Die soziale Krankenversicherung ist nicht für die Prävention zuständig. Sie könnte hier zwar deutlich mehr investieren, aber erhielte sie das Geld von den solcherart entlasteten Spitälern refundiert? Ein Gespräch über Vorsorge, das tief in das Innere des Gesundheitswesens vordringt.
Wenn es um die wissenschaftliche Einordnung der Gesundheitspolitik in Österreich geht, ist er oft der erste Ansprechpartner: Dr. Thomas Czypionka, Leiter der Arbeitsgruppe für Gesundheitsökonomie und Gesundheitspolitik am Institut für Höhere Studien in Wien.
Dr. Thomas Czypionka plädiert für einen Vorsorgepass, der alle Vorsorgeuntersuchungen auflistet.
Bund und Länder streiten über die Finanzierung des Gesundheitswesens. Man hat den Eindruck, dass es dabei immer nur um Geld für die Versorgung der Kranken geht, aber nie um Geld für Vorsorge, die hilft, Krankheiten zu vermeiden. Stimmt dieser Eindruck?
Thomas Czypionka: Es wird schon über Prävention gesprochen, aber nicht in dem Ausmaß, wie wir uns das wünschen würden. Das Problem mit der Prävention ist, dass der Nutzen erst in ferner Zukunft eintritt. Wir wissen aber, dass die Politik sozusagen etwas kurzsichtig ist, also mehr auf die nächsten Jahre schaut.
Hinzu kommt, dass Prävention, also das Vermeiden von Krankheiten, gar nicht die gesetzliche Aufgabe der sozialen Krankenversicherung ist. Und Krankenhäuser sind per definitionem nicht für Gesunde da. Das nächste Problem: Wenn die Krankenkassen mehr Geld in – erfolgreiche – Prävention investieren würden, also in Früherkennung, aber auch Frühbehandlung, dann würden die Krankenhäuser Kosten sparen. Aber würden die Spitalsträger dann Geld an die Krankenkassen überweisen?
Andreas Huss, der Obmann der Österreichischen Gesundheitskasse, hat in jüngster Zeit mehrfach versprochen, dass die Kasse in Zukunft deutlich mehr Geld in die Prävention investieren will als bisher. Die Rede ist von rund 700 Millionen Euro pro Jahr. Was könnte man mit diesem Geld am sinnvollsten machen? Mehr Darmkrebs-Vorsorge?
Czypionka: Das müsste man sich im Detail genau anschauen. Prävention spart nicht per se Kosten. Das sieht man zum Beispiel beim Mammografie-Screening. Da hat man richtigerweise Altersgrenzen eingeführt, weil man diesseits und jenseits dieser Grenzen auch bei sehr vielen Untersuchungen nur sehr wenig zusätzliches Überleben, aber viele unnötige Untersuchungen erreicht.
Es geht also darum, Maßnahmen zu definieren, bei denen es sich wirklich lohnt, Geld in die Hand zu nehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Darmkrebs-Vorsorge. Hier tun wir in Österreich derzeit zu wenig.
Würden wir mehr tun, könnten wir viele Fälle von Dickdarmkrebs verhindern. Beim Gebärmutterhalskrebs sehen wir ganz klar, dass Vorsorge hilft. Beim Darmkrebs könnte es ähnlich sein, einfach weil die Früherkennungsraten sehr hoch sind.
Also: Was tun?
Czypionka: Derzeit ist die Situation paradox: Einige wenige gehen jedes Jahr zur Vorsorgeuntersuchung, also viel öfter als nötig – und der Großteil der Bevölkerung geht gar nicht. Ein wichtiger Punkt aus meiner Sicht wäre die Einführung eines Vorsorgepasses. Da würde dann drinnen stehen, welche Vorsorgeuntersuchungen für meine Altersgruppe zur Verfügung stehen und sinnvoll sind.
So könnte man zum Beispiel je nach Risikofaktoren Männer ab 55 darauf hinweisen, dass sie ein erhöhtes Risiko für einen Aortenriss haben. Das wissen die meisten gar nicht. Diese und andere Hinweise gehören in einen elektronischen Pass, wo man dann auch per SMS daran erinnert wird, dass es Zeit ist, diese oder jene Untersuchung zu machen.
Die Gesundheitsökonomin Maria Hofmarcher hat in einer großen Studie im Jahr 2020 darauf hingewiesen, dass die Zahl der gesunden Lebensjahre in Österreich sehr unterschiedlich ist. Im Westen fast 69 Jahre, im Osten nur 62,5 Jahre. Worauf ist das zurückzuführen?
Czypionka: Unser Problem ist, dass wir eine sehr schlechte Datenlage haben. Es gibt alle fünf Jahre die Gesundheitsbefragung. Aber das sind Selbstauskünfte und keine Auswahl von Diagnosen. Viele Leute wissen zum Beispiel gar nichts über ihren Cholesterinspiegel. Das ist paradox: Hypercholesterinämie ist einer der wichtigsten Risikofaktoren für Herzinfarkt. Wir bräuchten einen viel besseren Überblick über den Gesundheitszustand der Bevölkerung. Erst dann können wir entsprechende Maßnahmen setzen.
Ein sehr österreichisches Problem ist, dass immer noch nicht alle Ärztinnen und Ärzte bereit sind, Diagnosen nach einem international anerkannten Schema zu erfassen, obwohl man daraus – anonymisiert – wertvolle Informationen für die Gesundheitspolitik gewinnen könnte.
Czypionka: Zunächst einmal würden uns schon sogenannte Sentinel-Untersuchungen sehr helfen. Bei Infektionskrankheiten haben wir so ein System: Einzelne Hausärzte melden ihre Diagnosen, und daraus wird dann hochgerechnet. Oder denken Sie an die Stellungsuntersuchungen beim Bundesheer. Da gab es lange Zeit keine Daten, das hat sich Gott sei Dank geändert. Was wir immer noch nicht haben, sind die Daten der Kinder- und Jugenduntersuchungen in den Schulen. Die würden uns z. B. Hinweise geben, wie sich die Adipositas in den nächsten 20 Jahren entwickeln wird.