafür öfter zu kontaktieren. Dadurch kann der Verlauf des Diabetesmanagements besser beobachtet werden. Auch die schnellere Einschätzung der Wissensdefizite ist besser möglich und die Anpassung der Schulungseinheiten leichter gegeben.
„Die Erfahrung zeigt, dass die Konzentration bei einem komplexen Thema und einer fremden Sprache sehr gefordert ist und nicht alle Informationen aufgenommen werden können.“
Für die Schulungen soll ein einfacher Satzbau sowie ein einfacher Sprachgebrauch verwendet werden, komplizierte Fremdwörter sollen vermieden werden.
Schulungsmaterialien sollten den Zielgruppen angepasst sein — mit kultursensiblen Beispielen. Es gibt evaluierte Schulungsprogramme wie „Conversation Map“, in verschiedenen Sprachen sowie mit kulturell angepassten Inhalten. Das Schulungsprogramm „Therapie Aktiv“, Disease Management Diabetes mellitus Typ 2, stellt fachliche Broschüren in verschiedenen Sprachen zur Verfügung.
Zusätzlich ist es wünschenswert, auch Familien-mitglieder an Diabetesschulungen teilhaben zu lassen, um die Verbesserung des Lebensstils sowie die Förderung des Diabetesmanagements im Alltag leichter integrieren zu können.
Von großem Vorteil ist natürlich, wenn Diabetes-beraterinnen und -berater selbst Migrationshintergrund haben. Sprachbarrieren werden dadurch verringert, kulturelles Hintergrundwissen der Beraterinnen und Berater sowie die zusätzliche Profession als Advanced Practise Nurse/Pflegeexpertin bzw Pflegeexperte — Diabetes Care (APN — Diabetes Care) gewinnen an Bedeutung, um auch diese Gruppe von Betroffenen bestmöglich zu beraten und betreuen.

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Literatur
Zurück zum Zitat Dagmar Domening (2007): Transkulturelle Kompetenzen Lehrbuch für Pflege-, Gesundheit und Sozialberufe, 2 Auflage, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dagmar Domening (2007): Transkulturelle Kompetenzen Lehrbuch für Pflege-, Gesundheit und Sozialberufe, 2 Auflage, Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Zurück zum Zitat Ulrike Lenthe (2011): Transkulturelle Pflege Kulturspezifische Faktoren erkennen — verstehen - integrieren, 1 Auflage, Facultas Verlags- und Buchhandlung AG, Wien Ulrike Lenthe (2011): Transkulturelle Pflege Kulturspezifische Faktoren erkennen — verstehen - integrieren, 1 Auflage, Facultas Verlags- und Buchhandlung AG, Wien
Zurück zum Zitat M. Kellerer K. Müssig (Oktober 2022) Diabetologie und Stoffwechsel S2 Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetesgesellschaft M. Kellerer K. Müssig (Oktober 2022) Diabetologie und Stoffwechsel S2 Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetesgesellschaft
Zurück zum Zitat DDG — Deutschen Diabetesgesellschaft, 2022 DDG — Deutschen Diabetesgesellschaft, 2022
Zurück zum Zitat ÖDG — Österreichische Diabetes Gesellschaft, 2021 ÖDG — Österreichische Diabetes Gesellschaft, 2021
Metadaten
Titel
Migration und Diabetes
Kultursensibel zu besserer Vorsorge und Behandlung
verfasst von
Ümmü Ata
Publikationsdatum
01.12.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
ProCare / Ausgabe 10/2023
Print ISSN: 0949-7323
Elektronische ISSN: 1613-7574
DOI
https://doi.org/10.1007/s00735-023-1775-0

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