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Ärzte Woche

28.08.2023 | Juristische Aspekte, forensische Psychiatrie

Kinder, die Kinder umbringen

verfasst von: Sonja Streit

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Eltern werden sich kaum vorstellen können, dass ihre Kinder jemanden töten könnten. Und doch kommt es hin zu Tötungsdelikten durch sehr junge Menschen. Das Wieso bleibt oft im Dunkeln.

Wer in Österreich einen anderen tötet, ist laut § 75 StGB mit Freiheitsentzug von zehn bis zu zwanzig Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht. Auch in Deutschland fasst ein Mörder nach § 211 StGB eine bis zu lebenslange Haftstrafe aus. Doch wie ist das bei Kindern, die in beiden Ländern erst mit 14 strafmündig sind? Demnach ist das Strafrecht auch auf die beiden Teenager aus dem rheinland-pfälzischen Freudenberg, die im vergangenen März eine Freundin erstachen, nicht anwendbar. Aufgrund des Alters der Mädchen zur Tatzeit, 12 und 13, darf sich die Polizei auch nicht zum Motiv äußern.

Im Falle sehr junger Täter muss man bedenken, dass diese noch nicht voll entwickelt sind und bei Weitem nicht den Reifegrad eines Erwachsenen besitzen, wie der Psychiater Prof. Dr. Thomas Stompe von der Medizinischen Universität Wien erläutert: „Es gibt verschiedene Reifungsschritte, weshalb es nicht ganz sinnlos ist, dass junge Erwachsene bis zum 24. Lebensjahr milder bestraft werden. Die Reifungsschritte haben heutzutage etwas Auseinanderfallendes, da die körperliche Reifung teilweise früher stattfindet, während sich die kognitive und emotionale Reifung eher nach hinten verschoben hat. Die Kinder bleiben, verglichen mit früheren Zeiten, meist länger in einem Zustand des nicht Autonomen.“ Strafmündigkeit setzt voraus, dass der Gesetzgeber einem Menschen zutraut, die Folgen seines Handelns voll umfänglich zu erfassen.

Eine Tat, die alle betrifft

1993 töteten zwei 10-jährige einen Zweijährigen in Großbritannien durch rohe Gewalt, nachdem sie ihn aus einem Einkaufszentrum entführt hatten. In Bayern wurde Anfang 2022 ein Ärzteehepaar vom Freund der damals 16-jährigen Tochter erstochen, nachdem diese ihn aus Hass auf ihre Eltern dazu angestiftet hatte und Anfang 2023 erstachen eine 12-jährige und eine 13-Jährige ein 12-jähriges Mädchen im deutschen Freudenberg, was weltweit für Entsetzen sorgte. All diese Fälle machen fassungslos, sind aber glücklicherweise recht selten. Das bestätigt auch Stompe: „Solche Taten, wie jene Anfang des Jahres, geschehen nicht so häufig. Verschiedene Konstellationen können zu derart schwerwiegenden Taten führen. Lag es an Vernachlässigung, an nicht ausreichend vermittelten Wertvorstellungen, unterdrückten Aggressionen? Es kommt immer auf die Persönlichkeitsstruktur der Kinder an und ob eine beginnende psychopathische bzw. antisoziale Persönlichkeit vorliegt und die Betroffenen daher wenig empathiefähig sind. Je nachdem, welche Problematiken vorhanden sind, ist entsprechend therapeutisch anzusetzen.“

Für Eltern, deren Kind ein Tötungsdelikt begangen hat, sowie für das gesamte nähere Umfeld, bricht zumeist eine Welt zusammen. Sie werden sich fragen, wie es so weit kommen konnte, was sie falsch gemacht haben oder ob sie es hätten verhindern können. Laut Stompe spielt aber das Alter eine entscheidende Rolle: „Die Gehirnanteile, die Aggressionen oder Gefühle regulieren und hemmen, sind erst relativ spät komplett ausgereift.“ Das sei der Grund, warum man junge Erwachsene nicht mit der gleichen Strenge beurteile wie ältere Erwachsene, da eine ausreichende Entwicklung der Gehirnanteile, konkret des Frontallappens, erst ungefähr mit 23 oder 24 abgeschlossen sei. „Innerhalb dieser Zeit können Kinder und Jugendliche natürlich auch ein unterschiedliches kognitives Reifungsalter bezüglich des moralischen Urteils haben. Das heißt, das chronologische Alter muss jetzt nicht zwingend mit dem kognitiv-emotionalen Reifungsalter oder mit der Reifung des moralischen Selbst und des moralischen Urteils übereinstimmen. Gerade hier können psychische Störungen eine Rolle spielen, aber da können sich auch Vernachlässigung oder eigene Gewalterfahrungen in der Kindheit eine Rolle spielen. Insbesondere psychische Störungen können auch dann zu solch einer Tat führen, wenn das Elternhaus stabil und normal ist.“

Doch was sollte man tun, wenn man von einem Moment auf den anderen Vater, Mutter, Bezugsperson eines Kindes ist, das jemanden getötet hat? Man muss schließlich nicht nur mit dieser unfassbaren Realität zurechtkommen, sondern wird womöglich von der Presse belagert, von Nachbarn argwöhnisch betrachtet und von anderen Menschen verurteilt, da eine solche Tat immer recht schnell publik wird. Prof. Stompe weiß: „Therapie des Täters oder der Täterin und ihrer Eltern ist in jedem Fall erforderlich. Die Frage, ob diese im Elternhaus erfolgen sollte oder nicht, ist in erster Linie eine systemische. Wie positionieren sich die Eltern, wie können sie das verarbeiten, was bedeutet das innerhalb der Nachbarschaft? Meist muss eine Familie übersiedeln und irgendwo neu anfangen, da alle stigmatisiert sind.“

Ausmaß kaum erfassbar

Menschen aus dem Umfeld junger Täterinnen und Täter werden sich möglicherweise fragen, ob sie Alarmzeichen übersehen haben und frühzeitig einer Gewalteskalation hätten entgegenwirken können. Laut Stompe kann es durchaus zu Auffälligkeiten kommen, dies sei aber nicht immer der Fall. „Wenn ein Kind sich in der Schule anderen gegenüber aggressiv verhält, ist das ein Hinweis auf ein Problem, das gelöst werden muss. Der schulpsychologische Dienst und die Lehrer sollten eng zusammenarbeiten, um der Person frühzeitig Hilfe zukommen zu lassen. Allerdings heißt aggressives Verhalten nicht automatisch, dass es irgendwann zu einem Tötungsdelikt kommt. Aber es ist durchaus ein Hilfeschrei, der ernst genommen werden sollte, auch von Eltern.“ Es gebe allerdings auch Fälle, in denen es im Vorfeld keinerlei Anzeichen gab. Oftmals hätten Täter Gewaltvideos konsumiert oder Egoshooter gespielt, aber auch das ließe sich nicht pauschalisieren. „Man muss da vorsichtig sein, denn nicht jeder wird automatisch zum Täter, wenn er sich in seiner Freizeit mit solchen Dingen beschäftigt. Viele Männer konsumieren Gewaltpornografie, werden dadurch aber nicht zum Vergewaltiger.“

Bei Tätergruppen gibt es etwa Unterschiede zwischen den Menschen, die ein Tötungsdelikt initiieren und den Mitläufern. Stompe weiß, dass die Initiatoren solcher Gewaltakte ein hohes Maß an Empathiemangel und eine große Selbstbezogenheit aufweisen, während die Mitläufer aufgrund einer dependenten, unreifen Persönlichkeit dem Rädelsführer gefallen möchten. Es gebe sicher Fälle, in denen alle Beteiligten etwas Antisoziales, Empathieloses und Selbstbezogenes hätten, aber oftmals sei – ähnlich wie bei Mobbing bzw. Bullying – jemand auszumachen, der die treibende Kraft hinter allem darstelle.

Es ist nur schwer vorstellbar, wie sich Menschen nach einer solchen Tat fühlen. Während für diejenigen, die dem Opfer nahestanden, die Welt stehenbleibt, machen sehr junge Täterinnen und Täter meist erst einmal ganz normal weiter, bis herauskommt, was tatsächlich passiert ist. Manche schieben ihre Tat auf andere, während einige davon überzeugt sind, dass der oder die Verstorbene den Tod verdient hat. Wer keine Empathiefähigkeit besitzt, kann das volle Ausmaß keinesfalls erfassen, seine Schuld eingestehen oder Mitleid empfinden. Deshalb ist es, so der Experte, sehr wichtig, alle Beteiligten psychotherapeutisch zu begleiten. Jene, die empathiefähig seien, liefen Gefahr, später starke Schuldgefühle zu entwickeln, depressiv zu werden oder sich selbst zu verletzen. Bei den Rädelsführern müsse man intervenieren, damit diese nicht weiter emotional abstumpfen und eine stabile antisoziale Haltung entwickeln, zumal sehr junge Täterinnen und Täter ja irgendwann einmal wieder Teil der Gesellschaft werden und deshalb reintegriert werden müssen. Die Reintegration sei die größte Hürde, die man oftmals im bisher vertrauten sozialen Umfeld nicht nehmen könne, da es nach einer solchen Tat keine Anonymität mehr gebe.

Was bringt die Jugendstrafe?

Es ist durchaus verständlich, dass Menschen sehr emotional auf solche Ereignisse reagieren und in Frage stellen, ob die Strafmündigkeit mit 14 Jahren nicht zu hoch angesetzt ist. Aus Sicht des Psychiaters Stompe ist es aber sinnvoll, dass Kinder und Jugendliche bis zu diesem Zeitpunkt strafunmündig sind. „Es ist doch fraglich, ob bei sehr jungen Kindern der Aufenthalt in einer Jugendstrafanstalt zu einer deutlichen Besserung führen kann. Ich glaube, die Fragen nach der Alterssenkung haben eher mit dem Strafbedürfnis innerhalb einer Gesellschaft zu tun. Das ist durchaus nachvollziehbar, denn nach einer solchen Tat straffrei auszugehen, scheint falsch. Bei Kindern und Jugendlichen ist die psychosoziale Rehabilitation das Um und Auf. Sie müssen in ein spezielles Setting integrieren werden, in dem sie sich intensiv mit ihrer Tat auseinandersetzen müssen. Wegsperren allein ist bei sehr jungen Tätern weder sinnvoll noch zielführend.“


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Metadaten
Publikationsdatum
28.08.2023
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 36/2023

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