Einleitung
COPD (chronic obstructive pulmonary disease) ist eine nicht vollständig reversible, chronische Atemwegserkrankung, welche durch eine dauerhafte Entzündung der Bronchialschleimhaut charakterisiert ist. Die Erkrankung äußert sich durch chronischen Husten, Auswurf sowie Dyspnoe bei körperlicher Belastung. Die Atemnotzustände belasten die Psyche der Betroffenen enorm und vermindern ihre körperliche Leistungsfähigkeit (Jarab et al., 2018). Bei Atemnot können Menschen mit COPD neben medikamentösen Maßnahmen auch atemerleichternde Techniken wie z.B. die Lippenbremse anwenden, um dessen Intensität zu lindern. Die vorteilhaften Effekte der Lippenbremse in Bezug auf die Reduktion der Atemfrequenz und des Atemminutenvolumens sind bereits wissenschaftlich belegt. Der Nutzen dieser Atemtechnik hinsichtlich anderer relevanter Parameter ist unklar.
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Fragestellung & Methode
Eine beschleunigt erstellte Evidenzsynthese (Rapid Review) beschäftigte sich deshalb mit folgender Fragestellung: Können durch die Anwendung der Lippenatmung/Lippenbremse eine Dyspnoe, die Gehstrecke und die Lebensqualität von Personen mit COPD im Vergleich zu keiner Anwendung verändert werden? (Fangmeyer et al., 2022)
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Auswahl der Studien
Die systematische Literaturrecherche erfolgte am 1. Dezember 2021 in den Datenbanken CINAHL EBSCO, JBI EBP Database, Ovid MEDLINE® und Cochrane Library. Im Rapid Review berücksichtigt wurden systematische Übersichtsarbeiten und randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) in Englisch und Deutsch, die erwachsene Personen mit COPD einschlossen und die Lippenbremse mit keiner Maßnahme verglichen.
Überblick über die Studien
Elf Studien konnten für die Beantwortung der Fragestellung herangezogen werden. Sie schlossen insgesamt 740 erwachsene Personen mit COPD und einem Durchschnittsalter von 53 bis 68 Jahren ein. Die Schwere der Erkrankung wurde im Großteil der Publikationen nicht berichtet. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden zufällig zwei Gruppen zugeteilt. Personen in der Behandlungsgruppe wendeten die Lippenbremse bei körperlicher Belastung oder im Alltag an, in der Kontrollgruppe wurde keine atemerleichternde Technik durchgeführt.
Ergebnisse
Dyspnoe. Acht RCTs überprüften, ob die Anwendung der Lippenbremse die Schwere der Dyspnoe verringern kann. Sie schlossen insgesamt 465 Personen mit unklarem oder schwerem COPD-Schweregrad ein. Die zusammengefassten Ergebnisse von fünf RCTs mit 372 Patientinnen und Patienten zeigten keine Verringerung der Dyspnoe durch die Anwendung der Atemtechnik unter Belastung. Drei weitere Untersuchungen ergaben ebenfalls, dass die Lippenbremse die Dyspnoe bei Menschen mit COPD nicht lindert. Lediglich in einer Studie mit 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern konnte festgestellt werden, dass Personen mit schwerer COPD, die die Lippenbremse acht Wochen lang regelmäßig praktizierten, von der Maßnahme profitierten.
Alltagsdyspnoe: Ein RCT mit 19 schwer an COPD erkrankten Personen untersuchte den Einfluss der Lippenbremse auf eine Alltagsdyspnoe. Zwar konnte eine Reduktion der Dyspnoe-Intensität im Alltag unter Anwendung der Lippenbremse festgestellt werden, der Effekt war aber gering und statistisch nicht signifikant.
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Gehstrecke: Vier RCTs mit 186 Personen lieferten unterschiedliche Ergebnisse hinsichtlich der Auswirkung der Lippenbremse auf die körperliche Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Die Ergebnisse dreier Studien ergaben keinen Nutzen bei Patienten und Patientinnen mit moderater und schwerer COPD. In einer Studie hingegen verbesserte sich die körperliche Leistungsfähigkeit unter Anwendung der Lippenbremse. Personen mit schwerer COPD, welche die Atemübung regelmäßig durchführten, legten beim Gehtest nach acht Wochen im Schnitt 50 Meter mehr zurück, als jene, die das nicht taten.
Lebensqualität: Zwei RCTs evaluierten den Einfluss der Lippenbremse auf die Lebensqualität und kamen zu dem Ergebnis, dass diese Atemübung die Lebensqualität der Betroffenen nicht verbesserte. Ein positiver Effekt der Atemübung konnte lediglich bei der Domäne „Lebensqualität und Dyspnoe“ festgestellt werden.
Fazit
Die Studienergebnisse zeigen überwiegend keinen Vorteil der Anwendung der Lippenbremse. Lediglich die Resultate einer Studie deuteten drauf hin, dass die Atemübung Patientinnen und Patienten mit schwerer COPD helfen kann, Dyspnoe zu lindern und die körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern. Allerdings war diese aufgrund der kleinen Studien-population nicht in der Lage, die Wirksamkeit der Lippenbremse zuverlässig zu untersuchen. Methodische Mängel, Inkonsistenz und unzureichende Präzision schränken die Aussagekraft der Studienergebnisse ein, weshalb davon auszugehen ist, dass zukünftige gut durchgeführte Untersuchungen die vorliegende Einschätzung beeinflussen werden.
COCHRANE PFLEGE FORUM: WISSEN WAS WIRKT
Das „Cochrane Pflege Forum“ ist eine Serie in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Cochrane Zentrum und dem Cochrane Zentrum Österreich. Es zeigt in regelmäßigen Abständen den aktuellen Stand der Forschung in Form von Zusammenfassungen von Cochrane Reviews auf. Dabei werden unterschiedliche pflegerische Themen aufgegriffen. Ziel der Serie ist es, den Pflegekräften Forschungsergebnisse schneller und direkter zur Verfügung zu stellen.
EXPERTINNENKOMMENTAR
Christina Holzer, BSc, DGKP im Primärversorgungszentrum Allgemeinmedizin Graz Gries; Masterstudentin Advanced Nursing Practice, IMC Fachhochschule Krems
Wie das Rapid Review gezeigt hat, kann ein positiver Einfluss der Lippenbremse auf Atemnot, Gehstrecke und Lebensqualität derzeit nicht wissenschaftlich begründet werden. Dennoch ist die Lippenbremse ein fixer Bestandteil des Disease Management Programms für Menschen mit COPD, das in Anlehnung an internationale Leitlinien und Vorbilder entwickelt wurde und bereits in mehreren österreichischen Primärversorgungszentren umgesetzt wird. Das Erlernen der Lippenbremse, meist in Kombination mit dem Kutschersitz ist dabei ein fixer Bestandteil der Edukation der Betroffenen. Besprochen wird, wie und in welchen Situationen diese Atemtechnik zur Anwendung kommen kann. Die Rückmeldungen über die Anwendung im Alltag bieten Kontraste. Es gibt Patientinnen und Patienten, die begeistert von einer Besserung der Symptomatik berichten, für einige war die Lippenbremse nicht hilfreich. Oft wird die Lippenbremse schon vor der Edukation intuitiv eingesetzt.
Zudem darf die psychosomatische Komponente der COPD nicht vergessen werden. Diese Erkrankung ist oft mit Angst verbunden, vor allem wenn es zu Atemnot kommt. Zu wissen, was in einer beängstigenden Situation zu tun ist, gibt den Betroffenen erfahrungsgemäß Sicherheit und bewahrt sie vor Gefühlen wie Hilfslosigkeit, Kontrollverlust oder Panik, welche die Symptome weiter verschlechtern könnten.
Es ist eine pflegerische Aufgabe, Menschen mit COPD zu empowern, mit ihrer Erkrankung und ihrem Körper selbstbestimmt umgehen zu lernen. Dabei sind oft schon einfache Wissensvermittlung und Interventionen, wie das gemeinsame Erarbeiten einer Strategie für kritische Situationen, die Selbsteinschätzung von Symptomen und die richtige Anwendung von inhalativen Medikamenten sehr hilfreich. Somit wird die Möglichkeit geboten, Selbstwirksamkeit zu erfahren, sowie Kompetenz und Selbstvertrauen zu stärken. Wenn die Lippenbremse für eine Person nicht wirksam ist, so sollten alternative Strategien angeboten werden.
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