Auf dem Weg zur prodromalen MS-Therapie

Eine MS-Therapie schon vor dem Beginn der Erkrankung? Ganz unrealistisch ist das nicht. So könnte eine Therapie in der prodromalen Phase den Erkrankungsbeginn verzögern. Auch für die progrediente MS deuten sich neue Optionen an. salomonus_ / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomdell) × Das Dilemma der modernen MS-Therapie lässt sich am Beispiel eines Mannes erzählen, der 1992 im Alter von 39 Jahren an Multipler Sklerose erkrankte und an der Universität in San Francisco (UCSF) behandelt wurde: Er entwickelte acht Schübe im Laufe von acht Jahren, erhielt ab 1998 die damals noch neuen Interferone, erlitt darunter weiter Schübe, die primär das Rückenmark betrafen und von denen er sich immer weniger erholte. Im Jahr 2006 wagte Professor Stephen Hauser an der UCSF einen Therapieversuch mit dem CD20-Antikörper Rituximab – rund zehn Jahre vor der Zulassung solcher Medikamente. Der Mann hatte zu diesem Zeitpunkt einen EDSS-Wert von 3,0. Mit der neuen Behandlung blieb der inzwischen 53-Jährige komplett schubfrei. Er trieb bald wieder Sport, ging viel Mountainbiken, lediglich im linken Bein blieb eine leichte Schwäche. „Wir hatten offenbar das Richtige getan und konnten uns auf die Schulter klopfen“, erläuterte Hauser auf dem gemeinsamen Kongress der europäischen und amerikanischen MS-Gesellschaften ECTRIMS und ACTRIMS in Mailand. Die Freude über den Erfolg hielt jedoch nur drei Jahre, dann verstärkte sich trotz der Rituximab-Behandlung die Beinschwäche, ein paar Jahre später benötigte der Patient erst Stöcke, dann einen Rollstuhl, 2015 war er bettlägerig. Der Wechsel auf den inzwischen zur MS-Therapie zugelassenen CD20-Antikörper Ocrelizumab bremste die Progression nicht spürbar; 2023 starb der Mann schließlich im Alter von 70 Jahren an den Folgen einer sekundär-progredienten MS (SPMS). Auch CD20-Antikörper verhinderten nicht die schleichende schubunabhängige Krankheitsprogression, so Hauser. Die pathologische Untersuchung des Rückenmarks ergab post mortem zwar keinerlei Befall mit CD20-Zellen, dafür ließen sich in dem stark geschädigten Gewebe jede Menge Marker für aktivierte Mikrogliazellen sowie CD8-T-Zellen nachweisen, aber keine CD4-Zellen. Zumindest bei diesem Mann waren inflammatorische B-Zellen in der progredienten Phase wenig bedeutsam. Der Fall passt in das Bild, das sich seit der Einführung hochwirksamer krankheitsmodifizierender Therapien (DMT) ergibt. So konnte man in Studien zwar zeigen, dass eine Unterdrückung von Schüben und entzündlichen Prozessen mit solchen Mitteln den Übergang in eine SPMS unterdrückt und den Krankheitsverlauf im Vergleich zu einem späteren Beginn parallelverschiebt – wer sehr früh damit beginnt, erreicht viel später eine EDSS-Verschlechterung. Komplett verhindern lässt sich die schleichende und schubunabhängige Progression aber nicht, auch beginnt diese nicht erst mit einer SPMS, sondern ist aktuellen Erkenntnissen zufolge wohl schon von Beginn an mit an Bord. Hauser setzt hier vor allem auf Hemmer der Bruton-Tyrosinkinase (BTK), die derzeit gegen MS entwickelt werden und auch die schleichende Progression bremsen sollen, sowie Therapien, die T-Zellen angehen. Nichtsdestotrotz sei es immens wichtig, so der Neurologe, möglichst früh mit den vorhandenen hochwirksamen DMT zu beginnen – denn je mehr Beeinträchtigungen jemand angehäuft habe, umso stärker sei die „silent progression“. Suche nach geeigneten Biomarkern Vielleicht könnte es sich sogar lohnen, eine Therapie in der prodromalen Phase zu wagen, um den Ausbruch einer klinischen MS zu verhindern oder zumindest zu verzögern, erläuterte der Neurologe. Allerdings müsse man dafür erst einmal geeignete Biomarker identifizieren, die eine MS zuverlässig ankündigen. Von der Genetik dürfe man dabei nicht viel erwarten, bislang seien kaum einzelne Gene mit einem deutlich erhöhten MS-Risiko assoziiert, wenngleich vor kurzem ein Genlokus (DYSF–ZNF638) entdeckt worden ist, welcher das Progressionsrisiko bei einer MS erheblich erhöht, offenbar indem eine bestimmte Variante die Resilienz des Gehirns gegen MS-bedingte Schäden schwächt. Mehr verspricht sich Hauser vom Nachweis früher Autoimmunantikörper, wie das bereits bei einigen anderen Erkrankungen möglich ist, etwa bei systemischem Lupus erythematodes (SLE), Typ-1-Diabetes oder rheumatoider Arthritis (RA). Hier zeigt sich ein markantes Muster: Zunächst treten wenig krankheitsrelevante Antikörper auf, etwa ANA bei SLE oder ACPA bei RA – Hauser spricht vom Stadium einer benignen Autoimmunität. Später diversifiziert sich die Autoimmunantwort und es kommt mehr und mehr zur Bildung von pathogenen Autoantikörpern, dem Stadium der pathogenen Autoimmunität, und schließlich zur klinisch manifesten Erkrankung. Greift man möglichst früh in diese Kaskade ein, so die Hoffnung, lässt sich der Ausbruch der Erkrankung verzögern oder verhindern. Hauser verwies dazu auf Erfolge mit dem CD3-Antikörper Teplizumab, der den Ausbruch eines Typ-1-Diabetes bei Personen mit hohem Risiko rund zwei Jahre hinausschiebt – in den USA ist das Medikament bereits zugelassen. In einer kleineren Studie bei Personen mit pathologischen RA-Autoantikörpern ließ sich durch Rituximab auch der Beginn einer klinischen RA um etwa zwei Jahre verzögern. Hauser vermutet, dass hochwirksame DMT auch den Beginn einer MS deutlich bremsen können. Antikörper gegen EBV-Proteinsequenz Die entscheidende Frage ist jedoch: Wer befindet sich im MS-Prodrom? Für eine Antwort fehlen hier schlicht geeignete Biomarker. Die prodromale Phase manifestiert sich bei MS allenfalls in einem zufällig entdeckten radiologisch isolierten Syndrom (RIS), das die Endstrecke der pathologischen Autoimmunität vor dem Beginn der klinischen MS darstellen dürfte. Frühe spezifische Autoimmunantikörper fehlen jedoch. Immerhin tut sich hier mittlerweile etwas: Hauser verwies auf eine Analyse von eingefrorenen Blutproben späterer MS-Patienten. In diesen ließ sich über ein aufwändiges Verfahren ein Cluster von Antikörpern mit einer spezifischen Signatur nachweisen. Die Antikörper richten sich gegen eine Proteinsequenz, die in Epstein-Barr-Viren und einigen anderen Pathogenen vorkommt, aber auch in einer großen Zahl von Humanproteinen. Das Cluster ist sehr spezifisch – es tritt praktisch nur bei späteren MS-Kranken auf, aber nicht bei Personen mit verwandten neurologischen Krankheiten, etwa NMOSD. Allerdings ließ sich das Cluster nur bei jeder achten Person mit MS vor dem Ausbruch nachweisen. Bessere Nachweisverfahren könnten die Sensitivität aber noch erhöhen, vermutet der Neurologe. In der Analyse waren die Blutproben im Mittel fünf Jahre vor dem klinischen MS-Beginn eingefroren worden und gingen dann bereits mit erhöhten Werten des Neurodegenerationsmarkers Leichtkettenneurofilament (NFL) einher, was dafür spricht, dass sich solche Personen schon in der Phase der pathologischen Autoimmunität befinden, so Hauser. Offen sei, wann im Verlauf die Signatur zum ersten Mal auftrete. Interessant könnte der Nachweis einer solchen Antikörper-Signatur etwa für Menschen mit MS-Kranken in der Familie und einem auffälligen genetischen Risikoscore sein, erläuterte der Neurologe. Allerdings stellen solche Menschen nur den geringsten Teil der MS-Kranken. Hier wären also auch neue Screening-Strategien gefragt. Quelle: springermedizin.de

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