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Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis 5/2023

Open Access 04.09.2023 | Neurologie

Sinus- und Kortikalvenenthrombose: das Chamäleon des sekundären Kopfschmerzes

verfasst von: Dr. Lukas Kellermair, PhD

Erschienen in: psychopraxis. neuropraxis | Ausgabe 5/2023

Zusammenfassung

Die zerebrale Sinusvenen- und Kortikalvenenthrombose (CSVT) ist eine seltene, aber lebensbedrohliche Erkrankung, und ihre Diagnose bleibt eine Herausforderung. Sie manifestiert sich mit einem breiten Spektrum von Symptomen wie Kopfschmerzen, Sehstörungen, fokal neurologischen Ausfällen oder epileptischen Anfällen. Die Dynamik, Prognose und das Ausmaß der Erkrankung hängen maßgeblich von der Beteiligung kortikaler Venen sowie von der Effizienz venöser Kollateralkreisläufe ab. Ätiologisch stehen orale Kontrazeption, Schwangerschaft und insbesondere die Postpartumperiode, aber auch genetische Thrombophilien und Krebserkrankungen in Mitteleuropa am häufigsten mit einer CSVT in Zusammenhang. Intrazerebrale Blutungen bei CSVT stellen keine Kontraindikation für eine Vollheparinisierung dar. Im Verlauf erfolgt die Umstellung auf eine orale Antikoagulation, wobei sich die Therapiedauer an der zugrunde liegenden Ätiologie der CSVT orientiert.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Einleitung

Die zerebrale Sinus- und Kortikalvenenthrombose (CSVT) ist eine seltene neurovaskuläre Erkrankung, die für bis zu 1 % aller Schlaganfälle und bis zu 10 % bei juvenilen Schlaganfällen verantwortlich ist. Die Inzidenz liegt bei etwa 1 pro 100.000 Einwohner, ist aber in den letzten Jahren durch eine verbesserte bildgebende Diagnostik und mehr Kenntnisse über die Erkrankung gestiegen und wahrscheinlich etwas höher anzusetzen (2–3 pro 100.000 Einwohner). Sinus- und Kortikalvenenthrombosen betreffen vorwiegend Frauen (Verhältnis 3:1) unter dem 50sten Lebensjahr. Nur 10 % aller Patient:innen sind bei Auftreten der Erkrankung über 65. Die Anatomie der zerebralen venösen Abflusswege ist durchaus komplex (ausgeprägtes Anastomosennetz und große Variabilität) und wichtig zur Prognoseeinschätzung. Die großen venösen Längsleiter, wie der Sinus sagittalis superior (> 60 %) oder Sinus transversus (40–50 %) sind am häufigsten betroffen. Thrombosen der inneren Venen (Vv. cerebri internae, V. cerebri magna etc.) treten meist in Kombination mit einer Sinusthrombose auf und sind insgesamt selten (10 %). Unter einer Thrombose der Kortikalvenen versteht man eine Thrombose der oberflächlichen kortikal gelegenen Venen (einschließlich der V. anastomica inferior). Da sich die Kortikalvenenthrombose nahezu ausschließlich über eine retrograde Thrombusausbreitung bildet, ist der Sinus sagittalis superior häufig mitbetroffen. Prognostisch gesehen ist eine Beteiligung der inneren Hirnvenen oder von zerebellären Venen ungünstig.
Die klassischen Risikofaktoren für eine aseptische Sinus- und Kortikalvenenthrombose führen dabei zu einer Hyperkoagulation. Hormonale Faktoren in Zusammenhang mit dem Auftreten von Thrombosen sind vor allem bei Frauen wesentlich. Die CSVT im Wochenbett und im dritten Trimenon kommen häufig vor, weiterhin kann sie durch orale Kontrazeptiva und eine Hormonersatztherapie, wie zum Beispiel im Klimakterium, provoziert werden. Im Alter > 55 ist die häufigste Ursache eine (aktive) Krebserkrankung, weshalb eine gezielte Diagnostik in die ätiologischen Überlegungen miteinzubeziehen ist.

Klinischer Phänotyp

Ob langsam drückend wie beim Spannungskopfschmerz oder peitschenschlagartig wie bei der Subarachnoidalblutung, Kopfschmerzen präsentieren sich bei Sinus- und Kortikalvenenthrombosen sehr variabel.
Der Charakter der Kopfschmerzen ist sehr variabel – von peitschenschlagartig bis drückend
Die Kopfschmerzen sind dabei von der Lokalisation und Ausbreitung der Thrombosierung abhängig und werden diffus über Tage oder auch Wochen zunehmend. Die langsame Entwicklung führt häufig zu einer Bagatellisierung der Symptomatik oder zu einer Fehldiagnose. Je nach Schweregrad der Thrombose treten weitere intrakranielle Hirndrucksymptome (Erbrechen, Sehstörungen), fokale Ausfälle (sensomotorische Defizite, Sprachstörungen) oder epileptische Anfälle auf. Die epileptischen Anfälle häufen sich vor allem bei Kortikalvenenthrombosen und sind durch eine fokale Hirnschädigung bedingt. Die Erkrankung verläuft in der Regel gutartig, d. h. ohne Langzeitkomplikationen. Bei etwa 10 % der Fälle kommt es jedoch zu einem schweren Verlauf mit venösen Stauungsinfarkten und hämorrhagischen Infarzierungen, weshalb eine intensivmedizinische Behandlung notwendig ist.
Die Sinus-cavernosus-Thrombose ist eine wichtige Sonderform der CSVT, die in den meisten Fällen infektiös bedingt ist. Patient:innen präsentieren sich klassischerweise mit Exophthalmus, Chemosis und Ausfall der okulomotorischen Hirnnerven (Leitsymptom Doppelbilder) und des Nervus trigeminus (Störung der Gesichtssensibilität).

Diagnostik

Die zerebrale Bildgebung ist weiterhin der „Gold-standard“ zur Diagnostizierung der CSVT. Je nach Verfügbarkeit kann man eine CSVT sowohl in der zerebralen Computertomographie (CCT), der Magnetresonanztomographie (cMRT) oder der digitalen Subtraktionsangiographie (DSA) erkennen. Die invasive DSA spielt heutzutage nur noch eine untergeordnete Rolle. Bis auf wenige Ausnahmen ist in der Nativ-Sequenz der direkte Thrombusnachweis meist nicht möglich und nur etwaige durch die CSVT bedingte Gehirnparenchymveränderungen wie Ödeme, Infarkte und Blutungen darstellbar. Der zuverlässige Nachweis ist entsprechend nur mit einer kontrastmittelgestützten venösen CT- oder MRT-Angiographie möglich.
Häufig sind allerdings nur Nativ-Verfahren verfügbar, weshalb in der Akutphase auf das „dense triangle sign“ (Thrombus im Sinus sagittalis superior) oder das „cord sign“ (Thrombus in den kortikalen Venen) zu achten ist. Bei einigen Parenchymläsionen sollten man auch an eine venöse Genese denken:
  • Juxtakortikale Blutungen sind typisch für Brückenvenenthrombosen.
  • Bilaterale (v. a. bithalamische) Läsionen sind charakteristisch für eine Thrombose der inneren Hirnvenen (z. B. V. cerebri magna).
  • (Stauungs‑)Blutungen finden sich in sog. atypischen Lokalisationen (außerhalb des Stammganglienbereichs) und sind oft mit einem ausgedehnten frühzeitigen Ödem vergesellschaftet.
  • Deutliche Raumforderungszeichen der demarkierten Läsion in der Bildgebung.
  • Venöse Infarktareale gehen über arterielle Versorgungsgebiete hinaus.

Screening

D‑Dimere sind Proteine, die als Abbauprodukte von vernetztem Fibrin im Blut während der körpereigenen Auflösung eines Blutgerinnsels vorkommen und durch die reaktive Einwirkung von Plasmin entstehen. Entsprechend wird D‑Dimer sehr erfolgreich bei Verdacht auf eine Beinvenenthrombose oder Pulmonalarterienembolie als Biomarker verwendet. Leider hat sich dies bei der CSVT nicht bestätigt. Zwar zeigte eine Metaanalyse, dass CSVT-Patient:innen häufig erhöhte D‑Dimer-Werte aufweisen, jedoch sind isolierte Kopfschmerzen als klinische Präsentation und längere Symptomdauer mit einer niedrigen diagnostischen Sensitivität assoziiert. Folglich ist die Bestimmung des D‑Dimers rein unterstützend und sollte nicht als Entscheidungskriterium für eine zerebrale Bildgebung fungieren.
Eine bessere Alternative könnte der klinische Score von Heldner sein (Neurology 2020). Der Score basiert auf 6 Variablen:
  • epileptischer Anfall bei Vorstellung (4 Punkte),
  • bekannte Thrombophilie (4 Punkte),
  • orale Kontrazeption (2 Punkte),
  • Symptomdauer > 6 Tage (2 Punkte),
  • schlimmster Kopfschmerz jemals (1 Punkt) und
  • fokales neurologisches Defizit bei Vorstellung (1 Punkt).
Dabei zeigte ein Score von 0 bis 2 Punkte einen negativen Vorhersagewert [NPV] von 94,1 %.

Therapie

Alle Patient:innen mit CSVT sollten in der Akutphase so bald wie möglich eine Therapie mit Heparin in therapeutischer Dosierung erhalten. Dabei ist sowohl eine Therapie mit unfraktioniertem, intravenös verabreichtem Heparin [UFH] als auch eine niedermolekulare Heparintherapie (NMH) möglich. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen der CSVT aufgetretene und auftretende intrazerebrale Blutungen keine Kontraindikation für eine Therapie mit Heparinen darstellen.
Intrazerebrale Blutungen sind keine Kontraindikation für eine Therapie mit Heparinen
In der Postakutphase ist eine orale Antikoagulation (OAK) für alle Patient:innen indiziert mit dem Ziel der Verhinderung einer Rezidiv-CSVT und einer weiteren Progression des Thrombus. Dabei ist der genaue Zeitpunkt zum Start der OAK variabel. Da meistens die Diagnose der Patient:innen in der Subakutphase (5–7 Tage) gestellt wird, ist eine sofortige orale Antikoagulation ohne vorherige Heparintherapie ebenfalls denkbar.
CAVE: Der Start einer oralen Antikoagulation oder einer Heparintherapie kann zu einer fehlerhaften laborchemischen Diagnostik führen (Lupus-Antikoagulans-Test und APC-Resistenz).
Dabigatran (2 × 150 mg) war in einer kleinen Sicherheitsstudie Marcumar nicht unterlegen und kann in einem individuellen Heilversuch, nach entsprechender Patient:innenaufklärung, bei unkomplizierten CSVT-Verläufen in Erwägung gezogen werden.
Eine endovaskuläre und/oder neurochirurgische Therapie bei CSVT ist nur in Ausnahmefällen bei großen parenchymatösen Läsionen und drohender Herniation indiziert.

Prognose

Die CSVT hat erfreulicherweise zumeist eine günstige Prognose. In 80–90 % der Fälle kommt es zu einer weitgehenden Erholung mit funktioneller Unabhängigkeit (modifizierte Rankin-Skala ≤ 2).
Ungünstige Prognosefaktoren umfassen eine Bewusstseinsstörung bei Aufnahme, höheres Alter, männliches Geschlecht, große Parenchymläsionen sowie systemische Grunderkrankung wie Malignom oder schwere Thrombophilie.

Fallbericht

An unserer Notaufnahme wird eine 27-jährige Patientin mit seit wenigen Tagen massiven Kopfschmerzen vorstellig.
Die Patientin schildert über plötzlich beginnende stechende Kopfschmerzen okzipital linksseitig vor 3 Tagen ohne Tagesschwankung oder Begleitsymptome. Die Schmerzen werden in der visuellen Analogskala mit 7 Punkten angegeben. Die Kopfschmerzen sind gut mit gängigen Schmerzmitteln kupierbar, die Art der Kopfschmerzen sind allerdings der Patientin unbekannt.
Am Tag der Vorstellung berichtet die junge Frau zusätzlich über diffus verschwommenes Sehen und einer Ausstrahlung des Kopfschmerzes von okzipital nach nuchal/zervikal.
In der klinischen Untersuchung zeigt sich die Patientin ohne fokales sensomotorisches Defizit, allerdings zeigt sich ein minimales Papillenödem beidseits. In der nativen zerebralen Computertomographie zeigt sich eine hyperdense Zeichnung des Sinus transversus linksseitig (Abb. 1).
In der additiv durchgeführten zerebralen Magnetresonanztomographie mit Venographie bestätigt sich der Verdacht auf eine Sinusvenenthrombose im Sinus transversus und sigmoideus inklusive thrombotischer Anteile in der V. jugularis interna (Abb. 2).
Anamnestisch konnten multiple Risikofaktoren eruiert werden (Nikotinabusus, Adipositas, orale hormonelle Kontrazeption, multiple Spontanaborte). Es erfolgte eine ausführliche laborchemische Diagnostik. Dabei zeigten sich Anticardiolipin-Antikörper positiv, eine milde Thrombozytopenie und eine leicht verlängerte aPTT.
Die Patientin wurde auf die Stroke-Unit aufgenommen und erhielt NMH 1 × kgKG 2 × täglich für 4 Tage. Nach 4 Tagen erfolgte der Beginn einer Dicumarin-Therapie.
Die Patientin konnte nach einer weiteren Woche aus der stationären Pflege entlassen werden. Die klinischen Symptome waren zu diesem Zeitpunkt völlig zurückgebildet.
In der zerebralen Magnetresonanztomographie 3 Monate später zeigte sich eine teilweise Rekanalisation des Sinus transversus und sigmoideus.

Fazit für die Praxis

  • CSVT betrifft häufig Frauen im gebärfähigen Alter.
  • Bei klinischem Verdacht auf eine zerebrale Sinus‑/Venenthrombose (CVST) muss unverzüglich eine bildgebende Diagnostik erfolgen.
  • Patienten mit akuter zerebraler Sinus‑/Venenthrombose (CVST) können vorzugsweise mit niedermolekularem statt unfraktioniertem Heparin behandelt werden.
  • Dabigatran (2 × 150 mg) ist Marcumar nicht unterlegen und kann in einem individuellen Heilversuch in Erwägung gezogen werden.
  • Die Prognose ist meist gut

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

L. Kellermair gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Sinus- und Kortikalvenenthrombose: das Chamäleon des sekundären Kopfschmerzes
verfasst von
Dr. Lukas Kellermair, PhD
Publikationsdatum
04.09.2023
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
psychopraxis. neuropraxis / Ausgabe 5/2023
Print ISSN: 2197-9707
Elektronische ISSN: 2197-9715
DOI
https://doi.org/10.1007/s00739-023-00938-5

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