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Ärzte Woche

25.01.2021 | Psychiatrie Psychosomatik Psychotherapie

Polizeieinsatz bei psychisch Erkrankten

„Tragisch für alle Beteiligten“

verfasst von: Pete Smith

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Wie oft psychisch Kranke bei Einsätzen der Exekutive ums Leben kommen, wird nicht erfasst, zuletzt sorgte der Tod einer 67-Jährigen für Schlagzeilen. Sie ging mit einem Messer auf die Beamten los und wurde mit Schüssen niedergestreckt. Die meisten der tödlichen Schüsse auf Menschen mit psychischen Problemen sind vermutlich vermeidbar.

Am frühen Nachmittag des 5. Jänner 2021 klopft eine Pflegerin in Wien-Hietzing an die Tür einer 67-jährigen Pensionistin, um der hilfsbedürftigen Frau wie gewohnt ihre Dienste anzutragen. Als ihre Klientin öffnet, hält diese ein Messer in der Hand, mit dem sie die geschockte Heimhilfen-Mitarbeiterin bedroht. Die ergreift sofort die Flucht und alarmiert die Polizei. Kurz darauf rücken Kräfte des Stadtpolizeikommandos Meidling sowie der Sondereinheit WEGA an. Nachdem sie das Stiegenhaus in der Auhofstraße gesichert haben, klopfen sie an die Wohnungstür der psychisch auffälligen Frau. Zunächst öffnet niemand. Nach abermaligem Klopfen steht die Pensionistin plötzlich in der Tür und attackiert die Beamten mit ihrem Messer. Ein Polizist setzt einen Taser ein, der andere feuert seine Dienstwaffe auf die Angreiferin ab. Eine Kugel trifft ihren Oberkörper. Die Beamten leisten Erste Hilfe, doch die Pensionistin stirbt.

Der tragische Fall befeuert die Debatte, ob Polizeikräfte hierzulande ausreichend auf derartige Gefahrensituationen und den Umgang mit psychisch Kranken vorbereitet sind. Nicht so, wie es sein müsste, meint Prof. Dr. Thomas Stompe, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Forensische Psychiatrie. „In der polizeilichen Aus- und Weiterbildung gibt es zwei Lehrgänge, in denen unter anderem auch der Umgang mit psychisch Kranken Thema ist. Ein eintägiges Seminar ist für alle zukünftigen Polizistinnen und Polizisten verpflichtend, ein zweiter länger dauernder Lehrgang für bereits fertige Exekutivbeamten ist hingegen freiwillig.“

Seit 2003 werden die aktuell knapp 28.000 österreichischen Polizisten im Rahmen eines jährlich rund 20 Stunden umfassenden Einsatztrainings auf mögliche Gefahrensituationen vorbereitet. Unterrichtet werden sie von bundesweit rund 450 pädagogisch und psychologisch geschulten Einsatztrainern, die der Sicherheitsakademie, einer Dienststelle des Bundesinnenministeriums, unterstehen. Unter realitätsnahen Bedingungen bringen sie ihren Schützlingen auch bei, wie sie Personen richtig einschätzen, ob jene unter Drogen stehen, körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind oder zur Gewalt neigen. Im Einsatz sollen die Beamten dem sogenannten 3D-Modell folgen – Dialog, Deeskalation und Durchsetzen. Wie sie sich psychisch Kranken gegenüber am besten verhalten, wird – wenn überhaupt – nur am Rande erörtert.

„Der Fall der in Wien-Hietzing erschossenen Pensionistin ist für alle Beteiligten tragisch“, konstatiert Stompe, der als Oberarzt sowohl an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien als auch in der Justizanstalt Göllersdorf tätig ist. „Nicht nur für die Angehörigen des Opfers, sondern natürlich auch für die betroffenen Polizeibeamten.“

Bei Einsätzen wie diesem wäre es daher ratsam, einen Psychiater hinzuzuziehen, sagt Stompe. Allerdings sei das nur möglich, wenn dafür ausreichend Zeit bleibe. Sei Gefahr in Verzug, müssten Beamte unmittelbar handeln. „Im aktuellen Fall fühlte sich die psychisch kranke Frau vermutlich von den Polizisten bedroht und reagierte ihrerseits bedrohlich. Wenn sie trotz Aufforderung ihr Messer nicht fallenlässt, müssen die Beamten zugreifen. In einem solchen Worst-Case-Szenario ist der Einsatz eines Tasers das gelindere Mittel der Wahl.“

50.000 Volt durch den Körper gejagt

Ungefährlich ist der Einsatz sogenannter „Distanzelektroimpulsgeräte“ allerdings nicht. Die Waffe feuert Metalldrähte mit Widerhaken ab, über die ein Stromstoß von 50.000 Volt in den Körper des Angreifers gejagt wird, worauf dessen Muskulatur erlahmt und er handlungsunfähig wird. 2019 starb in Frankfurt am Main ein 49-Jähriger an den Folgen eines Taser-Einsatzes. Der psychisch auffällige Mann hatte die Einnahme seiner Medikamente verweigert, worauf sein behandelnder Arzt die Polizei alarmierte. Als der Patient den Beamten gegenüber aggressiv wurde, „taserten“ sie ihn. Der 49-Jährige kollabierte und starb vier Tage später in der Frankfurter Uniklinik. Ein ähnlicher Fall ereignete sich im rheinland-pfälzischen Pirmasens, wo ein 56-jähriger Mann in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden sollte, sich gegen die Vollzugsbeamten zur Wehr setzte und infolge eines Taser-Einsatzes starb.

Wie häufig psychisch Kranke in Österreich bei Polizeieinsätzen ums Leben kommen, wird statistisch nicht erfasst; tragische Fälle wie der in Wien-Hietzing seien jedoch sehr selten, stellt Thomas Stompe, der als Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapeutische Medizin gemeinsam mit einer Kollegin in Wien eine Praxis betreibt, klar.

Anders in den USA, wo zwischen 2015 und 2019 laut Erhebungen der Washington Post 1.216 psychisch kranke Menschen von der Polizei erschossen wurden. Aufsehen erregte zuletzt der Fall eines jungen Schwarzen, der am 28. Oktober vergangenen Jahres in Philadelphia bei einem Polizeieinsatz starb.

Der 27-jährige Walter Wallace Jr. litt schon seit geraumer Zeit unter den Auswirkungen einer bipolaren Störung. Während eines akuten Schubs betätigte sein Bruder den Notruf. Doch statt eines Rettungswagens rückte die Polizei an. Bei ihrer Ankunft hielt Wallace ein Messer in der Hand. Als er seine Mutter fortstieß und auf die beiden weißen Beamten zukam, eröffneten sie das Feuer. Der Tod des jungen Schwarzen führte in Philadelphia zu Ausschreitungen, überall im Land demonstrierten Menschen einmal mehr gegen rassistische Polizeigewalt.

Spezielle Deeskalationstechniken

„Die meisten tödlichen Schüsse auf Menschen mit psychischen Problemen sind unnötig und hätten verhindert werden können“, schreibt der renommierte Psychiater Dr. Jeffrey A. Schwartz von der University of California in einem Gastbeitrag für die Washington Post .

Schwartz, der seit mehr als 40 Jahren mit US-Polizei- und Strafvollzugsbehörden zusammenarbeitet, macht dafür die schlechte Ausbildung der Polizisten verantwortlich, denen beigebracht werde, dass jede Person mit einer scharfen Waffe im Umkreis von 25 Fuß (rund acht Meter) eine unmittelbare Bedrohung darstelle und den Einsatz tödlicher Gewalt rechtfertige. Tatsächlich seien in den USA dem FBI zufolge zwischen 2008 und 2018 insgesamt 1.671 Polizisten im Dienst gestorben – aber keiner durch das Messer eines psychisch Kranken.

Schwartz fordert, dass alle Polizisten in den USA dazu verpflichtet werden, bei einem Einsatz gegenüber psychisch Kranken spezielle Deeskalationstechniken und Kriseninterventionsverfahren anzuwenden, und dass sich die Beamten verantworten müssten, sollten sie das, obwohl es möglich gewesen wäre, nicht tun. In gefährlichen Situationen sollten die Polizisten Pfefferspray einsetzen und im absoluten Notfall einen Taser oder Gummigeschosse abfeuern.

Oft genügt schon ein Funke

Wer sich wahnhaft verfolgt fühlt, sieht sich beim Anblick uniformierter Polizeibeamten erst recht bedroht. Sachlichen Argumenten sind psychotische Patienten nicht zugänglich, und dass der Polizeieinsatz öffentliches Aufsehen erregt, trägt nicht unbedingt zu Deeskalation der Lage bei. Betroffene reagieren irrational, Beamte sind überfordert, die Emotionen schaukeln sich hoch, am Ende genügt oft ein Funke, und es kommt zur Katastrophe. Wie Stompe hält es auch Schwartz für geraten, wenn eben möglich einen geschulten Zivilisten hinzuzuziehen: einen Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter oder anderen Krisenhelfer.

Im Fall der Wiener Pensionistin war den Einsatzkräften bekannt, dass es sich um einen psychisch kranken Menschen handelte. „In einem solchen Fall wäre es ratsam, dass sich die Beamten vor ihrem Einsatz bei Angehörigen oder Nachbarn über die betroffene Person erkundigen, um Näheres über ihr Verhalten zu erfahren“, sagt Stompe. „Daraus könnten sie auf einen psychotischen Krankheitsschub oder einen deliranten Verwirrtheitszustand schließen und sich auf die Symptome besser einstellen.“ Im Normalfall haben sie das dafür erforderliche Wissen allerdings nicht. So ist es mitunter schwierig, zu unterscheiden, ob jemand an einer Psychose leidet, unter Drogen steht oder einfach nur außer sich ist vor Wut.

Kaum zu erkennen

Psychisch Kranke, die Polizeieinsätze provozieren, seien in der Regel schizophrene Patienten in akut-psychotischen Zuständen, mitunter aber auch Menschen mit demenziellen Erkrankungen, so Stompe. Das zu erkennen, sei für ungeschulte Beamte schwierig. Denn nicht immer redeten Betroffene verworren oder äußerten Wahnvorstellungen. „Oft wirken sie bloß angespannt, reden an den Fragen vorbei und lassen sich nicht beruhigen.“ Und wenn man als Beamter noch nicht einmal ahnt, dass die eigentliche Ursache der Aggression eine psychische Beeinträchtigung ist, nutzen allgemeine Regeln – Reizüberflutung vermeiden, ruhige Umgebung schaffen, Publikum vermeiden, langsam und ruhig sprechen, zuhören, nicht unterbrechen, Hilfe anbieten – herzlich wenig.

Derzeit untersucht das Landespolizeikommando Steiermark, ob der Schusswaffengebrauch gegen die geistig verwirrte Pensionistin gerechtfertigt war, der Beamte also in Notwehr handelte. Unterdessen hat die NEOS-Sprecherin für Inneres, Stephanie Krisper, parlamentarische Anfragen an das Innen- und Justizministerium angekündigt. „Laut Berichten war den einschreitenden Beamtinnen und Beamten bekannt, dass die Frau psychisch verwirrt war“, sagte Krisper einer Mitteilung des Parlamentsklubs der NEOS zufolge. „Wieso wurde hier mit Waffengewalt reagiert? Waren die einschreitenden Beamtinnen und Beamten in dem Umgang mit solchen Patientinnen und Patienten geschult?“

Krisper zufolge wirft der Fall zudem ein Schlaglicht auf die Probleme des geltenden Unterbringungsrechts, das die Einweisung psychisch Kranker bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung in psychiatrische Anstalten regelt.

„Seit Jahren werden Reformen angekündigt. Zuletzt auch im Menschenrechtsausschuss des Parlaments von Justizministerin Alma Zadic. Hier wurde uns bis Jahresende 2020 ein Begutachtungsentwurf für eine Reform des Unterbringungsgesetzes angekündigt, von der bislang jede Spur fehlt.“

Tatsächlich, sagt Stompe, sei die Zahl psychisch Kranker, die wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in den Maßnahmenvollzug für zurechnungsunfähige Rechtsbrecher eingewiesen wurden, in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Als Konsequenz fordert der Wiener Psychiater, den Umgang mit psychisch Kranken fundierter als bisher in die Grundausbildung von Polizisten aufzunehmen und in den jährlichen Einsatztrainings zu vertiefen.

Literaturhinweis. Thomas Stompe und Hans Schanda (Hrsg.): Schizophrenie und Gewalt. Wiener Schriftenreihe für Forensische Psychiatrie. MWV Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft. Berlin 2018. TB. 184 Seiten. 39,95 Euro. ISBN 978-3954663750

Metadaten
Titel
Polizeieinsatz bei psychisch Erkrankten
„Tragisch für alle Beteiligten“
Publikationsdatum
25.01.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 4/2021

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