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Ärzte Woche

20.04.2021 | Tekal

Sich gehen lassen

verfasst von: Medizin-Kabarettist Dr. Ronny Tekal

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Jeder Öffnungsschritt erfordert eine Jogginghose weniger.

Hand auf die Jogginghose: Wann haben Sie sich das letzte Mal so richtig schick gemacht und im Homeoffice die Untergatte gegen einen ansehnlichen Trainingsanzug getauscht? Es besteht zugegeben auch kaum Grund dazu. Denn zurzeit beschränkt sich das schicke abendliche Ausgehen noch darauf, die online bestellte Calzone von der Pizzeria Luigi abzuholen und sie am Heimweg hinunterzuwürgen, bevor sie so kühl ist, wie die derzeitige Stimmung von Luigi.

Alleinstehende wissen ohnehin, wie sie nackt aussehen und Menschen, die ihre Lebenspartner bereits gefunden haben, wissen auch, wie ihre bessere Hälfte nackt aussieht, so die Beziehung halbwegs intakt ist. So sehen viele im intrafamiliären Eremitendasein keinen Anlass, sich untertags anders zu kleiden als in der Nacht. Man kennt einander schließlich und so bedarf es weder eines attraktiven Gewandes noch höflicher Umgangsformen. Es ist kein „sich gehen lassen“, sondern partnerschaftlicher Pragmatismus.

Der Jogginghosen-Radius hat sich zudem in den vergangenen Monaten ständig erweitert und auch die Besuche von Supermarkt, Apotheke oder Ordination wurde in den modischen Beinkleidern absolviert. Die beruflichen Videokonferenzen, bei denen lediglich die obere Extremität im Bild ist, lassen sich ohnehin problemlos mit luftigem Untergestell absolvieren. Zwar gibt es Menschen, die die Fahnen auch in der Krise hochhalten und Knigge und modisches Erscheinungsbild auch zu Hause aufrechtzuerhalten. Doch selbst diese Personen legen mittlerweile die Krawatte beim Frühstück im Bett ab. Doch es scheint, als ob es bereits in wenigen Jahren so weit sein wird: Dann darf man wieder hinaus und die mit dichten Dornenhecken zugewachsenen Wirtsstuben und Theater besuchen. Zeit also, den angestaubten Garderobenschrank zu öffnen und sich bereits jetzt ein paar hübsche Dinge zurechtzulegen, um sich für die Gesellschaft tauglich zu machen.

Die Öffnungsschritte betreffen aber nicht nur die Gastronomiebetriebe, sondern auch die Gesichter. Bald schon wird man sich der Masken entledigen können und die neu gewonnene Mundfreiheit genießen. Doch dass der Mundschutz den Mund auch optisch schützt, wird bei aller Begeisterung vergessen. Denn nun sind Fieberblasen, der Pickel an der Oberlippe oder das Rucola-Salatblatt am Schneidezahn für alle sichtbar. Auch habe ich von einem Kollegen der plastischen Chirurgie erfahren, dass Unterspritzungen und Botox-Injektionen zurzeit sehr begehrt sind, da die anfänglichen Schwellungen unter der FFP2-Maske verschwinden. Und auch die Corona-Kilos lassen sich besser unter der Jogginghose als unter dem Slim-Fit-Anzug verbergen.

Dennoch muss der depressive Pandemie-Dress nun einem manischen „Es geht aufwärts“-Style weichen. Kleider machen schließlich nicht nur Leute, sondern manchmal auch Haltungen. Dennoch können manche auch in der Jogginghose erhobenen Hauptes aus der Krise schreiten.

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Metadaten
Titel
Sich gehen lassen
Schlagwort
Tekal
Publikationsdatum
20.04.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 17/2021

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