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Ärzte Woche

28.08.2023 | Kinderpsychiatrie Jugendpsychiatrie Psychotherapie

Kränkung, die in Gewalt umschlägt

verfasst von: Mit Anja Steingen hat Sonja Streit gesprochen

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Junge Menschen, die Gewalt gegen andere ausüben, sehen diese häufig als Mittel zum Selbstschutz. Dabei muss die existenzielle Bedrohung, die sie empfinden, keine reale sein, wie die Diplom-Psychologin Anja Steingen erklärt.

Ärzte Woche: Sie beschäftigen sich beruflich mit Mädchengewalt. Inwieweit unterscheidet sich diese von jener, die Burschen verüben, und warum werden Mädchen zu Gewalttäterinnen?

Anja Steingen: Mädchen agieren seltener offen körperlich gewalttätig als Jungen bzw. Männer, weil sie für dieses Verhalten sozial weniger verstärkt werden. Während Burschen bis heute zugestanden wird, sich zu raufen, und dies oft als Teil ihrer normalen Entwicklung verstanden wird, wird das gleiche Verhalten bei Mädchen seltener toleriert und früher sanktioniert. So lernen Mädchen oft schon früh, Aggressionen indirekter oder auch verdeckter auszudrücken als Jungen. Während der Schwerpunkt bei Jungengewalt klar auf körperlicher Gewalt liegt, dominieren bei Mädchen vor allem psychische und soziale Gewalt mit dem Ziel das Opfer sozial zu isolieren, bloßzustellen und abzuwerten.

Gewalttätige Kinder und Jugendliche, auch Mädchen, weisen deutliche Defizite in ihrer Persönlichkeits-, emotionalen und sozialen Entwicklung auf. Hiervon betroffen sind u. a. die Entwicklung von Selbstwert und Selbstwirksamkeit, Mitgefühl und Moral sowie die Verhaltenssteuerung. Die Ursachen hierfür sind komplex, vor allem aber in schädigenden Lebensbedingungen wie Gewalt, Missbrauch und Vernachlässigung durch das enge soziale Umfeld zu suchen.

Ärzte Woche: Wer ist besonders gefährdet, zum Gewalttäter zu werden?

Steingen: Grundsätzlich haben Kinder, die komplexen traumatischen Erfahrungen ausgesetzt sind, ein erhöhtes Risiko dafür, gewalttätig zu werden. Aus der Forschung ist bekannt, dass dieses Risiko steigt, je früher und dauerhafter diese schädigenden Einflüsse wirken und je komplexer sie sind.

Das Risiko für Kinder, unabhängig vom Geschlecht, steigt also, wenn sie schon früh im Leben körperlicher oder sexueller Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung ausgesetzt sind oder Zeugen von Partnerschaftsgewalt der Eltern werden. Je mehr dieser Faktoren zusammenwirken, desto größer ist das Risiko für Kriminalität. Hier zeigt sich die besondere Bedeutung früher Hilfen, von Beratungsangeboten und der Jugendhilfe.

Das durch diese Entwicklungsdefizite bedingte schwache Selbstwert- und Selbstwirksamkeitserleben begünstigt, dass diese Kinder und Jugendlichen sich sehr schnell durch vermeintliche Kleinigkeiten in ihrem Selbstwert bedroht sehen. Diese Bedrohung können sie als so existenzielle Kränkung erleben, dass ihnen jedes Mittel recht ist, um sie zu beenden. Gewalt erscheint ihnen oft als die einzige Möglichkeit, Kontrolle herzustellen und Gefahren für sich abzuwenden – in der Regel haben sie es selbst so erlebt. Betonen möchte ich, dass es sich hier keineswegs um reale Gefahren handeln muss, sondern es um die subjektive Wahrnehmung der Betroffenen geht. Zum Beispiel kann sich ein Mädchen, das seinen Selbstwert vollständig darauf gründet, von ihrem Freund geliebt zu werden, existenziell von einem anderen Mädchen bedroht fühlen, wenn dieses ihren Freund angelächelt hat oder der Freund sich vielleicht zu dem anderen Mädchen hingezogen fühlt.

Ärzte Woche: Welche Verhaltensauffälligkeiten bei jungen Menschen sollten Eltern und Hausärzte hellhörig werden und darauf schließen lassen, dass ein Kind oder Jugendlicher Hilfe benötigt?

Steingen: Neben der körperlichen und geistigen Entwicklung sollte der Fokus auch auf die Persönlichkeits-, emotionale und soziale Entwicklung gelegt werden. Zeigen sich hier altersuntypische Auffälligkeiten, müssen die Zusammenhänge und Hintergründe eruiert werden, um die Kinder angemessen zu unterstützen und zu fördern. Hierfür muss unbedingt auch das familiäre und enge soziale Umfeld der Kinder betrachtet werden.

Sehr häufig bedeutet Gewaltprävention die Prävention bzw. Beendigung von Gewalt – auch Partnerschaftsgewalt der Eltern, Missbrauch und Vernachlässigung. Diese Aufgaben erfordern die besondere Sensibilität der Fachkräfte und Bereitschaft bzw. Fähigkeit zum prozesshaften und niedrigschwelligen Arbeiten. Gewaltprävention in diesem Sinne kann zudem nur gelingen, wenn sie im Netzwerk erfolgt, d. h. medizinische, soziale und psychologische Hilfen und gegebenenfalls juristische Maßnahmen eng aufeinander abgestimmt und gemeinsam erfolgen.

Ärzte Woche: Wie sollten aus Ihrer Sicht als Expertin sehr junge, noch nicht strafmündige Menschen, die ein Tötungsdelikt begangen haben, adäquat behandelt werden?

Steingen: Diese Frage lässt sich nicht pauschal beantworten, da es vom Einzelfall abhängig ist, welche Interventionen angemessen sind. In diesem Zusammenhang ist die Zusammenarbeit verschiedener Akteure von besonderer Bedeutung.

Nicht zielführend ist aber die jetzt oft geforderte Herabsetzung der Strafmündigkeit, denn gerade diese Kinder haben, wie oben bereits beschrieben, erhebliche Entwicklungsdefizite in den Bereichen, die für die Strafmündigkeit von Bedeutung sind.

Ärzte Woche: Fälle wie der Mord an einem Arztehepaar in Mistelbach, zu dem die 16-jährige Tochter ihren Freund aus Hass auf die Eltern angestiftet hat oder der Mord an einem jungen Mädchen in Freudenberg, verübt von zwei Kindern – wie erklären sich solche Taten bzw. wie kann es dazu kommen, dass so junge Menschen zu Täterinnen werden?

Steingen: Für den Einzelfall kann ich hier keine Aussagen treffen und verweise deshalb auf meine Antwort, warum Kinder und Jugendliche gewalttätig werden.

Grundsätzlich ist es aber auch so, dass sich antisoziale Neigungen schon im Kindes- und Jugendalter in der Persönlichkeit zeigen und mitursächlich für derart brutale Taten sein können. Aber auch diese Neigungen sind nur zu einem Teil genetisch bedingt und werden ganz erheblich durch die oben beschriebenen, komplex traumatischen Lebensumstände gefördert.

Ärzte Woche: Empfinden Mädchen ihrer Erfahrung nach Reue nach Gewalttaten bzw. realisieren sie vollständig, was sie getan haben?

Steingen : Echte Reue empfinden gewaltausübende Kinder und Jugendliche in aller Regel nach ihren Taten nicht. Das hängt mit den oben beschriebenen Entwicklungsdefiziten zusammen. Typischerweise können diese Kinder und Jugendlichen nur ihre eigene Perspektive sehen und nicht die anderer Menschen. Die eigene Tat erscheint ihnen gerechtfertigt und legitim. Nicht selten erwarten sie auch von ihrem Umfeld Verständnis für ihr Handeln, welches ihnen oft alternativlos erscheint. Sie sind davon überzeugt, anderen erklären zu können, warum sie so handeln mussten und dass andere Menschen in ihrer Situation genauso gehandelt hätten.

Durch gesellschaftliche Reaktionen, z. B. Justiz, Jugendhilfe, Medien, kommt es dann aber oft zu einem großen Erschrecken und unter Umständen auch zu einem Bedauern der Taten. Dabei handelt es sich aber eher nicht um ein echtes Erfassen der Tat in ihrem gesamten schrecklichen Ausmaß oder gar Empathie mit den Opfern, sondern um die Realisation, dass die Tat nun negative Konsequenzen für die Täterin selbst hat. Hinzu kommt die zusätzliche Kränkung, nicht wie erwartet für die Tatausübung verstanden zu werden, sondern vielmehr abgelehnt und sanktioniert zu werden. Die emotionalen Reaktionen darauf und das Bedauern der Tat daraufhin können auf den ersten Blick nach echter Reue aussehen. Die Tat in ihrem ganzen Ausmaß zu erfassen, ist oft ein jahrelanger Prozess therapeutischer und pädagogischer Arbeit.


Anja Steingen ist Diplom-Psychologin, freie Referentin für Fachvorträge und Autorin.

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Publikationsdatum
28.08.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 36/2023

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