Skip to main content
Ärzte Woche

26.06.2023 | Hygiene- und Umweltmedizin

Saunieren unter freiem Himmel

verfasst von: Lorenz Unterberger

print
DRUCKEN
insite
SUCHEN

Während die Temperaturen weltweit steigen und Hitzewellen länger und extremer werden, muss die menschliche Körperkerntemperatur in einem exakten Rahmen bleiben. Durch Schwitzen können wir uns der Umgebung anpassen – aber feuchte Hitze kann Schweiß wirkungslos machen.

Unter der warmen Decke im Winter oder im wohltemperierten Innenraum im Sommer: Die richtige Umgebungstemperatur ist etwas Angenehmes. Selbst hohe Temperaturen haben wir dank unseres Schweißmechanismus im Griff. Schwitzen funktioniert durch die Verdunstung von Wasser: Die Feuchtigkeit auf der Hautoberfläche geht in Wasserdampf über und entzieht ihr dabei Wärme. Je feuchter die umgebende Luft ist, desto schlechter kann das Wasser verdunsten. Die relative Luftfeuchtigkeit setzt somit eine Grenze, wie weit man mittels Verdunstung abkühlen kann. Mit steigender Luftfeuchtigkeit verschiebt sich auch diese Grenztemperatur nach oben. Wickelt man ein Thermometer in ein feuchtes, belüftetes Tuch, kann man genau diese Temperatur darauf ablesen – man nennt sie daher „Feuchtkugeltemperatur“ oder auch „Kühlgrenztemperatur“. Wenn es um Hitzestress geht, genügt es also nicht, nur auf die Lufttemperatur zu achten. Vielmehr ist es die Kombination aus Temperatur und Luftfeuchtigkeit, die Hitzewellen besonders gefährlich machen kann – die Kühlgrenztemperatur ist dafür ein handliches Maß.

Ab wann Hitze gefährlich wird

Bis zu welchen Kühlgrenztemperaturen halten es Menschen nun aus? Um die Wärme, die im menschlichen Körper laufend erzeugt wird, nach außen zu leiten und so die Körperkerntemperatur von etwa 37 °C konstant zu halten und eine Hyperthermie zu verhindern, darf die Hauttemperatur maximal 35 °C betragen. Das liegt daran, dass Wärme nur dann fließt, wenn ein ausreichend großes Temperaturgefälle besteht. Lange ging man davon aus, dass bei einer Kühlgrenztemperatur von eben diesen 35 °C die Anpassungsgrenze für Menschen liegt. In einer in diesem Jahr veröffentlichten Studie wurde dieser Wert auf die Probe gestellt. Junge, gesunde Probanden schluckten eine Telemetriepille, um laufend ihre Körperkerntemperatur zu messen. Dann wurden entweder die Lufttemperatur oder die Luftfeuchtigkeit im Raum erhöht, um herauszufinden, ab welchen Umgebungsbedingungen die Körperkerntemperatur zu steigen beginnt – und das war schon bei einer deutlich niedrigeren Kühlgrenztemperatur von etwa 31 °C der Fall.

Die Erfahrung von bisherigen Hitzewellen zeichnet ein ähnliches Bild. Etwa die Hitzewelle im Jahr 2003, die auch Wien traf, aber in Südeuropa besonders gravierend ausfiel. In Frankreich führte dies zu rund 15.000 hitzebedingten Todesfällen – bei Kühlgrenztemperaturen von nur 28 °C. „Das war eine traumatische Erfahrung für das gesamte Land. Das war bis dato in Europa nicht so massiv passiert“, sagt dazu Umweltmediziner Prof. DI Dr. Hans-Peter Hutter von der Medizinischen Universität Wien. Auf Basis von über 700 aufgezeichneten Fällen von hitzebedingter Übersterblichkeit der letzten Jahrzehnte haben Forschende eine „rote Linie“ ermittelt – wieder eine Kombination aus Lufttemperatur und relativer Luftfeuchtigkeit –, ab der bisherige Wetterbedingungen eine Übersterblichkeit nach sich gezogen haben. Diese rote Linie wird bei noch niedrigeren Kühlgrenztemperaturen erreicht.

Was bedeutet es nun, wenn die Kühlgrenztemperatur über der menschlichen Belastungsgrenze liegt? „Das ist eine kritische Grenze, bei der die thermischen Umweltbedingungen lebensfeindlich werden“, sagt Hutter. „Das ist wie bei Kälte – abhängig davon, wie lange Sie dem ausgesetzt sind, was Sie anhaben und wie empfindlich Sie sind –, ab einem gewissen Punkt haben Sie nur eine kurze Überlebenszeit, deswegen sind diese Situationen lebensgefährlich.“

Die Liste von besonderen Risikogruppen ist dabei lang. Menschen mit Vorerkrankungen haben ein erhöhtes Risiko, etwa mit Herz- und Atmungserkrankungen oder Rückenmarkverletzungen, da durch sie der Kühlmechanismus außer Kraft gesetzt ist. Ebenso ältere Menschen, deren Kühlmechanismus geschwächt ist, und Säuglinge, bei denen er noch nicht entwickelt ist. Aber auch viele soziale Faktoren machen einen Unterschied: „Eigene Untersuchungen zeigten, dass ein geringes Bildungsniveau mit geringerem Wissen zusammenhängt, wie und mit welchen Maßnahmen man sich gegen die Hitze schützen kann. Gleichzeitig leben einkommensschwächere Menschen oft in überhitzten Gebieten oder Gebäuden. Auch einsame, alleinstehende Menschen, um die sich niemand mehr kümmert, die etwa tagelang in heißen Wohnungen quasi ‚dahinvegetieren‘, haben ein vergleichsweise deutlich höheres Risiko, Hitzewellen nicht zu überleben“, sagt Hutter. Eine große Rolle spielt auch der Zugang zu Trinkwasser. Global betrachtet, sind viele Menschen dadurch zusätzlich gefährdet. „Bei uns, wo wir praktisch alle einwandfreies Trinkwasser haben, stellt sich nur die Frage, ob wir dies auch ausreichend zu uns nehmen.“ Speziell bei älteren Menschen können hier verringertes Durstgefühl, Beschwerden beim Wasserlassen und Demenz erschwerend hinzukommen, was in deutlich zu wenig Flüssigkeitszufuhr mündet.

„Aber die Sterblichkeit ist nur ein spektakulärer Engpunkt“, wirft Hutter ein. Neben dem Auftreten von Atemwegs- und Herzkreislaufproblemen sowie von psychischen Beeinträchtigungen (Stichwort Ängste) können körperliche und geistige Leistungsfähigkeit durch Hitzebelastung teils sehr stark abnehmen, dadurch steigt die Unachtsamkeit und die Gefahr für Unfälle, Produktivitätseinbußen führen zu wirtschaftlichen Schäden.

Hitzestress heute

Kühlgrenztemperaturen von mindestens 35 °C kommen derzeit nur punktuell vor und dauern in der Regel nur etwa ein bis zwei Stunden. Dagegen sind schon jetzt etwa 30 Prozent der Weltbevölkerung Überschreitungen der „roten Linie“ an mindestens 20 Tagen im Jahr ausgesetzt – hauptsächlich in Ländern des Globalen Südens. Zum Beispiel letztes Jahr in Pakistan und Indien: In Delhi wurden im Sommer 2022 Kühlgrenztemperaturen von 33,7 °C erreicht. „In diesem Fall sind Millionen Menschen betroffen, die nicht annähernd einen solchen Zugang zum Gesundheitssystem haben, wie wir dies gewohnt sind. Zusätzlich kommt in Delhi noch die enorme Luftverschmutzung dazu. Dieses Gemenge aus sehr hohen Temperaturen und der massiven Feinstaubbelastung setzt definitiv auch jungen Menschen zu“, so Hutter. Die dadurch verursachte Übersterblichkeit ist aber aufgrund der dort herrschenden unübersichtlichen Zustände (Slums etc.) nur sehr, sehr schwer fundiert zu beziffern.

Seit der vorindustriellen Zeit am Ende des 19. Jahrhunderts, einer üblichen Null- bzw. Bezugslinie für die Erderwärmung, ist die Oberflächentemperatur bisher etwa 1,1 °C gestiegen – im weltweiten Schnitt. Der ist allerdings nur begrenzt aussagekräftig, da sich die Luft über dem Land sehr viel stärker erwärmt als über dem Meer. In Österreich hat die Temperatur im gleichen Zeitraum um durchschnittlich mehr als 2 °C zugenommen. Gleichzeitig hat sich das Vorkommen von feuchter Hitze, also hohen Kühlgrenztemperaturen, seit 1979 global mehr als verdoppelt.

Der Blick in die Zukunft

Eines lässt sich schwer vorhersagen, das menschliche Verhalten. Wie ambitioniert und wie erfolgreich Klimaschutz sein wird, ist alles andere als klar. Prognosen teilt man in der Klimawissenschaft daher in verschiedene Erwärmungsszenarien ein: etwa starke Reduktion der Treibhausgasemissionen, mittlere Reduktion oder Worst Case. Legt man die „rote Linie“ nun über die Klimamodelle für die verschiedenen Szenarien, zeigt sich: In großen Teilen der Erde wird unsere Thermoregulation zunehmend unter Druck geraten.

Selbst im optimistischsten Szenario – bei dem angenommen wird, dass sich die Treibhausgasemissionen stark nach unten biegen würden und zusätzlich ein Teil der Treibhausgase wieder aus der Luft geholt werden würde – wären im Jahr 2100 ungefähr 48 Prozent der Weltbevölkerung an mindestens 20 Tagen im Jahr Wetterbedingungen jenseits der roten Linie ausgesetzt.

Im Worst-Case-Szenario mit langfristig sehr hohen Treibhausgasemissionen wären diese Bedingungen noch intensiver, würden häufiger auftreten und viel größere Flächen erfassen. Etwa drei Viertel der Weltbevölkerung wären dann exponiert. Auf dem 40. Breitengrad würden diese gefährlichen Bedingungen an circa 60 Tagen im Jahr herrschen – auf diesem Breitengrad liegen zum Beispiel Mallorca und Ankara – und in feuchten, tropischen Gebieten fast das ganze Jahr über anhalten. Es gibt also einen starken Unterschied zwischen nördlicheren und südlicheren Breitengraden, und zwar in allen Szenarien, wie auf den Abbildungen gut zu erkennen ist. Bleibt das alles damit eher ein Problem der südlichen Regionen? Hutter dazu: „Überhaupt nicht, weil es Migrationsbewegungen geben wird. Wird müssen, weil man dort, einfach gesagt, nicht mehr leben kann. Wir müssen uns auch auf solche Szenarien vorbereiten.“ Gleichzeitig ist der Beitrag von Industrienationen und wohlhabenden Ländern zur Erderhitzung sehr viel höher als von den Ländern, die von extremer Hitze besonders stark betroffen sind und sein werden. Die entscheidende Frage ist also, welchen Emissionspfad wir schaffen werden und welches Szenario damit eintreten wird.

Von Klimaschutz bis Klimaanlage

Doch auch in unseren Breiten werden Adaptionsmaßnahmen nötig sein, um unsere Bevölkerung vor den steigenden Temperaturen und Hitzeperioden zu schützen: „Wir sind schon mitten drin, in den nächsten zehn Jahren entkommen wir der Zunahme an Sommer- und Hitzetagen sicher nicht.“ Das verbreitetste Mittel zur „Symptomlinderung“ sind Klimageräte – durch sie kann der Hitzestress in Innenräumen zwar rasch reduziert werden, doch nicht ohne Nebenwirkungen: Für jene Menschen, die weltweit am stärksten unter starker Hitze leiden, sind sie ohnedies häufig nicht leistbar. Massiver Einsatz von simplen Klimaanlagen erhöht den Energiebedarf enorm, und damit auch Treibhausgasemissionen, und kann das Stromnetz stark belasten – gerade jetzt, wo Energie zu sparen ist. Kommt es dadurch an starken Hitzetagen zu Stromausfällen, kann das wiederum zu hitzebedingter Übersterblichkeit führen – wie man etwa in großen Metropolen bereits beobachten konnte. Daher gilt es vor allem, auf höherer Ebene, Anpassungen vorzunehmen, nämlich bei der Stadtplanung und -gestaltung: etwa mit Gewässern, die als Wärmespeicher und durch Verdunstung die Umgebung abkühlen, mit Parks, die durch ihre Blätterdächer „cool islands“ erzeugen, oder indem man Hitzequellen wie Verkehrsflächen umgestaltet. Auch auf Gebäudeebene gibt es zahlreiche gut untersuchte und wirkungsvolle Stellschrauben, unter anderem Dämmung, Beschattung oder Beschichtungen, die Sonnenstrahlung reflektieren.

Dabei stellt sich nicht die Frage Klimaschutz oder Klima-Anpassung, wie Hutter unterstreicht: Oft hört man „Dann passen wir uns halt an und können so weitermachen wie bisher“ – das ist allerdings ein grober Irrtum. Anpassungsmaßnahmen sind notwendig, aber es gibt eine Grenze dieser Anpassung, man muss nur an die Kipppunkte denken. Wir müssen auf jeden Fall Klimaschutzmaßnahmen umsetzen. Daran führt kein Weg vorbei, wenn wir noch einen Rest an Verantwortungsgefühl haben – unseren Kindern gegenüber und anderen Menschen, die in Weltregionen leben, die schon jetzt massiv betroffen sind. Damit es dort nicht noch schlimmer wird und sie ihre Heimat verlassen müssen.“ Damit die Hyperthermie der Erde, so gut es noch geht, nicht in unsere Körper vordringt.


Metadaten
Titel
Saunieren unter freiem Himmel
Publikationsdatum
26.06.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 27/2023

Weitere Artikel der Ausgabe 27/2023