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Ärzte Woche

30.01.2023 | Geschichte der Medizin

Erste Allgemeine Versicherung

verfasst von: Josef Broukal

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Am 5. Juli 1948 fand in Großbritannien eine Revolution statt: Das Parlament hob den „National Health Service“ aus der Taufe. Einen kostenlosen Gesundheitsdienst für alle. Beim Hausarzt wie im Spital; beim Zahnarzt wie beim Optiker. Ohne Selbstbehalte. Finanziert mit Steuergeld.

November 1942. Britische Truppen schlagen bei der ägyptischen Landstadt El Alamein das Afrika-Korps der Deutschen Wehrmacht in die Flucht. Es ist für die Briten die erste gute Nachricht nach drei Jahren Krieg. Winston Churchill sagt, dies sei nicht das Ende des Krieges. Es sei nicht einmal der Anfang des Endes. Aber vielleicht das Ende des Anfangs.

Ein paar Tage später sorgt eine andere Neuigkeit für Schlagzeilen. Im Auftrag der britischen Regierung legt eine Kommission Vorschläge für den völligen Umbau des britischen Sozialsystems vor – auch des Gesundheitssystems. Revolutionäre Vorschläge. Bekannt werden sie unter dem Namen des Vorsitzenden der Kommission, William Henry Beveridge. Es sind Vorschläge, wie man sie von einem linken Sozialdemokraten erwarten würde –, der Beveridge nicht ist. Der 63 Jahre alte Universitätsprofessor ist ein bekennender Liberaler. Aber er ist auch ein Mann, der erkennt, dass man den Großteil der Bevölkerung nach den Entbehrungen des Weltkriegs nicht in Armut und Mangel halten dürfe. In seinen Worten: „Umwälzende Zeiten sind Zeiten für Revolutionen, nicht für Flickwerk.“

300 Seiten lang ist der „Beveridge Report“. Es ist eine detaillierte Anweisung für den Aufbau eines Wohlfahrtsstaates. Ein Staat, der die fünf größten Sorgen der Menschen beseitigen soll: Armut, Krankheit, Unwissenheit, Unglück und Arbeitslosigkeit. Er nennt sie „die fünf Riesen“, die es zu erschlagen gelte. Beveridge schafft ein Kunststück: Er überzeugt selbst die Konservativen mit dem Argument, ein wohlversorgtes Volk ohne Armut und Krankheit würde nach dem Krieg helfen, die britische Wirtschaft wettbewerbsfähig zu halten. Soziale Sicherheit sei der Schlüssel dazu.

Ein kostenloser Gesundheitsdienst

Eine Krankenversicherung hat in den 1940er-Jahren nicht einmal die Hälfte der Britinnen und Briten. Alle anderen müssen bar zahlen beim Arzt und im Spital. Beveridge schlägt vor, jedem in Großbritannien lebenden Menschen eine kostenlose Behandlung zu garantieren. Dieser „Nationale Gesundheitsdienst“ (National Health Service, kurz NHS) soll enthalten: „Umfassende Gesundheits- und Rehabilitationsdienste zur Vorbeugung und Heilung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die allen Mitgliedern der Gemeinschaft zur Verfügung stehen.“

Sechs Jahre später ist es so weit. Am 5. Juli 1948 beschließt das Unterhaus in London fünf revolutionäre Sozialgesetze. Und setzt damit die Vorschläge von William Beveridge in die Praxis um. Darunter den „National Health Service Act“ mit dem großen Versprechen, die Gesundheit aller Menschen durch kostenlose Behandlung zu fördern. Möglich wurde das dadurch, dass die Britinnen und Briten im Sommer 1945 den konservativen Kriegspremier Winston Churchill abgewählt hatten. Die Labour Party hatte mit 393 Mandaten eine komfortable Mehrheit im Parlament gewonnen.

Vom Herzog bis zum Straßenkehrer

Die in Wien erscheinende Tageszeitung Weltpresse verkündet am 5. Juli 1948: „Vom Herzog bis zum Straßenkehrer – ein ganzes Volk ist versichert.“ In ihrem ausführlichen Bericht hält die Weltpresse fest, das neue Gesetz folge drei Grundsätzen:

„Kostenlosigkeit: Jeder und jede hat Anspruch auf kostenlose ärztliche und zahnärztliche Behandlung, Operation und Pflege im Krankenhaus, auf kostenlose Arzneien und Heilmittel, kostenlose Brillen, falsche Gebisse, Bruchbänder, Hörapparate und so weiter. Aber: Wer eine Brille oder ein falsches Gebiss in besonderer Ausführung wolle, könne dies haben, wenn er dafür einen Zuschlag zahlt.

Allgemeinheit: Vom Herzog bis zum Straßenkehrer, von der Filmdiva bis zur Hausfrau, vom neugeborenen Säugling bis zum hilflosen Greis ist jeder und jede inbegriffen. Beitragszahlung ist keine Voraussetzung dafür, dass die Vorteile in Anspruch genommen werden können. Zwar wird ein Beitrag für den NHS eingehoben – aber auch, wenn man diesen nicht bezahlt hat, behält man den unveräußerlichen Anspruch auf alle Vorteile des neuen Gesundheitsdienstes.

Freiwilligkeit: Niemand ist gezwungen, sich als Patient kostenlos im Rahmen des neuen Nationalen Gesundheitsdienstes behandeln zu lassen. Jeder kann weiterhin Privatpatient bleiben. Ärzte und Ärztinnen dürfen weiterhin Privatpatienten behandeln. Sie müssen nicht dem neuen System beitreten. Wer aber mitmacht, dem ersetzt der Staat den Wert der Praxis und zahlt ihn für jede Behandlung. Listen mit den Namen und Adressen von Ärzten, die beim NHS dabei sind, werden auf allen Postämtern ausgehängt.“

Ärzte anfangs dagegen

Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als wären Großbritanniens Ärzte nicht bereit, sich in die Hände der staatlichen Gesundheitsvorsorge zu begeben. Noch im Februar 1948 drohten ihre Standesvertreter mit Streik. In der Weltpresse liest man:

„Anfangs bekämpfte die britische Ärztevereinigung (British Medical Association) gewisse Bestimmungen des Gesundheitsgesetzes aufs schärfste. In langwierigen Verhandlungen … wurde schließlich ein Ausgleich erzielt, bei dem viele Forderungen der Ärzte angenommen wurden, und die British Medical Association unterstützt jetzt den Plan. Die wichtigste der zahnärztlichen Berufsvereinigungen empfiehlt ihren Mitgliedern – wenigstens vorläufig – nicht beizutreten.“

Alt, aber rüstig

Heute, ein Dreivierteljahrhundert später, gibt es den National Health Service immer noch. Finanziert aus Steuermitteln – allerdings mit Selbstbehalten wie bei uns. Die konservativen Regierungen der vergangenen zwölf Jahre haben es nicht geschafft, den NHS auf der Höhe der Zeit zu halten. Wartezeiten nehmen zu, es fehlen zehntausende Ärzte und Pfleger. Dennoch: Die Briten schätzen den NHS und wollen ihn weiterhin.

Der britische Historiker Ian Kershaw zieht in seinem Buch über die Geschichte Europas seit 1945 Bilanz über die Schaffung des NHS. Die größte bleibende Leistung der Labour-Regierung der Nachkriegszeit sei die Schaffung des Nationalen Gesundheitsdiensts gewesen: „Das Ergebnis war eine erhebliche Verbesserung der Gesundheitsversorgung für die ärmeren Bevölkerungsschichten und ein Rückgang der Todesfälle durch Lungenentzündung, Diphtherie und Tuberkulose. Dies waren bedeutende und dauerhafte Fortschritte, die eine Behandlung ermöglichten, ohne dass der Patient direkt dafür bezahlen musste – abgesehen natürlich von den Steuerbeiträgen.“

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Metadaten
Titel
Erste Allgemeine Versicherung
Publikationsdatum
30.01.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 06/2023

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