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Erschienen in:

Open Access 05.08.2024 | Kolumne

Über Core-Aktivierung und die Bedeutung des Fasziengewebes

Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil IX

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner

Erschienen in: Schmerz Nachrichten | Ausgabe 3/2024

Hinweise
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Wichtig ist das Bewusstmachen – und damit das Bewusstwerden unserer Patient:innen –, dass die Beckenaufrichtung, die Steuerung unserer Haltung über das Kreuzbein erfolgt. Das Ausgleichen der durch die Verkürzung der Adduktoren bedingten Beckenverkippung nach hinten ist ein wichtiger Schritt, um die Wirbelsäule um fünf bis zehn Jahre zurückzuentwickeln.
Dies ist die einzige Therapieform, die der biologischen Entwicklung der Haltung und den stetigen Veränderungen in der Wirbelsäule Rechnung trägt. Die Entwicklung von der geraden Wirbelsäule eines Babys zur ultraverbogenen Wirbelsäule seiner Ur-Urgroßeltern berücksichtigend, hole ich Patient:innen in der aktuellen Situation ihrer Haltungsentwicklung – oder besser ihrer Haltungsfehlentwicklung – mit ihren Schmerzen ab und versuche, die Wirbelsäulenhaltung um 10 Jahre zurückzuentwickeln und sie so wieder in den schmerzfreien Bereich zu bringen.

Dysbalance zwischen Halte- und Bewegungsmuskulatur

Sollten Sie meiner Kolumne regelmäßig gefolgt sein, wird Ihnen klar geworden sein, dass es gut für uns ist, uns zu bewegen und körperlich aktiv zu bleiben. Die Dysbalance zwischen Haltemuskulatur und Bewegungsmuskulatur wird dadurch aber noch weiter verstärkt und der „Alterungsprozess“ der Haltung wird beschleunigt. Ein Training der tonischen Muskulatur, der Haltemuskulatur, würde dem entgegenwirken und zur Verjüngung der Haltung führen. Voraussetzung ist, die Haltung nicht als gottgegeben oder schicksalshaft anzunehmen. Denken Sie an die sogenannten Poserinnen bzw. Poser: Diese Menschen aktivieren ihre Haltung, richten sich bewusst auf, um jünger und schöner zu wirken. Somit ist das australische Axiom, wonach die Haltung eine unbeeinflussbare Größe wäre, widerlegt.

Von der Hülle ins Körperinnere

Nach all meinen Ausführungen in den letzten acht Kapiteln ist es an der Zeit, von der Körperhülle weiter in das Körperinnere vorzudringen.
Die Körpermitte wird international als Core bezeichnet. Die Körpermitte zu stärken ist Gegenstand des funktionellen Trainings, bei dem die Kernmuskulatur im Bauch, in der Beckengürtel-Hüft-Region sowie im unteren Rücken aktiviert wird. Die tonische Muskulatur – die Haltemuskulatur und die großen und kleinen Faszienzüge des Körpers – werden hier adressiert.
Eine gute Körperhaltung beim Sitzen, Gehen und beim Sport sollte über eine verbesserte Koordination und Gleichgewichtsreaktion, durch eine verbesserte Körperwahrnehmung entwickelt werden. Das Laufen, Springen, Treppensteigen, und die Statik sollen durch eine bewusste Aktivierung der segmentalen Muskulatur des Haltesystems verbessert werden. Zeigen Sie beim Tanzen eine gute Koordination, dann sind die flüssigen und ästhetischen Bewegungsabläufe der Core-Aktivierung dafür verantwortlich. Der Bereich vom Beckenboden bis zum Zwerchfell verleiht Ihnen physische Stabilität, die die aufrechte Haltung nahezu automatisch verbessert. Die Atmung wird freier und Rückenschmerzen werden verringert. Dazu erwähne ich die Wichtigkeit der Dehnung und Kräftigung der beiden Schlüsselmuskelgruppen: die Adduktoren und der M. pectoralis minor, wie schon in früheren Kapiteln ausgeführt.

Core-Training

Die Leistungssteigerung der Muskulatur führt zu einer verbesserten kortikalen Konnektivität. Jegliche Aktivität führt zu einer kortikalen Synapsenzunahme. Dies gilt nicht für passives Dehnen und Zerren an den Extremitäten. Für Profisportler:innen unter extremen Trainingseinheiten ist dies legitim, um den Bewegungsumfang stetig zu erweitern, für Amateur:innen aber birgt es die Gefahr, sich chronische Verletzungen zuzuziehen. Ich erlaube mir in diesem Zusammenhang an den großen österreichischen Konzertpianisten des 19. Jahrhunderts, Sigismund Thalberg (1812–1871), zu erinnern, der eine Fingerdehnungsmaschine entwickelt hatte und sich damit die Hände zerstörte.
Meine Vorstellung, mein Wunsch und mein Üben führt zu einer verbesserten kortikalen Inskription, nicht Zwang und Gewalt!
Core-Training ist anstrengend und sollte 3‑mal pro Woche für 20 min durchgeführt werden. Die Rumpfmuskulatur und die segmental stabilisierende Muskulatur werden damit gestärkt. Im Internet finden Sie dazu Übungen unter den Stichworten „Segmental Stabilisierende Therapie“ oder „Core-Training“.
Regelmäßiges Training der Rückenmuskulatur führt bereits nach vier Wochen zu einer Muskelkraftsteigerung und Schmerzreduktion, wie eine Studie aus Kiel durch Greinwalder et al. zeigen konnte. Regelmäßiges Yoga oder Tai Chi würde sich auch sehr positiv auswirken (Abb. 1). Ziel eines solchen Trainings ist es, die Bauchmuskulatur, den Rücken, die Brust, die Zwischenrippenmuskulatur, das Becken und die Hüfte zu stärken und diese Muskelgruppen mobil und beweglich zu machen, wobei es auch um das Lernen einer Koordination dieser Muskelgruppen und deren Bewegung geht.
Ob typisches Bauchmuskeltraining, wie das Beinheben, Scherenbewegungen oder auch seitliche Crunches, bekannte Rückenübungen, wie Überzüge oder auch Koordinations- und Gleichgewichtsübungen, das Core-Training bietet verschiedene Ansätze, sodass jede und jeder hier Möglichkeiten findet, um seinen Rumpf angemessen zu trainieren. Wichtig ist es, dass Sie sich im Klaren sein sollten, was Sie mit einem solchen Zusatztraining erreichen möchten. Das Core-Training und die Core-Aktivierung führen zu einer inneren Schienung des Abdomens, des Rumpfes inklusive Thorax über das Zwerchfell und die Lungen bis in die obere Brustwirbelsäule mit korrektem, aufgerichtetem Abgang der Halswirbelsäule aus der oberen Brustwirbelsäule mit harmonischer Aufrichtung der Halswirbelsäule inklusive optimaler Einstellung der Kopfgelenke und der Kopfhaltung.
Erst regelmäßige Bewegung, das heißt die Kombination aus Core-Stabilisierung, segmentaler Stabilisierung und Bewegung ergibt eine optimierte Haltung mit geringem Energieverbrauch durch optimierten Faszieneinsatz. Das üblicherweise eindimensionale Training soll durch eine zusätzliche Dehnung und Kräftigung der tonischen Muskulatur nebst einer Core-Aktivierung, eine Verbesserung der Koordination und der Beweglichkeit zur Folge haben. Dann wird meiner Forderung nach einer Verjüngung der Haltung zur nachhaltigen Therapie des unspezifischen – aber auch des spezifischen – Rückenschmerzes entsprochen. Denn häufig bestehen neben den spezifischen Elementen des Rückenschmerzes auch unspezifische Elemente.
Bremsen Sie das Wirbelsäulenaltern und korrigieren Sie die Haltung mittels Rückentwicklung
Weiters finde ich bei allen Wirbelsäulenpatient:innen eine deutliche Verkürzung im Bereich der Adduktoren und des M. pectoralis minor, welche die sagittale Aufrichtung in jedem Fall kompromittieren und deren Balance immer wieder in Richtung Dysbalance lenken werden.

Das Fasziengewebe

Unsere Faszien sind eine zusammenhängender Gewebsverband vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Das Fasziengewebe umhüllt feinmaschig alle Gewebe. Alle Organe, Blutgefäße, sogar das Gehirn werden von ihm eingebettet.
Das Fasziengewebe macht etwa 20 kg unseres Körpergewichtes aus. Im Studium wurde es eher als bedeutungslose Hülle wegpräpariert, was zu unserer Ignoranz gegenüber dem Bindegewebe geführt hat. Das Fasziengewebe hat keine Grenzen. Das Gewebe ist ein Kontinuum von Zellen in verschiedenen Ausrichtungen bzw. verschiedenen Belastungsrichtungen folgend. Mehrere Schichten können durch Gleitschichten gegeneinander verschoben werden und Schichten können sich gegeneinander verriegeln, was erst unsere energiearme, aufrechte Haltung ermöglicht.
Alles wird durch Faszien zusammengehalten und auf Zugspannung gebracht
Die faszialen Verbindungen können Schmerzen vom Entstehungsort an entfernte Schmerzorte leiten. Das muss in der Behandlung der Schmerzen berücksichtigt werden, denn Sie müssen wissen, ob der Schmerz am Ort des Schmerzes entsteht oder ob es sich um einen fortgeleiteten Schmerz handelt.
Freie Nervenendigungen befinden sich als Sensoren in den Faszienzellen. Daher dient das Fasziengewebe auch als Sinnesorgan für Schmerzwahrnehmung und als Kommunikationsnetzwerk. Immunprozesse, Reparatur- und Umbauvorgänge laufen hier ab. Das Gewebe ist ein Wasserspeicher. Die Elastizität, Bewegungs- und Gleitfähigkeit beeinflusst unsere Form inklusive einer Bedarfsanpassung. Die Zellen sind Fibroblasten, Myofibroblasten, extrazelluläre Matrix, Kollagen, Elastin, Fresszellen, Nervenzellen, Mechanosensoren, freie Nervenendigungen. Die Lebensdauer von Fibroblasten wurde in nuklearmedizinischen Techniken ermittelt: Sie wird mit zwei Jahren angegeben. Klaas Stechmann bezeichnet das Gewebe als Aschenputtel-Gewebe und führt aus, dass es ist am unspezifischen Kreuzschmerz beteiligt ist, wie auch der Ausdruck myofasziales Syndrom schon konkretisiert. Flexibilität, Elastizität, Zugfestigkeit, Widerstandsfähigkeit sind die Eigenschaften der Faszien. Dieses Gewebe ist an Körperprozessen weit über Bindegewebe- und Stützfunktion hinaus beteiligt.

Subkutanes Bindegewebe

Siegfried Mense ist einer der größten Faszienforscher. Er beschreibt eine oberflächliche Faszie, die als subkutanes Bindegewebe alles umhüllt. Die Muskelfaszie umspinnt jede einzelne Faser, die Bündel und den Gesamtmuskel. Die Hirnhäute umgeben das Gehirn und das Rückenmark sensibel, inklusive Kaudafasern mit Arachnoidea, Pia Mater und Dura Mater. Bänder und Gelenkkapseln stabilisieren und schützen Bewegungsorgane und liefern Informationen über Position, Koordination und Gleichgewicht.
Betrachten Sie unseren Energieverbrauch: Ein erwachsener 30-jähriger Mann mit 180 cm Körpergröße und 80 kg Körpergewicht hat einen Grundumsatz von ca. 1600 Kalorien. Der Leistungsumsatz an einem Tag macht ungefähr 2400 Kalorien aus. Die Differenz zwischen beiden beträgt 800 Kalorien. Würden wir durch Muskelkraft aufrechtgehalten werden, würden diese 800 Kalorien nie ausreichen. Deswegen bewegen uns die Muskeln mit ihren Faszien in die Position und dann halten uns die Faszien in der aufrechten Position.
Die großen Faszienzüge ziehen von den Zehenspitzen über den rückseitigen Körper bis über den Nacken bis in die Stirn. Gleiches zieht vorne bis zum Hinterkopf, seitlich am ganzen Körper, sowie überkreuzend über den Abdomen und im Thoraxbereich in den Nacken und in die Arme bis zu den Fingerspitzen.
Ich hoffe, bei Ihnen schließt sich nun der Kreis der heutigen Ausgabe mit innerer Schienung durch die Core-Aktivierung und äußerer Schienung durch die Faszienzüge. Zusammen halten sie uns aufrecht und in gesunder Position. Fehlhaltung durch muskuläre Dysbalance wird gelernt und beibehalten. Durch Bewusstwerdung dieser Umstände ist es möglich, uns haltungsmäßig wieder zu verjüngen und in einen schmerzfreieren Zustand zu entwickeln. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leser:innen, ein fleißiges Denken und Anspannen.
Infobox
In seiner Kolumne arbeitet Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie an der MedUni Innsbruck und Präsident der ÖSG, die unterschiedlichen Rückenschmerz-Entitäten für den klinischen Alltag auf und gibt praktische Tipps für Diagnose- und Therapieansätze. Reaktionen an: wilhelm.eisner@i-med.ac.at.
Die bereits erschienenen Beiträge zu dieser Serie finden Sie auf pains.at: www.​pains.​at/​schmerzmedizin/​serie-spezifischer-undunspezifische​r-rueckenschmerz.

Interessenkonflikt

W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Über Core-Aktivierung und die Bedeutung des Fasziengewebes
Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil IX
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner
Publikationsdatum
05.08.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schmerz Nachrichten / Ausgabe 3/2024
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-024-00196-w

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