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Ärzte Woche

06.09.2021 | Prävention und Gesundheitsförderung

Stress die Stirn bieten

verfasst von: Patrick Mocker und Philip Klepeisz

In einer Extremsituation finden sich Ärzte immer wieder. Dass man dabei einsatzbereit bleibt und nicht die Nerven wegwirft, kann trainiert werden. Die Psyche sollte auf den Stress vorbereitet werden, denn ungeübt ist in solch einem Fall die Toleranz dafür gering. Dem kommt man mit allgemeinem und speziellem Stresstraining bei. Fallen im Geschehen komplexe Handlungen zusehends schwerer – ein Zeichen von Stress –, helfen Entspannungstechniken, sich wieder zu beruhigen. Die Herzfrequenz ist bei psychischem Stress ein wichtiger Parameter, sagen die US-Experten Dave Grossman und Loren Christensen.

Dr. Frederik Thompsen fährt mit seinem Auto durch die verregnete Nacht über die Landstraße nach Hause. An einer Kreuzung geschieht dann das Unerwartete. Ein Lkw-Fahrer verliert die Kontrolle, sein Fahrzeug kommt ins Schleudern und von der Straße ab. Dabei kippt der Laster um und die geladenen Baumstämme rollen über den Asphalt. Ein entgegenkommendes Fahrzeug fährt frontal gegen einen Baumstamm. Ein weiterer Baumstamm rollt auf Thompsons Wagen zu und trifft ihn mit großer Wucht. Der Kopf des Arztes wird gegen den Airbag geschleudert. Etwas benommen steigt er aus seinem Wagen und bewegt sich zum nächsten Auto, das deformiert vor ihm steht; die bewusstlosen und blutüberströmten Insassen brauchen seine Hilfe – sein Puls steigt ...

Stress kann ein Arzt in einer derartigen Situation nicht gebrauchen, fallen in solch einem Zustand doch zusehends die notwendigen Handlungen schwerer. Es wird wohl nicht so weit gehen wie bei einem Polizisten oder Soldaten, die in Extremsituationen um ihr Leben fürchten müssen, doch ist es hinderlich, wenn die Feinmotorik nicht mehr funktioniert oder einem die Dinge aus den zitternden Händen fallen. Es lohnt sich ein Blick auf andere Einsatzkräfte, wie jene mit Stress umgehen.

Dave Grossman , Militärpsychologe und Offizier an der US-Militärakademie West Point, untersucht die Auswirkungen psychischer Belastung in polizeilichen Einsätzen und liefert damit wertvolle Erkenntnisse für das Einschreiten von Polizisten. Die psychischen Belastungen bei Einsätzen bezeichnen Grossman und Christensen als Survival Stress . Loren W. Christensen war 29 Jahre Polizist in Portland, USA, und ist Veteran des Vietnamkriegs.

So ist es bei Polizisten und Soldaten


Die Herzfrequenz ist leicht zu messen und ein guter Indikator dafür, wie es um den psychischen Stress einer Person steht – wird eine Person gestresst, erhöht sich die Herzfrequenz. Grossman und Christensen haben Bereiche der Herzfrequenz verschiedenen psychologischen Zuständen zugeordnet. 60 bis 80 Schläge pro Minute definierten sie als den psychischen Zustand „Weiß“, welcher dem Ruhepuls entspricht. Der Mensch befindet sich in der Komfortzone.

Die Herzfrequenz als Richtwert


Steigt die Herzfrequenz stressbedingt auf bis zu 115 Schläge pro Minute, befindet man sich im Grenzbereich zwischen den Zuständen „Gelb“ und „Rot“. In diesen Bereichen beginnen laut Grossman und Christensen die ersten merkbaren Veränderungen, beispielsweise verschlechtert sich die Feinmotorik rapide. Der Bereich 115 bis 145 Schläge pro Minute ist der Bereich, der im Kontext des „Überlebens“ anzustreben ist. Komplexe motorische Fähigkeiten können bestens eingesetzt werden. Visuelle und kognitive Reaktionszeiten sind optimal.

Steigt die Herzfrequenz auf mehr als 145 Schläge pro Minute, kommt man in den Zustand „Grau“ und ab 175 Schläge pro Minute in den Zustand „Schwarz“. In diesen beiden Bereichen werden die Einschränkungen zunehmend gravierend. Man muss unter anderem mit Tunnelblick, Wahrnehmungsstörungen und erschwerter Entscheidungsfindung rechnen. Physiologisch kommt es etwa zu einer Vasokonstriktion, wodurch sich das Bluten von Wunden reduziert. „Schwarz“ ist nach Grossman und Christensen gleichbedeutend mit dem Einstellen bewussten Handelns und führt zur psychischen Handlungsunfähigkeit. Eine Situation, die man vermeiden möchte.

Verhindern lassen sich die Auswirkungen der beschriebenen Zustände nicht, aber durch gezieltes und intensives Training kann laut Grossman und Christensen das Erreichen der Zustände „Grau“ und „Schwarz“ hinausgezögert werden. Dies wird einerseits mit dem Erlernen und Üben von speziellen Atemübungen und Entspannungstechniken erreicht, andererseits kann durch realitätsnahes, kontrolliertes Erzeugen von psychischem Stress die Stressresistenz erhöht werden.

Eustress und Distress


Bei der Zuordnung der Erregungsniveaus in Herzfrequenzbereiche Vorsicht geboten. Zu individuell ist der tatsächliche Herzfrequenzbereich in Abhängigkeit vom Erregungszustand. Dennoch bietet diese Einteilung einen guten Anhaltspunkt für das präventive Stresstraining. Wichtig ist nur, dass die Herzfrequenzsteigerung durch die Herbeiführung psychischen Stresses erfolgt und nicht durch physische Belastung.

Dass Stress nicht nur als psychische Fehlbelastung gesehen werden kann, sondern auch positive Auswirkungen hat, zeigt unter anderem auch die Unterscheidung von Stress in Eustress (positiver Stress) und Distress (negativer Stress) nach Hans Selye (1956) . Laut Selye wirken bei Eustress die Stressoren auf den Körper nicht überfordernd und belastend, sondern motivierend und anregend, was dazu führt, dass die Aufmerksamkeit erhöht und die maximale Leistungsfähigkeit des Körpers gefördert wird. Die Erbringung von Höchstleistungen ist ohne Stress nicht möglich. Nach Selye wirkt, im Gegensatz zum positiven Eustress, der Distress überfordernd und bedrohlich und führt zu einer stark erhöhten Anspannung des Körpers. Zu beachten ist, dass das optimale Erregungsniveau abhängig ist von der Komplexität der Aufgabenstellung. Laut Dr. Heike Riedl, Universität Graz, erweist sich bei schwierigen oder komplexen Aufgaben ein niedriges Erregungsniveau als optimal – je einfacher die Aufgabe, desto höher darf es sein.

Das Stresstraining


Beim Stresstraining wird zwischen allgemeinem und spezifischem Stresstraining unterschieden. Laut Grossman und Christensen existiert ein sogenanntes „Stressimmunsystem“, was den Umstand bezeichnen soll, dass Training gegen einen bestimmten Stressor nicht nur gegen diesen nützlich ist, sondern auch die allgemeine Stressresistenz fördert.

Eine einfache Methode, um allgemeinen psychischen Stress zu erzeugen, ist die gleichzeitige Aufgabenstellung einer oder mehrerer kognitiver und motorischer Aufgaben, wie es beispielsweise in der Life Kinetik® gemacht wird. Dieses Training soll die Konnektivität zwischen den unterschiedlichen Gehirnregionen verbessern. Besonders zwischen den für Motorik zuständigen Gehirnregionen und den auditiven und visuellen Arealen wurde von Demirakca et al. ein deutlicher Anstieg an Verbindungen festgestellt. Dies führt dazu, dass Reaktionen auf stressige Situationen mit höherer Wahrscheinlichkeit schneller und richtiger durchgeführt werden.

Es hat jedoch seine Grenzen und kann ein auf eine Disziplin angepasstes Stresstraining nicht ersetzen. Als Beispiel sei das sogenannte „force on force“ oder „Reality Training“ erwähnt, welches etwa für die Polizei als wichtigste Form des gezielten Stresstrainings gilt. Bei dieser Trainingsform müssen möglichst reale Szenarien nachgestellt werden. Laut Grossman und Christensen geht es so weit, dass es möglich ist, durch ein ausreichendes Trainieren von Szenarien sogenannte „pre-battle veterans“ zu schaffen. Diese weisen einen ähnlichen Erfahrungsschatz auf, wie erfahrene Einsatzbeamte, nur ohne das Risiko, im Einsatz schwer verletzt zu werden. Laut Dr. Michael J. Asken, ein US-amerikanischer Psychologe, taucht immer wieder die Frage auf, ob Szenarientrainings so durchgeführt werden können, dass ein ausreichend hohes Stresslevel erzeugt wird, da die Teilnehmer wissen, dass es sich lediglich um eine Übung handelt. Dazu führte Asken 2008 eine Befragung mit Verhandlungsführern durch, wie sie das Stresslevel im Einsatz und im Training bewerten. Auf einer Skala von maximal 10 Punkten wurde im Einsatz ein durchschnittliches Level von 6,2 angegeben, während im Szenarientraining 6,1 angegeben wurde. Ein ähnliches Ergebnis erzielte eine Umfrage mit verdeckten Ermittlern aus dem Jahr 2006, durchgeführt von Asken und Yunk .

Entspannungstechniken


Die Atmung unter Stress wird flacher und schneller, und wenn es gelingt, kann schon ein ruhiger, tiefer Atemzug zu einer leichten Stressreduzierung führen. Denn die Brustkorbatmung, die hauptsächlich im Stress durchgeführt wird, ist ineffizient und der Bauchatmung unterlegen. Laut Asken et al. führt Brustkorbatmung bei Stress zu folgenden Problemen:

- Die Atmung wird schneller und führt zu einer Art Angstzustand.

- Komplettes Ausatmen wird erschwert.

- Man fühlt sich eingeengt oder gefangen.

- Es entsteht eher eine Art Kampf mit der Atmung als eine Entspannung.


Die Basis zur erfolgreichen Stressreduzierung mittels Atmens ist also nicht der tiefe Atemzug allein, sondern eine ruhige, langsame Bauchatmung. Damit diese im Stress gelingt, muss sie im entspannten Zustand geübt werden. Es gibt Techniken zur Atemkontrolle, die sich bereits seit mehreren Jahrhunderten bewährt haben, wie die Sama-Vritti-Pranayama-Atemübung aus dem Yoga. Bei der adoptierten „Four count“-Methode wird ein Atemzyklus in vier gleich lange Abschnitte unterteilt und mehrmals wiederholt:

- Durch die Nase einatmen und dabei bis vier zählen!

- Atem anhalten und bis vier zählen!

- Durch den Mund ausatmen und bis vier zählen!

- Atem anhalten und bis vier zählen!


Damit können laut Grossman und Christensen der Puls und somit auch der Erregungszustand soweit gesenkt werden, dass es möglich ist, vom Zustand „Grau“ zurück in den Zustand „Rot“ zu gelangen. Ob tatsächlich bis vier gezählt wird, ist dabei unwichtig; der Zählabstand kann individuell angepasst werden.

Taktische Muskelrelaxation


Weitere Möglichkeiten der Entspannung sind unter anderem die Meditation, Yoga, Selbsthypnose, autogenes Training, Biofeedback und die Taktische Muskelrelaxation. Aufgrund der Umsetzbarkeit und des Zeitaufwands ist die Taktische Muskelrelaxation, kurz TMR, besonders erwähnenswert. Diese hat ihren Ursprung in der traditionellen progressiven Muskelrelaxation nach Dr. Edmund Jacobson und funktioniert nach dem Prinzip der wechselseitigen Anspannung und Entspannung der einzelnen Muskeln im Körper. Laut Asken ist TMR deshalb so erfolgreich, weil durch das wechselseitige Anspannen und Entspannen der Körper nicht nur den Zustand der Entspannung speichert, sondern auch lernt, wie er von der Anspannung zur Entspannung gelangt und dadurch das Körpergefühl und die Selbstwahrnehmung erhöht.

Auf das Entspannen der Muskulatur reagieren andere Teile des Körpers: Herzfrequenz und Blutdruck sinken, die Atmung wird langsamer und fällt leichter. Alles Umstände, die den Erregungszustand wieder auf ein optimales Leistungsniveau bringen. Um TMR in einer Extremsituation verfügbar zu machen, kombiniert Asken sie mit den Erkenntnissen der klassischen Konditionierung nach Pawlow – jedoch ohne Klingel. Stattdessen wird ein Kommandowort verwendet. Wird also eine Entspannungstechnik wie die Muskelrelaxation beherrscht, wählt man das Kommandowort selbst aus – am besten ein selten verwendetes. Im Training wird dieses Wort dann während der Entspannung ausgesprochen, wodurch eine Verknüpfung zwischen dem Wort und der Entspannung entsteht. Je mehr man dies übt, desto leichter fällt es, alleine durch das Aussprechen des Wortes, in den Entspannungszustand zu gelangen.

Conclusio


Die vorgestellten Methoden zum Stresstraining und die Entspannungstechniken, die von anderen Einsatzkräften benutzt werden, sind effektiv. Sie bereiten die Frauen und Männer, die diese benützen, psychisch auf ihre realen Einsätze vor und sind unentbehrlich, um einen kühlen Kopf zu bewahren – am besten im „Roten“ Bereich (115 bis 145 Schläge pro Minute) – und können auch im medizinischen Umfeld Leben retten.

Die Referenzen finden Sie auf springermedizin.at





Referenzen:

1. Asken, M. J., Christensen, L. W. & Grossman, D [Dave]. (2010). Warrior mindset: Mental toughness skills for a nation’s defenders performance psychology applied to combat. Human Factor Research Group.

2. Demirakca, T., Cardinale, V., Dehn, S., Ruf, M. & Ende, G. (2016). The Exercising Brain: Changes in Functional Connectivity Induced by an Integrated Multimodal Cognitive and Whole-Body Coordination Training. Neural plasticity, 2016, 8240894. https://doi.org/10.1155/2016/8240894

3. Grossman, D [Dave] & Christensen, L. W. (2012). On combat: The psychology and physi-ology of deadly conflict in war and in peace (Third edition). Killology Research Group, LLC

4. Lutz, H. (2017). Life Kinetik: Bewegung macht Hirn (1st ed.). Meyer & Meyer. https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=4981776

5. Reif, J., Spieß, E. & Stadler, P. (2018). Effektiver Umgang mit Stress: Gesundheitsma-nagement im Beruf. Die Wirtschaftspsychologie. Springer. www.springer.com

6. Riedl, H. (2014). Flow-Erleben am Point of Sale: Eine empirische Untersuchung im stationären Textileinzelhandel. Zugl.: Graz, Univ., Diss., 2012. Handel und Internationales Marketing / Retailing and International Marketing. Springer Gabler. https://doi.org/10.1007/978-3-658-04266-0

7. Wikipedia (Hg.). (2020). Yerkes-Dodson-Gesetz. https://de.wikipedia.org/w/in-dex.php?title=Yerkes-Dodson-Gesetz&oldid=205911323

8. Zimbardo, P. G., Gerrig, R. J. & Graf, R. (Hg.). (2007). ps Psychologie. Psychologie (16. Aufl.). Pearson-Studium.

Weitere Informationen:

springermedizin.at

https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=4981776

www.springer.com

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Metadaten
Titel
Stress die Stirn bieten
Publikationsdatum
06.09.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 36/2021

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