Anamnese
Ein 10 Jahre alter bislang gesunder Knabe wird in den Nachtstunden mit dem klinischen Bild einer Dysarthrie und Aphasie, Hemiplegie rechts und zentraler Fazialisparese rechts mit dem Rettungsdienst in die pädiatrische Notfallambulanz eines Universitätsklinikums gebracht. Der Patient wird eine Stunde zuvor von Familienmitgliedern zuhause auf dem Boden liegend vorgefunden. Laut Angaben der Begleitperson hat der Patient keine Vorerkrankungen und keine Vormedikation. Alle Geschwister (eine Schwester, zwei Brüder im Alter von 15 bis 30 Jahren) seien ebenfalls gesund, die Familienanamnese für kardiovaskuläre, neurologische oder rheumatologische Erkrankungen im Kindes- bzw. jungen Erwachsenenalter ist unauffällig. Ein Impfstatus besteht anamnestisch nach den Empfehlungen des Nationalen Impfgremiums (NIG).
Diagnostik
Klinische Untersuchung
Klinische Untersuchung: Bei Aufnahme ist der Patient wach, kooperativ und versteht Aufforderungen. Eine geordnete Konversation ist bei klinischem Bild einer Dysarthrie und Aphasie nicht möglich. Es imponiert eine zentrale Fazialisparese rechts sowie eine schlaffe Hemiparese der rechten oberen und unteren Extremität, jeweils mit einem Kraftgrad 2/5. Stehen und Gehen ist nicht möglich. Die Sensibilität ist allseits intakt. Der Babinski-Reflex ist rechts positiv. Der National Institute of Health Stroke Score [1] beträgt bei Aufnahme 15.
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Labor
Im initialen Labor zeigen sich Elektrolyte, C‑reaktives Protein, Blutglukose und Blutbild inklusive Differenzialblutbild im Normbereich. Das von-Willebrand-Antigen ist erhöht. SARS-CoV-2-Antigen und -Antikörper können nicht nachgewiesen werden. Eine durchgeführte Liquorpunktion zeigt einen klaren Liquor ohne Pleozytose. Weitere Untersuchungen (Liquorkultur und -PCR) bezüglich neurotroper Erreger zeigen ebenso unauffällige Befunde. Die Diagnostik in Richtung einer Stoffwechselerkrankung als mögliche differenzialdiagnostische Ursache erbringt weder im Plasma noch im Harn einen auffälligen Befund. Die molekulargenetische Analyse bezüglich multisystemischer Dysfunktion der glatten Muskeln (ACTA2), Adenosin-Desaminase-2-Mangel (ADA2), einer Mutation im COL4A1- oder COL4A2-Gen ist ebenfalls unauffällig.
Bildgebung
In der durchgeführten kranialen MRT (cMRT) zeigt sich eine nichtdemarkierte Diffusionsstörung im Mediastromgebiet links, genauer im Bereich der Basalganglien links mit Beteiligung der Inselrinde, ohne Nachweis eines Gefäßverschlusses oder -dissektion (Abb. 1 und 2).
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Diagnose: Kindlicher Schlaganfall auf Grundlage einer Vaskulitis der Arteria cerebri media links
Therapie und Verlauf
Es wird die Diagnose eines kindlichen Schlaganfalls gestellt; weitere Differentialdiagnosen sind in Tab. 1 angeführt. Eine in der cMRT gezeigte Diffusionsrestriktion im Mediaversorgungsgebiet links erhärtet die Diagnose. Es wird im intensivmedizinischen Setting eine systemische Lysetherapie mit Alteplase (Actilyse®) in der Dosierung 0,9 mg/kg innerhalb eines Zeitfensters von 02:55 h nach Symptombeginn durchgeführt. In stabilem Allgemeinzustand kann der Patient in weiterer Folge am vierten Tag mit schlaffer Hemiparese und zentraler Fazialisparese rechts unter laufender kontinuierlicher Heparintherapie in der Dosierung 15 IE/kg/h mit einer Ziel-PTT im Normbereich zur Vorbeugung eines Rebound-Phänomens nach erfolgter Lysetherapie auf die Normalstation verlegt werden. Die cMRT am 7. Tag nach Symptombeginn mit Gefäßdarstellung zeigt Kaliberirregularitäten teilweise mit Stenosierungen im Bereich der distalen Arteria carotis interna, im A1-Segment der A. cerebri anterior sowie im M1-Segment der A. cerebri media links. Die rechts- und einseitige klinische Präsentation des Schlaganfalls, die fehlenden Entzündungszeichen, ein erhöhtes von-Willebrand-Antigen als Zeichen der Endothelaktivierung, die unilaterale Gefäßmanifestation sowie die Morphologie der Bildgebung sind somit passend zum Bild einer primären ZNS-Vaskulitis des Kindesalters („childhood primary angiitis of the central nervous system“, cPACNS). Es liegt der Subtyp einer idiopathischen Angiographie-positiven nichtprogredienten Großgefäßvaskulitis vor [2‐4]. Therapeutisch erhält der Patient in weiterer Folge eine Methylprednisolon-Stoßtherapie in der Dosierung 20 mg/kg/Tag für 3 Tage mit anschließender oraler Therapie mit Prednisolon in der Dosierung 2 mg/kg/Tag, welche über 10 Wochen ausgeschlichen wird. Zudem werden eine Thrombozytenaggregationshemmung mit Acetylsalicylsäure 200 mg für 2 Jahre sowie eine Antikoagulation mit Enoxaparin 20 mg für 3 Monate veranlasst [5, 6]. Der Patient kann zur weiterführenden Rehabilitation an ein pädiatrisches Reha-Zentrum verlegt werden.
Tab. 1
Differenzialdiagnosen Halbseitensymptomatik im Kindesalter [7]
Intrakranielle Blutung |
Ischämischer Insult |
Meningitis bzw. Enzephalitis |
ADEM |
ZNS Neubildung |
Metabolisch |
Migräne bzw. Vasospasmus |
Hemiplegische Migräne |
Konvulsiv bzw. postiktal |
Nichtorganisch |
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Fazit für die Praxis
Eine akute Hemiparese im Kindes- oder Jugendalter ist primär als kindlicher Schlaganfall zu interpretieren. Sie ist stets als Notfallsituation anzusehen und als solche nach Stabilisierung der Vitalparameter so rasch als möglich mittels Bildgebung abzuklären. Eine Auflistung der gängigen Differenzialdiagnosen ist Tab. 1 zu entnehmen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert einen Schlaganfall als „plötzlich entwickelnde Zeichen von fokaler bzw. globaler Beeinträchtigung der Hirnfunktion länger als 24 h anhaltend oder zum Tode führend mit keinem anderen offensichtlichen Grund als des vaskulären Ausgangspunkts“. Der kindliche Schlaganfall ist eine mit einer Inzidenz von 1,2 bis 13 Fällen pro 100.000 Kindern eine seltene Erkrankung. Im Vordergrund steht neben dem raschen Erkennen der Notfallsituation, einer ausführlichen und rationalen begründeten Diagnostik (klinisch-neurologische Untersuchung, laborchemische Analyse, Bildgebung) vor allem eine kausale Akuttherapie. Die weiterführende Therapie besteht zum einen in der Therapie der zugrundeliegenden Pathologie, zum anderen in einer konsequenten Sekundärprävention.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
J. Margreitter, W. Mitterer, T. Janjic, W. Streif, T. Müller, E. Heinz-Erian, J. Krösslhuber, M. Baumann und J. Brunner geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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