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Ärzte Woche

18.05.2021 | Geschichte der Medizin

Geschichte der Medizin

Mehr Krebskranke im Mittelalter als gedacht

verfasst von: Frank Schubert

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Bisherigen Schätzungen zufolge hatte im Mittelalter etwa einer von 100 Menschen Krebs. Tatsächlich könnten es zehn bis 15-mal so viele gewesen sein.

Im Mittelalter litten deutlich mehr Menschen an Krebs als bisher angenommen. Zu diesem Ergebnis kommen Forscher um den Archäologen Piers Mitchell von der University of Cambridge. Die Wissenschaftler haben Skelette von mittelalterlichen Friedhöfen auf Anzeichen von Tumoren untersucht. Aus der ermittelten Fallzahl leiteten sie ab, wie verbreitet Krebserkrankungen damals waren. Die Forscher berichten darüber in der Fachzeitschrift Cancer .

Eine Krebsdiagnose ist schwierig, wenn der Patient vor Jahrhunderten gestorben ist. Denn Tumoren wuchern meist in weichem Körpergewebe, das nach dem Tod rasch zerfällt. Nur wenn das Skelett betroffen ist, lässt sich die Krankheit nach so langer Zeit noch erkennen. Dazu muss der Krebs üblicherweise in die Knochen gestreut, also Knochenmetastasen gebildet haben, die sichtbare Schäden im Gebein hinterlassen.

Spuren im Gebein


Wissenschaftler versuchen schon seit Langem abzuschätzen, wie häufig Tumorleiden früher auftraten, indem sie alte Skelette auf entsprechende Defekte hin untersuchen. In der Regel inspizieren sie die Knochen hierfür von außen. Laut solchen Analysen kamen Krebserkrankungen bei rund einem Prozent der mittelalterlichen Bevölkerung vor.

Mitchell und sein Team haben sich dieser Frage jetzt erneut angenommen und dabei mittelalterliche Skelette nicht bloß äußerlich begutachtet, sondern zusätzlich mit Röntgentechnik durchleuchtet. Zweidimensionale Röntgenaufnahmen und Computertomografie (CT) halfen ihnen, auch solche Knochenschäden zu erkennen, die an der Oberfläche nicht sichtbar sind.

Insgesamt analysierten sie die Überreste von 143 Erwachsenen, die in der Zeit vom sechsten bis zum 16. Jahrhundert gelebt hatten: 96 Männer, 46 Frauen und eine Person unbekannten Geschlechts, die auf sechs verschiedenen Friedhöfen rund um die englische Stadt Cambridge beigesetzt worden waren.

Fünf Individuen und damit 3,5 Prozent der Untersuchten zeigten tumortypische Skelettschäden – etwa Löcher im Gebein, wo einst Metastasen wucherten. Da CT-Verfahren aber nur drei von vier solchen Läsionen aufdecken und überdies nur jede zweite bis dritte tödliche Krebserkrankung in die Knochen streut, muss die wirkliche Zahl der Erkrankten höher gelegen haben. Mitchell und sein Team veranschlagen sie auf neun bis 14 Prozent der untersuchten Personen. Und das ist noch vorsichtig geschätzt, denn die Forscher berücksichtigten lediglich Knochenschäden, bei denen kein Zweifel an der Krebsdiagnose bestand – und sie untersuchten nicht alle Skelettteile, sondern beschränkten sich jeweils auf Oberschenkelknochen, Becken und Wirbelsäule.

Die Ergebnisse des Teams weichen erheblich von bisherigen Schätzungen ab, laut denen etwa einer von 100 Menschen im Mittelalter Krebs hatte. Wenn der Anteil tatsächlich zehn- bis 15-mal so hoch lag, wie die Arbeit vermuten lässt, wäre das bemerkenswert. Denn die Menschen damals konsumierten keinen Tabak – dieser kam erst im 16. Jahrhundert von Amerika nach Europa –, sie waren nicht den Produkten und Schadstoffen der Industriegesellschaft ausgesetzt, sie lebten in der Regel nicht so bewegungsarm wie wir und erreichten auch meist nicht das Lebensalter heutiger Personen. „Bisher ging man davon aus, dass die wichtigsten Gesundheitskomplikationen im Mittelalter Infektionskrankheiten wie Ruhr und Beulenpest waren, zusammen mit der Unterernährung und den Unfallschäden oder den Kriegsverletzungen. Jetzt müssen wir Krebs als bedeutendes Leiden hinzufügen, das die Menschen damals heimsuchte“, sagt Jenna Dittmar von der University of Cambridge, eine der beteiligten Autorinnen.

Zum Vergleich: In heutigen entwickelten Ländern erkrankt jeder zweite bis dritte Mensch im Lauf seines Lebens an Krebs. Zu den wichtigsten Risikofaktoren zählen Tabak- und Alkoholkonsum, ungesunde Ernährung, Übergewicht, Bewegungsmangel, Luftverschmutzung und chronische Infektionen. Zudem wächst die Wahrscheinlichkeit, Krebs zu bekommen, umso stärker an, je älter man wird.

Quelle: Mitchell P et al.; The prevalence of cancer in Britain before industrialization.

Cancer Mai 2021. DOI https://doi.org/ 10.1002/cncr.33615

Der Originalartikel ist erschienen auf www.spektrum.de

Weitere Informationen:

https://doi.org/ 10.1002/cncr.33615

www.spektrum.de

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Metadaten
Titel
Geschichte der Medizin
Mehr Krebskranke im Mittelalter als gedacht
Publikationsdatum
18.05.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 20/2021

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