79 nach Christus begrub der Ausbruch des Vesuvs Pompeji unter Staub- und Aschemassen. Was für die damaligen Bewohner eine unfassbare Tragödie darstellte und unzählige Menschenleben forderte, sollte sich Jahrhunderte später als Glücksfall für die Archäologie erweisen.
Pompeji und sein Vulkan können Emotionen und innere Spannungen an die Oberfläche spülen, die man bereits in seinem Herzen trägt. Für den Marquis de Sade ist „nirgendwo in Europa die Natur derart schön, derart überwältigend auch, wie im Umkreis dieser Stadt […]. Die Verwerfungen und Vulkane dieser durch und durch verbrecherischen Natur stürzen die Seele in einen Taumel, der sie zu großen Taten und tumultuarischen Leidenschaften antreibt.“ Massimo Osanna zitiert gern und ausführlich aus dem Kanon der Weltliteratur, so wie hier aus „Justine und Juliette“.
Der Autor war bis 2020 Leiter des Archäologischen Parks Pompeji. In seinem neuen Werk „Pompeji“ hat er auch ein Auge auf die Rezeption eines der bedeutendsten Orte der italienischen Geschichte.
Pompeji entstand im siebten vorchristlichen Jahrhundert und ging 79 n. Chr. unter. Immerhin seit 1748 finden auf dem ehemaligen Stadtgebiet offizielle Ausgrabungen statt und bieten einzigartige Einblicke in das Leben der Menschen in der römischen Antike. Es sind Einblicke, die auch immer das verschämte Wegschauen in sich tragen, nicht nur wegen der vielen erotischen Darstellungen. Osanna beschreibt die widerstrebenden Emotionen folgendermaßen: „Fremdheit und Vertrautheit, ein kontinuierliches Schwanken der Wahrnehmung zwischen den gegensätzlichen Polen von Distanz und Nähe: Das war und bleibt die Essenz der Begegnung mit Pompeji. Fremdheit, die aus dem instinktiven Impuls erwächst, unsere Augen von Tod und Zerstörung abzuwenden, oder aus der die Illusion entsteht, dass die Zeit uns besser, weiterentwickelter und zivilisierter gemacht habe; Nähe, die sich aus dieser einzigartigen Gelegenheit ergibt, die uns die Vesuvstadt bietet: in die Materialität des antiken Alltagslebens einzutauchen.“
Von Streetfood bis Schmuck, von der Vorliebe für Gärten, für die Natur, die in die Häuser vordringt, für die Formen des Wohnens, die Goethe als unbedeutend, Le Corbusier hingegen auf seiner Rückreise aus Athen als nachahmenswertes „mediterranes“ Modell empfand, bis hin zu den Laufbrunnen in den Straßen, zur Kanalisation usw., all das bringt Pompeji unserer heutigen Zeit eindrucksvoll nahe: Die tote Stadt wird plötzlich lebendig und zeitgemäß. Man denke nur an die Aktualität der Graffiti.
Haustorschlüssel in der Tasche
Die antike Stadt liegt da und fasziniert uns wie ein Schiffswrack aus alter Zeit. Der Aspekt der durch eine Katastrophe abrupt unterbrochenen täglichen Verrichtungen, von denen die Objekte Zeugnis ablegen, ist eine der Erfahrungen, die jeden, der sich mit Pompeji beschäftigt, seit jeher besonders beeindruckt haben. Osanna dazu: „Was ist faszinierender und zugleich beunruhigender als das Betrachten, Zählen, Nachdenken über „Dinge“, die die Opfer auf ihrer verzweifelten Flucht mit sich nahmen, vom einfachen Hausschlüssel (im Glauben, wieder nach Hause zurückkehren zu können) über Münzen oder Amulette bis hin zu Wertgegenständen, wie sie noch vor dem Untergang der Stadt versteckt wurden.“
Pompeji liefert immer noch Neues, so noch nie Gesehenes. Grandiose archäologische Funde gelangen in den vergangenen Jahren, etwa die Leda mit dem Schwan – auf dem Buchdeckel abgebildet. Das Fresko ziert ein Cubiculum, das ist ein Schlafgemach. In den Schlafzimmern Pompejis sind solche erotischen Darstellungen nichts Außergewöhnliches, denn die Einwohner haben gern Bildmotive ausgewählt, deren Botschaft zur Raumfunktion passte, sagt Osanna.
Die spartanische Königin Leda – der Name bedeutet „Herrin“ – und der Schwan/Zeus gehören zu einem der berühmtesten Mythen der Bildkunst. Leda hebt ihr Gewand an, um den Schwan aufzunehmen, der ihr seinen geschwungenen Hals entgegenstreckt. Die Heroine wirft dem Betrachter einen wissenden Blick zu. Dieser Blick straft die widerspenstige Keuschheit der Königin Lügen, die ihre Knie in scheinbarer Abwehr des Schwans zusammenpresst. Doch der Schwan liegt bereits auf ihr. Eine Komposition aus Gewalt und Leidenschaft, die Osanna beschreibt.
Das, was an Pompeji fesselt, ist die erstmals im Februar 1863 im Giornale die Napoli veröffentlichte „Scoverta pompejana“ („Entdeckung in Pompeji“): Gipsabgüsse von Menschen in der Stunde ihres Todes in einem pyroklastischen Strom. Osanna widmet ihrer Lebensgeschichte, ihrem Erscheinungsbild, ihrem Status, ihrem Gesundheitszustand und den Todesumständen ein Kapitel. Er legt die neuen Erkenntnisse Schicht um Schicht frei, und das liest sich bisweilen spannender als alle Landkrimis zusammen.