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Erschienen in: hautnah 4/2023

Open Access 11.10.2023 | Fallbericht

Erythromelalgie: Calor – Rubor – Dolor – einmal ganz anders

verfasst von: C. Decker, I. Baldauf, H. Maier

Erschienen in: hautnah | Ausgabe 4/2023

Zusammenfassung

Erythromelalgie ist eine Erkrankung, bei der es anfallsartig zu brennenden Schmerzen, Rötung, Überwärmung und auch Schwellung insbesondere an den Extremitäten kommt. Unterschieden wird zwischen einer primären und einer sekundären Form der Krankheit. Die Diagnose wird klinisch gestellt. Da es sich bei der Erythromelalgie um eine sehr seltene Erkrankung handelt, gibt es derzeit keine etablierte Therapie. Wie auch bei unserer Patientin zu sehen ist, wurden zahlreiche Therapieansätze versucht, jedoch leider ohne dauerhaften Erfolg.
Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Calor, Rubor und Dolor repräsentieren als sogenannte Virchow-Trias die Kardinalsymptome des Entzündungsprozesses, gehören in unserem Fall jedoch zu einem ganz anderen Krankheitsbild, nämlich der Erythromelalgie (EM).
Bei der 37-jährigen Patientin, die wir in unserem Beitrag vorstellen dürfen, tritt seit ihrem 27. Lebensjahr – besonders bei der allabendlichen Wärmeexposition im Bett – das folgende Beschwerdebild plötzlich, aber mit großer Regelmäßigkeit auf: Hände und Füße verfärben sich düsterrot, schwellen an, und die brennenden Schmerzen beschreibt unsere Patientin als kaum zu ertragen.
Das Krankheitsbild begann bei ihr sockenförmig an den unteren Extremitäten und dehnte sich dann nach proximal bis über beide Knie aus. In weiterer Folge wurden die Hände und beide Ohren mitbetroffen. Während sich distal an den Beinen ein düsterrotes Erythem und eine Schwellung fanden, war das Erscheinungsbild nach proximal hin ähnlich einer Livedo reticularis (Abb. 1, 2 und 3). Die Symptomatik an den Händen war hingegen weniger deutlich ausgeprägt (Abb. 4).

Theoretischer Hintergrund

Bereits der Name Erythromelalgie leitet sich von der Symptomatologie der Erkrankung ab, erythros griechisch für rot, melos für Extremität und algos für Schmerz [1]. Die Inzidenz der Erkrankung ist sehr niedrig. Laut einer Studie aus Minnesota aus dem Jahr 2008 liegt sie bei 1,3 pro 100.000 Menschen pro Jahr. Die Erythromelalgie tritt häufiger bei Frauen als bei Männern auf [1].
Bei der Erythromelalgie kann zwischen einer primären und einer sekundären Form unterschieden werden [2]. Typischerweise tritt die primäre Form in den ersten zwei Lebensjahrzenten auf, während das Prädilektionsalter der sekundären Form 49,1 Jahre beträgt [3]. Die primäre Erythromelalgie ist nicht mit anderen Erkrankungen assoziiert, wird autosomal dominant vererbt und kommt daher oft familiär gehäuft vor [1, 2]. Die betreffende Mutation liegt im SCN9A-Gen, das für spannungsgesteuerte Natriumkanäle, genannt NaV 1.7, relevant ist [1]. Diese Kanäle sind in nozizeptiven Nervenfasern vorhanden und spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der typischen neuropathischen Schmerzen [1].
Der sekundären Erythromelalgie liegen oft Begleiterkrankungen wie hämatologische Erkrankungen (myelodysplastisches Syndrom, Polycythaemia rubra vera, Leukämien), Autoimmunerkrankungen (systemischer Lupus erythematodes, rheumatoide Arthritis, Diabetes, Sjögren-Syndrom; [3]), Gefäßerkrankungen (leukozytoklastische Vaskulitis, Thromboembolien, venöse Insuffizienz) oder neurologische Erkrankungen (multiple Sklerose, Neurofibromatose, sympathische Reflexdystrophie, familiäre Dysautonomie, Small-Fiber-Neuropathien) zugrunde [2, 4, 5].
Es werden auch Fälle von medikamentös induzierter EM beschrieben (z. B. Bromocriptin, Nifedipin, Verapamil, topisches Isopropanol, Pergolid, Simvastatin, Cyclosporin; [5]). Auch Impfungen und Toxine (Arsen, Quecksilber, Pilzgifte) können Ursache einer sekundären EM sein [3, 5].
Verursacht eine hämatologische Erkrankung eine sekundäre Erythromelalgie, wird als Grund für die Symptome eine Aktivierung der Thrombozyten mit darauffolgenden Gefäßverschlüssen vermutet [1, 3]. Eine Rolle spielen wohl auch die Hautgefäße: Es kommt zum einen zu einer reduzierten kapillären Perfusion (mit Hypoxie als Folge), zum anderen bestehen vermehrt arteriovenöse Verbindungen in der Haut. Dadurch wirkt die Haut stark gerötet und schwillt an [1].
Welche Bedeutung Vaskulopathie, Neuropathie und die Triggerfaktoren für die Pathogenese der EM haben, ist derzeit noch in Diskussion [5].

Therapieoptionen

Sowohl für die primäre als auch für die sekundäre Erythromelalgie ist es hilfreich, Auslösefaktoren wie Hitze und/oder beengende Kleidung zu vermeiden. Tritt ein Schub ein, hilft besonders Kühlung, die Symptome zu lindern [1, 6]. So berichtete eine andere EM-Patientin, dass ausschließlich stundenlange Fußbäder in Eiswasser die Beschwerden lindern würden (H. Maier, pers. Kommunikation, 2023).
Als pharmakologische Therapie wird eine Vielzahl von Wirkstoffen, allein oder in variablen Kombinationen, eingesetzt. Dabei zeigen sich sehr heterogene Behandlungsergebnisse. Topische Capsaicin-Creme kann helfen, kann aber auch Schmerzen und Rötungen verstärken. Zu den oralen Behandlungen gehören selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, Antikonvulsiva, Kalziumkanalblocker und trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin. Infusionen von Nitroprussid, Lidocain und Prostaglandinen wurden ebenfalls eingesetzt [1, 3, 6].
Seit der Entdeckung der Genmutation bei primärer Erythromelalgie haben Behandlungen den mutierten Natriumkanal zum Ziel. Mexiletin, ein nichtselektiver Natriumkanalinhibitor (Klasse-1B-Antiarrhythmikum), hat sich bei einigen Fällen von primärer Erythromelalgie als sehr wirksam erwiesen, da es eine normalisierende Wirkung auf die biophysikalischen Eigenschaften der mutierten Nav1.7-Natriumkanäle hat. Orale und topische neuartige selektive Nav1.7-Kanalmodulatoren werden derzeit getestet [1].
Es gibt auch invasive, therapeutische Ansätze wie Sympathikusblockaden und Sympathektomien, welche ebenfalls ganz unterschiedliche Erfolge erzielen [1].
Bei der Behandlung der sekundären Erythromelalgie wird in erster Linie die zugrunde liegende Erkrankung behandelt, wodurch eine Symptomkontrolle zu erwarten ist. Aspirin kann bei Fällen, die mit Thrombozythämie, Polyzythämie und anderen hämatologischen Erkrankungen assoziiert sind, sehr wirksam sein, zeigt aber enttäuschende Ergebnisse, wenn der EM andere Ursachen zugrunde liegen [1, 3].
Es gibt zwar viele verschiedene Therapieansätze, aufgrund der Seltenheit der Erkrankung fehlen bisher jedoch therapeutische Guidelines [3]. Primäres Ziel der Behandlung ist es, das Beschwerdebild zu lindern. Nur bei der sekundären EM kann es durch die Therapie der assoziierten Krankheit zu einer signifikanten Verbesserung oder sogar zu einer Heilung kommen.

Diagnosestellung bei der Patientin

Die Diagnose EM stellten wir in erster Linie aufgrund der klassischen klinischen Symptomatik.
Bei einer primären Erythromelalgie müsste eine SCN9A-Mutation in der genetischen Analyse nachweisbar sein. Bei unserer Patientin war die Genanalyse jedoch negativ, sodass wir von einer sekundären EM ausgehen.
Wir führten eine ausgedehnte Ursachenforschung durch.
Im Blutbild zeigte sich einmalig eine minimale Polyzythämie, mit 5,4 T Erythrozyten pro Liter Blut und einem Hämoglobinwert von 17,6 mg/dl Blut. Im weiteren Verlauf waren die Erythrozyten und der Hämoglobinwert jedoch stets im Normbereich. Hämatokrit, Thrombozyten und Leukozyten waren jederzeit im physiologischen Bereich, das Differenzialblutbild war komplett unauffällig, sodass kein Verdacht auf eine hämatologische Grunderkrankung geäußert wurde.
Zum Ausschluss einer sekundären Erythromelalgie durch eine autoimmune bzw. rheumatische Genese wurden mehrmals Autoantikörper und der Rheumafaktor bestimmt. Dabei waren ANAs, ENA Subsets mit SSA(Ro), SSB(La), Scl70, SM, u1RNP, RNP70, Jo‑1, und Centromer-B-Antikörper durchwegs negativ. Auch die ANCA waren negativ, ebenso die Komplementfaktoren und der Rheumafaktor.
Bei der Patientin ist eine Hyperthyreose bekannt, allerdings gibt es laborchemisch keine Hinweise auf eine autoimmun mediierte Schilddrüsenerkrankung.
Der HbA1c-Wert lag immer im Normalbereich; somit konnte auch ein Diabetes als Ursache der Beschwerden verneint werden.
Wir veranlassten auch eine Dopplersonographie der Gefäße sowie eine Oszillographie der Extremitäten inklusive Finger und Zehen, die jedoch keine Hinweise auf eine entzündliche oder degenerative Gefäß- oder Nervenerkrankungen lieferten.
Erst relativ spät im Krankheitsverlauf wurde im Rahmen der Ursachenforschung eine Nervenbiopsie durchgeführt, bei der sich eine Small-Fiber-Neuropathie zeigte.
Da die geringgradige Polyzythämie nur einmalig auftrat, bleiben die anamnestisch beschriebene leukozytoklastische Vaskulitis und die bioptisch nachgewiesene Small-Fiber-Neuropathie als mögliche assoziierte Erkrankungen übrig. Aufgrund der Studiendaten, in denen beschrieben wurde, dass 85 % aller EM-Patienten an einer Small-Fiber-Neuropathie leiden, ziehen wir dies auch in unserem Fall als Ursache in Betracht [5, 7]. Die genaue Genese der Neuropathie ist unklar, aber häufig ist sie assoziiert mit systemischen Erkrankungen, die die kleinen epidermalen, unmyelisierten C‑Fasern schädigen (Diabetes mellitus, systemischer Lupus erythematodes etc.; [8]).

Durchgeführte therapeutische Maßnahmen bei der Patientin

Es wurden zahlreiche Schmerztherapien mit Hydromorphon, Tetrahydrocannabinol, Gabapentin, Cannabidiol, Tramadol, Lidocain, Ketamin und Azetylsalizylsäure durchgeführt, jedoch zeigte keine dieser Therapien eine ausreichende Schmerzkontrolle. Als Therapieversuch wurden auch mehrfache Lokaltherapien (Amitriptylin-Ketamin, Capsaicin, Lidocain) durchgeführt, die jedoch alle frustrane Ergebnisse lieferten. Auch Iloprost, das als Prostacyclin-Analogon (PGI2) fungiert [9], brachte keine Besserung.
Als weiteren Therapieoption gegen die Schmerzen bei einem NRS von 10 wurde eine lumbale Sympathikusblockade beidseits durchgeführt, und sorgte für eine kurzfristige Verbesserung der Symptome. Nach 2 Wochen jedoch verschlimmerten sich die Schmerzen wieder, und es trat keine Besserung mehr auf. Danach wurde von weiteren invasiven Therapien abgesehen. Zu guter Letzt kam IVIG (intravenöses Immunglobulin) zum Einsatz, da bei einigen Fallberichten zur Small-Fiber-Neuropathie und auch zu wenigen Fällen von Erythromelalgie positive Effekte beschrieben wurden [10]. Aber auch diese Therapie zeigte nach 3 Monaten keine Verbesserung.
Bedauerlicherweise führte keiner der vielen Therapieversuche zu einer signifikanten Verbesserung des Beschwerdebildes. Derzeit beschränkt sich die Behandlung auf palliative Maßnahmen (Schmerztherapie, psychologische Betreuung). Die Patientin ist bereits in ihrer Mobilität so weit eingeschränkt, dass sie rollstuhlpflichtig ist.
Take Home Message.
  • Die Erythromelalgie (EM) ist eine sehr seltene neurovaskuläre Erkrankung und zählt zu den „orphan diseases“.
  • Die Diagnose wird aufgrund der klinischen Symptomatik gestellt.
  • Die primäre Form ist mit einer Mutation im SCN9A-Gen assoziiert, welche in einer Genanalyse nachgewiesen werden muss.
  • Die sekundäre Form ist mit einer Vielzahl an Grunderkrankungen assoziiert, von denen die Small-Fiber-Neuropathie eine große Bedeutung haben dürfte.
  • Es gibt keine etablierte Therapie.
  • Die EM ist eine sehr stark lebensqualitätseinschränkende Erkrankung und erfordert ein interdisziplinäres Management.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Decker, I. Baldauf und H. Maier geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Literatur
1.
Zurück zum Zitat Mann N, King T, Murphy R (2019) Review of primary and secondary erythromelalgia. Clin Exp Dermatol 44(5):477–482CrossRefPubMed Mann N, King T, Murphy R (2019) Review of primary and secondary erythromelalgia. Clin Exp Dermatol 44(5):477–482CrossRefPubMed
2.
Zurück zum Zitat Fritsch P, Schwarz T (2018) Physikalische und chemische Schäden der Haut. In: Dermatologie Venerologie: Grundlagen Klinik Atlas. Springer, Berlin, Heidelberg, S 91–119CrossRef Fritsch P, Schwarz T (2018) Physikalische und chemische Schäden der Haut. In: Dermatologie Venerologie: Grundlagen Klinik Atlas. Springer, Berlin, Heidelberg, S 91–119CrossRef
7.
Zurück zum Zitat Reach P, Lazareth I, Coudore F, Stansal A, Attal R, Michon-Pasturel U, Ghaffari P, Yannoutsos A, Beaussier H, Sacco E, Wang M, Priollet P, Lefaucheur JP, Zuber M (2021) A reappraisal of the presence of small or large fiber neuropathy in patients with erythromelalgia. Neurophysiol Clin 51(4):349–355. https://doi.org/10.1016/j.neucli.2021.03.008CrossRefPubMed Reach P, Lazareth I, Coudore F, Stansal A, Attal R, Michon-Pasturel U, Ghaffari P, Yannoutsos A, Beaussier H, Sacco E, Wang M, Priollet P, Lefaucheur JP, Zuber M (2021) A reappraisal of the presence of small or large fiber neuropathy in patients with erythromelalgia. Neurophysiol Clin 51(4):349–355. https://​doi.​org/​10.​1016/​j.​neucli.​2021.​03.​008CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Erythromelalgie: Calor – Rubor – Dolor – einmal ganz anders
verfasst von
C. Decker
I. Baldauf
H. Maier
Publikationsdatum
11.10.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
hautnah / Ausgabe 4/2023
Print ISSN: 1866-2250
Elektronische ISSN: 2192-6484
DOI
https://doi.org/10.1007/s12326-023-00580-3

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