18.11.2021 | kultur im context
„Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli“
Ein Rückblick auf die Ausstellung in der Villa Stuck, München, zu sehen von 29.4. bis 15.08.2021
Erschienen in: neuropsychiatrie | Ausgabe 4/2021
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Die „Skt. Adolf-Riesen-Schöpfung“ des Schweizer Künstlers Adolf Wölfli muss heute zu den beeindruckendsten Kunstwerken gezählt werden, die im 20. Jahrhundert geschaffen wurden. Das 22.000 Seiten umfassende künstlerische Konglomerat besteht aus Zeichnungen, Collagen und Schriftstücken. Wölfli bearbeitete in dieser gigantischen Zahl an Zeichenblättern den Verlauf seiner fiktiven Autobiografie, die eine bessere Kindheit und Jugend und eine strahlende Zukunft für ihn beinhaltet. Der Künstler erzählte, dichtete und zeichnete. Er rhythmisierte seine Sprache, er sammelte und collagierte. Seine Zeichnungen schuf er mit Bleistift und Farbstiften. Sie zeigen Ornamente und abstrahierte Figuren, die er in unermüdlicher Wiederholung zu mandala-artigen Bildteppichen verwob (Abb. 1, 2 und 3). Mitunter collagierte Wölfli Ausschnitte aus Zeitungen und Zeitschriften in seine Schriftbilder. Damit machte sich Wölfli nicht nur zu einem Vorreiter in der künstlerischen Technik der Collage, sondern auch seine Werke zu unwiderruflichen Zeitdokumenten seiner Lebenszeit. Er schrieb sich durch sein Tun unweigerlich als Zeitgenosse in den historischen Kanon ein. Wölfli lebte von 1864 bis 1930 (Abb. 4). Er wurde als jüngstes von sieben Kindern im Schweizer Emmental geboren und wuchs nach dem Weggang bzw. Versterben seiner Eltern unter entwürdigenden Arbeits- und Lebensbedingungen als „Verdingbub“ bei fremden Familien auf. Später verdiente Wölfli seinen Lebensunterhalt als Knecht, Handlanger, Lohn- und Wanderarbeiter an verschiedenen Orten in der Schweiz. 1890 wurde er zum ersten Mal wegen Verdachts auf Kindesmissbrauch verhaftet und verurteilt. 1895 führte eine weitere Verhaftung zu einer Untersuchung seiner Zurechnungsfähigkeit in der psychiatrischen Heilanstalt Waldau. Dort wurde eine Schizophrenie diagnostiziert und Wölfli bis zu seinem Tod 1930 interniert. 1899 begann er zu zeichnen. 1908 fing er an, seine fiktive Autobiografie zu verfassen. 1921 widmete ihm, der in der Waldau als Psychiater tätige, Walter Morgenthaler die Monografie „Ein Geisteskranker als Künstler“. Unter anderem wird dieses Schriftstück von Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé mit Begeisterung gelesen. In den beiden Jahren vor seinem Tod verfasste Wölfli seinen „Trauer-Marsch“, ein abstraktes Requiem auf 8000 Seiten, dicht beschrieben, bezeichnet und collagiert. Wölfli starb 1930 an Magenkrebs in der Waldau. Der „Trauer-Marsch“ verbleibt der Nachwelt unvollendet. Der Entstehungskontext der Werke von Adolf Wölfli in einer psychiatrischen Einrichtung prägt deren Rezeption bis heute maßgeblich oder viel mehr über die Maßen. So erscheint die von Roland Wenninger kuratierte Ausstellung „Bis ans Ende der Welt und über den Rand – mit Adolf Wölfli“ als notwendiger kunst- und gesellschaftshistorischer Zwischenschritt. Ein solcher Zwischenschritt war die Ausstellung, weil Wenninger wagte kunst-kategorische Schubladen wie „Outsider Art“ oder „Art brut“ zu öffnen und in ihrer vereinfachenden Problematik zu thematisieren. Im Zentrum der Schau präsentierte der Kurator den Künstler Adolf Wölfli. Die Ausstellung behandelte Biographie und Werk des Künstlers. Sie stellte anhand von sechs Themenkreisen Wölflis Schaffen in einen freien „assoziativen Dialog“ mit Werken anderer Kunstschaffender. Dieser assoziative Dialog war vielfältig: Er umfasste Werke wie den aberwitzigen Film „Mysterien eines Frisiersalons“ mit Karl Valentin oder die „Einkreisung“ von Valie Export, ein Werk der Künstlerin aus der Serie „Körperkonfigurationen“ (Abb. 5). Die Präsentation von Wölflis Werken neben denen von Anselm Kiefer (Abb. 6) erschien als Verweis auf die von Harald Szeemann kuratierte Schau „Der Hang zum Gesamtkunstwerk: Europäische Utopien seit 1800“ aus dem Jahr 1983. Die „Dream Machine“ der beiden Beatnik-Künstler Brion Gysin und Ian Sommerville forderte die Besucherinnen und Besucher auf unmittelbar vor Ort bewusstseinserweiternde Erfahrungen zu machen. Mittels Stroboskopeffekt kann diese Maschine das Gehirn optisch stimulieren und halb-hypnotische Zustände erzeugen. Die Ausstellung verlangte ihren Besucherinnen und Besuchern durchaus einiges ab. Vor allem etwas Mut, sich fernab ausgetretener Pfade und vertrauter Territorien, bereichern und inspirieren zu lassen.
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