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Ärzte Woche

02.05.2022

Weiche Fakten

verfasst von: Susanne Krejsa MacManus

Die Ärztin Katharina Sabernig hält den allzu glatten Modellen des menschlichen Körpers, wie man sie etwa in Arztpraxen findet, Nadel und Wolle entgegen. Sie strickt die Organe, um einen Eindruck von ihrer Weichheit und Wärme zu geben.

„Das Körperinnere ist eine Sphäre, zu der man normalerweise keinen direkten sensorischen Zugang hat, trotz des unmittelbaren subjektiven Empfindens“, sagt die Ärztin und Anthropologin DDr. Katharina Sabernig. Zur Veranschaulichung dieser These gibt’s in jeder Ordination Fakten: Papier und Zeichenstift, Modelle aus Plastik, Anatomiedarstellungen aus Broschüren, auch mal ein Erklär-Video. „Im Verlauf einer medizinischen Behandlung ist es oft notwendig, Patienten zu erklären, was die Diagnose konkret bedeutet oder welche Art von Eingriff durchgeführt werden soll“, sagt Sabernig. „Konventionelle grafische Darstellungen des Körperinneren werden jedoch oft als unangenehm und störend, wenn nicht gar als ekelerregend empfunden – vor allem, wenn die Abbildungen realistisch sind oder eine Krankheit darstellen, die einen selbst betrifft.“

Nicht nur Ekel ist der Vorstellungskraft im Weg, auch die perfektionistische Dauerhaftigkeit der Modelle: Feste, glatte Oberflächen geben keinen Eindruck von der Weichheit und Wärme unserer Organe, von der Wachstumsfähigkeit erwünschter oder unerwünschter Prozesse, von der Verletzlichkeit der Gewebe. Wie soll man beispielsweise das Platzen oder Reißen von Blutgefäßen verstehen können, wenn man auf noch so gelungene Nachbildungen aus Glas oder PVC schaut? Katharina Sabernig wählt einen anderen Weg der Darstellung: Sie strickt.

Wolle ist feiner denn Glas oder PVC

Mit Strick- und Häkeltechniken stellt Sabernig etwa die Topografie der inneren Organe und deren Gefäßversorgung für viele Betrachter echter, verständlicher und nachvollziehbarer nach, als die allgemein gebräuchlichen Hilfsmittel es können. Ihre Ausstellung „Gestrickte Anatomie“ ist noch bis 3. Juli 2022 in der Neuen Galerie am Joanneum in Graz zu sehen.

Warum stricken? Dazu sagt Sabernig Folgendes: „Es scheint eine inhärente Eigenschaft des Mediums Stricken zu sein, mit Wärme, Geborgenheit und Fürsorge assoziiert zu werden, und dies ist ein deutlicher Unterschied zu den grafischen oder gar fotografischen Darstellungen eines sezierten Körperinneren.“ Um das Gesehene verstehen zu können, scheint aber auch die Oberflächenstruktur von Wolle besonders hilfreich zu sein: zerreißbar, biologisch „kaputtbar“. Man kann es näher an sich heranlassen.

Nähe, jedoch ohne Verharmlosung – das sind auch die Eigenschaften von Sabernigs gestrickten Corona-Modellen, die in der Ausstellung zu sehen sind. Dort stellt sie an anatomischen Organstrukturen die pathologischen Auswirkungen der Infektion dar. Die Abwehrmaßnahmen des Körpers gegen das Virus werden in einem Film visualisiert, dessen „Akteure“ ebenfalls von Sabernig gestrickt sind.

Wie gut ihr Konzept funktioniert, zeigt sich am großen medialen Interesse – ihre Objekte wurden von Zeitschriften und Zeitungen in Österreich und anderen Ländern verwendet, um begreifbar zu machen: Wie sieht das Virus aus, wie bewegt es sich, was verändert sich bei einer Ansteckung im Körper und welche Details sind dafür verantwortlich? Sabernig zeigt aber auch andere Themen, beispielsweise die Veränderungen und Entwicklungen, die bei Prostata- oder Gebärmutterhalskrebs entstehen. Zur Ausstellung erscheint Anfang Mai ein Katalog ( siehe Infokasten rechts ).

Katharina Sabernig, geboren 1971 in Linz, studierte Ethnomedizin und Medizin in Wien und promovierte über „Visualisierte Heilkunde“, wofür sie die Inhalte von Wandbildern in der medizinischen Fakultät des tibetischen Klosters Labrang entschlüsselte. Die dabei identifizierten anatomischen Termini führten zu ihrem zweiten großen Projekt, das sich der tibetischen bzw. asiatischen Anatomiegeschichte widmete. Sie erforschte, interpretierte und übersetzte die tibetischen Ideen zur Menschen- bzw. zur Anatomiedarstellung, die auch Bereiche des Mythischen und Kultischen enthält.

Inspirierendes Tibet

So konnte sie sich mit der Vielfalt von Darstellungsweisen beschäftigen, die heute ausschließlich im rationalen Bereich zu liegen und der medizinischen Funktionslogik zu folgen scheinen. Inspiriert von der Vielfalt der anatomischen Darstellungen, den kulturellen Hintergründen der Anatomie und der zunehmenden Ethik-Diskussion betreffend Ausstellung und Verwendung echter Organe, begann sie 2015 mit dem Stricken anatomischer Objekte. „Ich bin draufgekommen, dass sich vor allem Blutgefäße und tubuläre Strukturen gestrickt sehr gut darstellen lassen.“

Sabernig ist als unabhängige Forscherin mit der Medizinischen Universität in Wien sowie dem Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften assoziiert. Sie unterrichtet tibetische Medizin, medizinische Terminologie und Aspekte interkultureller Gesundheitsfragen an mehreren akademischen Institutionen in Wien und ist u. a. Präsidentin der Österreichischen Ethnomedizinischen Gesellschaft (ÖEG).

FWF-Förderung erstrickt

Mit ihrem künstlerisch-wissenschaftlichen Zugang erfüllt Sabernig die Kriterien des aktuellen, auf vier Jahre anberaumten Förderprogrammes zur Entwicklung und Erschließung der Künste des Wissenschaftsfonds FWF ( tinyurl.com/2p8aczda ). Ihr soeben genehmigtes Projekt: „Knitted Body Materiality“ (Nummer AR 705-G).

Weitere Informationen:

tinyurl.com/2p8aczda



Metadaten
Titel
Weiche Fakten
Publikationsdatum
02.05.2022
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 18/2022

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