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Erschienen in: Schmerz Nachrichten 1/2024

Open Access 01.02.2024 | Freies Thema

Halswirbelsäule und Kopfgelenke

Halswirbelsäule und Kopfgelenke

Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil VII

verfasst von: Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner

Erschienen in: Schmerz Nachrichten | Ausgabe 1/2024

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Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.

Diagnostik mittels Computertomographie

Nachdem keine knöchernen Defekte und Dislokationen identifiziert werden konnten und die Beschwerden über die 3-Monatsgrenze hinaus weiterbestehen, empfehle ich neben der strukturellen Abklärung der Halswirbelsäule und des Kopfüberganges mittels MRT, bei fehlenden pathologischen Befunden eine weitere Abklärung mit einer Funktions-CT-Untersuchung der Halswirbelsäule. Mit dieser Untersuchung wird nach einem Abweichen zwischen Dens axis und der Massa lateralis des Atlas gefahndet. Durchführung der Computertomographie mit leicht nach vorn/oben angehobenem Kopf, sodass die Halswirbelsäule relativ gerade ist und der Kopf nicht nach hinten geneigt oder überstreckt wird. Gleiches gilt für eine zu starke Vorneigung des Kopfes, was letztendlich auch die gewünschte Rotation blockiert. Die Bewegungseinschränkung der nach hinten überstreckten Halswirbelsäule und des nach hinten geneigten Kopfes auf ein Maß von maximal 25° wird obere Verriegelung genannt. Die Bewegungseinschränkung eines stark nach vorne geneigten Kopfes bzw. einer stark gebeugten Halswirbelsäule wird vordere Verriegelung genannt.
Ihnen fällt jetzt sicher ein, dass nur bei den wenigsten Menschen die Kopfhaltung bei einem Unfall in der Nullposition in der Neutral Null Methode stattfinden wird. Geschieht etwas unvorhergesehenes werden wir sofort eine Analyse der Vorgänge anstreben und dabei den Kopf in die vermeintliche Richtung der Krafteinwirkung drehen, um zu sehen was los ist. Dann passiert, was nicht mehr beeinflusst werden kann. Ein vielfaches unserer muskulären Kraft wirkt auf uns ein und der Kopf wird hin und her geschleudert. Das maximale Bewegungsausmaß der Segmente wird überschritten und die Kraft der Bänder und Kapseln verhindert eine Diskoligamentäre Zerreissung. Da es sich bei diesen Strukturen um keine Gummibänder handelt, kommt es zu keiner Festigkeit in diesen kollagenen Strukturen. Mikrorisse und kleinste Einblutungen führen zu einem funktionellen Defizit im Gewebe mit resultierender Überbelastung bei regulärer oder normaler Belastung mit muskulärer Kompensation in Form einer Steilstellung der Halswirbelsäule. Das durchschnittliche Gewicht eines Kopfes von 4 kg stellt bei unkontrollierten Bewegungen eine hohe Belastung für die Halswirbelsäule dar. Betrachten Sie die Daten für Belastungen der Halswirbelsäule durch eine Vorneigung des Kopfes: Bei 0° 4–5 kg, bei 15° Vorneigung ca. 12 kg, bei 30° Vorneigung 18 kg, bei 45° Vorneigung 22 kg und bei 60° Vorneigung haben Sie eine Belastung für die Halswirbelsäule von 27 kg, was den Dauer-Mobiltelefonnutzer:innen entspricht und neben der Belastung für die Halswirbelsäule auch eine Belastung im Beckengürtelbereich und hier vor allem im Iliosakralgelenk mit sich bringt. Die angegebenen Belastungen entstehen aus einer willkürlichen Bewegung und bei einem Sturz, beim Skifahren, beim Heckaufprall im Auto oder Seitaufprall mit Schleudern oder Überschlag des Fahrzeuges entsteht eine Vielfaches davon, was sich vor allem in der elastischen Aufhängung und Führung durch Bänder, Sehnen, Muskeln auswirkt und zuerst diese schädigt. Bänder und Sehnen sind keine Gummibänder, die sich nach Belastung wieder in ihre ursprüngliche Position zurückziehen, sondern es entstehen Risse, Einblutungen (Mikro-Einblutungen), die sich in Form von Ödemen oder Formveränderungen in der MRT, später in Form von Verkalkungen in der hochauflösenden MRT oder CT der Kopfgelenke darstellen lassen. Eines ist sicher, bevor es zu knöchernen Verletzungen kommt, treten Verletzungen in dem nicht so stabilen Gewebe auf mit all ihren Auswirkungen auf die Beweglichkeit und Stabilität der Kopfgelenke – nebst Einfluss auf die sagittale Balance unserer gesamten Wirbelsäule. Schmerzen im Nacken, Hinterhaupt, ausstrahlend über den Kopf bis in die Schläfen oder bis in die Stirn oder Augen sind regelhaft.
Die fehlenden Publikationen unserer unfallchirurgischen, orthopädischen und neurochirurgischen Vorfahren fallen der gegenwärtigen Medizin im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf. Versicherungen stellen sich gerne hinter Kolleg:innen, die sagen: „… ist ja nichts gebrochen, dann kann es nicht gravierend sein“, was definitiv nicht stimmt. Aber die einschlägige Literatur in der medizinischen Begutachtung hüllt sich in der Beurteilung der Kopfgelenke und deren Verletzungen in nichtkonkrete Aussagen und beruft sich in der Regel auf einen unauffälligen Neurostatus, der als Basisdiagnostik zur Überprüfung segmentaler Ausfälle nicht geeignet ist.
Auf dieser Ebene medizinischer Diagnostik sind ja nicht einmal übertragene oder projizierte Schmerzen bekannt. Die Facettengelenke projizieren in das Hinterhaupt und in den Nacken bis zum Schulterblatt. Die Nähe des N. vagus zum Atlas wurde hier schon beschrieben. Kommt es zu keinen sichtbaren Traumafolgen mit Frakturen, Dislokationen, haben die Patient:innen Nacken- und Kopfschmerzen, muskuläre Verspannungen, Bewegungseinschränkungen des Kopfes, die sich nicht innerhalb von 6 bis 12 Wochen zurückbilden …, führt die weitere Betreuung der Verletzen in die Psychiatrie, da die rein organbezogene Medizin ihren roten Faden verloren hat. Defizite in der Anamnese und Diagnostik, bildgend und körperlich untersuchungstechnisch, sollten zu keiner Sanktionierung führen. Ich will hier euch nicht verärgern, sondern dazu bewegen die Patient:innen in einem multidisziplinären und später in einem interdisziplinären Ansatz aufzuarbeiten, damit die Medizin sich weiterentwickeln und die Patient:innen schmerzarmer werden können. Die Psychiater haben in diesem Gefüge eine Rolle. Sie dürfen aber nicht mit den Patient:innen alleine gelassen werden. Denn für die somatischen Beschwerden sind immerhin noch die organbezogenen Ärzte zuständig. Die Patient:innen haben nur in Ausnahmefällen eine Begehrensneurose, Simulation oder eine Somatisierungsstörung …. Unsere Unwissenheit darf zu keiner Sanktionierung betroffener Patient:innen führen!
Wir sollten besser Algorithmen – bestehend aus Beschwerden, körperlichen und apparativen Untersuchungsbefunden und Bildgebung mit Funktionsbildgebung entwickeln, die die entstandenen Wissenslücken kompensieren und wissenschaftlich ausgewertet werden müssen.
Beschwerden einer Verletzung der Kopfgelenke gehen einher mit Benommenheit, Schwindel, Kribbeln im Gesicht, Abgeschlagenheit, Reizbarkeit, Tinnitus, Sehstörung, Konzentrationsschwäche, Ängstlichkeit, dumpfem Kopf, Gedächtnisstörung, Nebenhöhlenstauchungsschmerz, Augapfelschmerz. Eine Verletzung der Ligg. alaria geht mit einem haubenförmigen Kopfschmerz einher.
Nachweismethoden für folgende Strukturen sind zu identifizieren und zu verifizieren. Diese müssen wieder in das klinische Armamentarium von Spezialisten und interessierten Kollge:innen eingeführt werden, um diagnostische Lücken schließen zu können, denn diese Weichteilverletzungen führen zu einer Instabilität in den Kopfgelenken und zu den oben beschriebenen Beschwerden:
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der Alarligamente (Ligg. alaria)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der Gelenkkapsel(n) C0/C1 (Articulatio atlantooccipitalis)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der Gelenkkapsel(n) C1/C2 (Articulatio atlantoaxialis lateralis)
  • Verletzungen des Dens-Gelenks (Articulatio atlantoaxialis mediana, auch als Articulatio trochoidea des Dens axis bezeichnet)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der vorderen atlantookzipitalen Membran (Membrana atlantooccipitalis anterior)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der hinteren atlantookzipitalen Membran (Membrana atlantooccipitalis posterior)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der vorderen atlantoaxialen Membran (Membrana atlantoaxialis anterior)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) der hinteren atlantookzipitalen Membran (Membrana atlantoaxialis posterior)
  • Verletzungen (Überdehnungen, Zerreißungen) des Ligamentum transversum atlantis (seltener)
  • Verletzungen des Ligamentum cruciatum atlantis (Ligamentum transversum atlantis) und dessen anhängende vertikal laufende Faserzüge (Crus superius und Crus inferius)
Folgende Untersuchungen in der CT oder MRT sind durchzuführen: Kopfgelenk zuerst mit geradem Kopf, dann mit dem Kopf intensiv zu beiden Seiten rotiert; koronare und axiale Abbildungen. Unter vollständig nach links und rechts rotierten Kopf ist gemeint, dass das dem Patienten mögliche Bewegungsausmaß dargestellt wird, dann kann das Bewegungsausmaß und die Bewegungseinschränkungen dokumentiert werden. Die Bänder an Axis und Atlas, vornehmlich die Gelenkkapseln und Ligg. alaria, halten die Kopfgelenke so, dass insbesondere bei Seitenneigung und/oder Rotation immer ein gleichbleibend großer Spalt zwischen Dens axis und den Massae laterales des Atlas erhalten bleibt. Besteht eine Verletzung der bindegewebigen Strukturen, fällt auf, dass die Abstände rechts und links des Dens axis asymmetrisch sind. Ein Spalt wird breiter. Beschwerdebild für eine Verletzung der Ligg. alaria ist ein haubenförmiger Kopfschmerz. Die Veränderungen bei einer Verletzung der Flügelbänder werden auch als tanzender Dens axis bezeichnet, da der Dens axis nicht mehr zentriert in seiner Position zwischen den Massa lateralis atlantis in der Kopfrotation positioniert bleibt. Zudem verschieben sich die Wirbelkörper Aussenränder der beiden obersten Halswirbel, als Miss-Alignement im Röntgenbild oder coronaren Computertomogramm. Von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass Ligamente, Bänder, Gelenkkapseln keine Gummibänder sind, die sich nach Überdehnung wieder in die Ausgangsposition zurückziehen. Einrisse in Bandstrukturen führen zu Mikroblutungen in den Strukturen mit Auftreten einer ödematösen Schwellung, welche in der MRT in der T2-Gewichtung oder in der TIRN-Sequenz erkennbar sein können, wenn die Bänder dargestellt wären. Es müsste das „field of view“ dementsprechend gewählt werden, um diese Strukturen suffizient direkt in der MRT darstellen zu können. Eine Upright-MRT-Untersuchung könnte die Strukturen unter physiologischer Belastung darstellen. Unsere bisherigen Untersuchungen in der MRT und CT finden ja in Entspannung im Liegen statt und repräsentieren nicht den funktionellen Zustand im Gewebe. Eine senkrechte MRT-Untersuchung ist leider in Österreich nicht möglich.
Eine Abklärung der Kopfgelenke ist sinnvoll, da es sich um das sensibelste Segment der Wirbelsäule handelt, in dem die hochpräzise und fein abgestimmte Kopfeinstellung eines liegenden, sitzenden, laufenden, springenden Menschen erfolgt. Die neurologische Untersuchung kann die Integrität der Gelenke, Bänder, Muskulatur nicht erfassen. Deswegen werden die Untersuchungstechniken durch einfache manuelle Untersuchungsgänge erweitert werden müssen.
Die Trias Beschwerdebild/Symptomatik, klinischer Befund und bildgebende Diagnostik ist Voraussetzung für eine korrekte Versorgung unserer Patient:innen. Die Symptomatik mit der Bildgebung in Einklang zu bringen, ist zu wenig, das ist ein Bias ohne klinische Bestätigung der Diagnose (Tri – Bi).
Therapie.
Multimodale Schmerztherapie, konservative Therapie mit Haltungskorrektur, Beckenaufrichtung, muskuläre Kräftigung bis hin zur Operation zur Stabilisierung der Kopfgelenke.

Einfluss einer Verletzung der Kopfgelenke

Es besteht ein direkter Einfluss auf Spinalnerven und die Nacken‑/Halsmuskulatur mit Auswirkungen und Beeinträchtigungen der aufrechten Haltung. Daraus resultiert eine schnellere Degeneration in der Halswirbelsäule und des Skelettsystems, was zum Alterungsprozess beiträgt.
Der hintere Blutkreislauf mit den Vertebralarterien kann beeinträchtigt werden. Die versorgten Strukturen sind Hirnstamm, Kleinhirn, dorsaler Anteil des Sehzentrums, Hörzentrum, Innenohr, hinterer Anteil des Hippocampus. Im unteren Hirnstamm befinden sich die Regulationszentren für den Blutdruck, Herzfrequenz, Atmung, Körperbalance und Körperhaltung.
Durch das Foramen jugulare zieht der N. vagus und verläuft direkt vor dem Atlas, was ihn viel vulnerabler macht als Spinalnerven oder das Rückenmark.
Differenzialdiagnosen.
Welche Diagnosen können durch Verletzungen der Halswirbelsäule, speziell der oberen Halswirbelsäule entstehen? Barré-Lieou-Syndrom, zervikozephales Syndrom, sympathisches hinteres Zervikalsyndrom, kraniomandibuläre Dysfunktion, Peitschenschlag-Trauma, atlantoaxiale Instabilität, Arteria-vertebralis-Insuffizienz.
Hierzu mehr in der nächsten Ausgabe.
Infobox
In seiner Kolumne arbeitet Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner, Universitätsklinik für Neurochirurgie an der MedUni Innsbruck und Präsident der ÖSG, die unterschiedlichen Rückenschmerz-Entitäten für den klinischen Alltag auf und gibt praktische Tipps für Diagnose- und Therapieansätze. Reaktionen an: wilhelm.eisner@i-med.ac.at
Die bereits erschienenen Beiträge zu dieser Serie finden Sie auf pains.at: www.​pains.​at/​schmerzmedizin/​serie-spezifischer-und-unspezifischer-rueckenschmerz

Interessenkonflikt

W. Eisner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Hinweis des Verlags

Der Verlag bleibt in Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutsadressen neutral.
Metadaten
Titel
Halswirbelsäule und Kopfgelenke
Halswirbelsäule und Kopfgelenke
Serie spezifischer und unspezifischer Rückenschmerz: Teil VII
verfasst von
Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Eisner
Publikationsdatum
01.02.2024
Verlag
Springer Vienna
Erschienen in
Schmerz Nachrichten / Ausgabe 1/2024
Print ISSN: 2076-7625
Elektronische ISSN: 2731-3999
DOI
https://doi.org/10.1007/s44180-024-00174-2

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