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Ärzte Woche

20.09.2021 | Geschichte der Medizin

Renaissance des Wahnsinns

verfasst von: Annabella Khom

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Die ehemalige Irrenanstalt zu Wien mauserte sich zum neu sanierten Altbau mit exklusivem Ausblick. Ein Exponaten-Hit, ideal für Krankheiten aller Arten und Unarten.

Der Wiener Narrenturm präsentiert sich im neuen, arielweiß gewaschenen Kleid und gönnte seinem pathologischen Schatz ein minimalistisches Makeover. Interessierte sollen nicht mehr zum „Leich´ schaun“ kommen, sondern eine zeitgemäß adaptierte Sammlung vorfinden, die eine bewusst sterile klinische Sicht auf pathologisch veränderte Körperareale bietet. Der morbide Charme ging im Zuge der Modernisierung zwar verloren, das passionierte und vom Grauen gebeutelte Stöbern in anatomischen Abnormalitäten wird auf diese Weise zugänglicher und für manche Besucher so erst zumutbar.

Voyeurismus, ade


In der weltweit größten Sammlung abgekochter, tranchierter und in Formaldehyd eingelegter Absonderlichkeiten werden seit mehr als 200 Jahren rund 50.000 erkrankte Körperteile und Organe als Feuchtpräparat oder Wachsabdruck zur Dokumentation, zum Verständnis und zur Erforschung pathologischer Veränderungen exponiert. Die plakativ demonstrierten Krankheiten sind heute nicht minder aktuell als zu Beginn der „k. k. Irrenanstalt im Narrenthurm“, welche die weltweit erste Einrichtung war, in der psychisch auffällige Menschen menschenwürdig behandelt wurden, anstatt weggesperrt zu werden. Unter allen dargestellten Krankheiten sind einzig die Pocken nicht mehr von Bedeutung, diese wurden durch eine weltweite Impfaktion ausgelöscht.

Die Neugestaltung und die behutsam durchgeführten Renovierungsarbeiten wurden von den Architekten Thomas Kratschmer und Martin Kohlbauer in enger Zusammenarbeit mit Archäologen, Bauforschern und Restauratoren sowie dem Bundesdenkmalamt realisiert.

Großer Wert wurde auf den wissenschaftlichen Charakter der Sammlung gelegt. So sind die neugestalteten Ausstellungsräume, die ehemaligen Patientenzellen, bewusst sachlich gestaltet. Besucher sollen ihre voyeuristischen Tendenzen beiseitelegen, denn „die kultivierte Vermittlung steht im Vordergrund“, sagt Eduard Winter, Kustos der pathologisch-anatomischen Sammlung. Die Ausstellung wird außerdem durch qualifiziertes Feedback von Ärzten und Studenten der Medizin laufend adaptiert. Die Geschichte des Narrenturms ruft Emotionen hervor. Der aufgeklärte Herrscher Kaiser Joseph II. hat auf seinen Reisen Hungersnöte, Leibeigenschaft und grauenvolle Gewalt gesehen, „das hat ihm das Herz gebrochen“, sagt Winter. In Böhmen hat der Kaiser einst seinen Leibarzt zurückgelassen, damit er sich um offensichtlich geisteskranke Menschen kümmert.

Ungewöhnlich modern


Der vom Kaiser beauftragte kreisförmige Sehnenbau im Stil des revolutionären Klassizismus ist ein Rundbau mit 28 Zellen pro Stockwerk. Das kellerlose und fensterreiche Gebäude sollte verhindern, dass psychisch Kranke luftlos und im Dunkeln eingesperrt. Sie sollten behutsam gepflegt werden. Nur Räume mit Tobenden und unzurechnungsfähigen Patienten wurden verschlossen. Jede Zelle hatte einen eigenen Abtritt, dessen Fäkalien ein Ringkanal abführte. „Modernste Installationen für die damalige Zeit“, sagt Kohlbauer. Pro Geschoss befand sich eine autonome Gemeinschaft mit jeweils einem Oberarzt und mehreren PflegerInnen. Jede Etage konnte über 70 Patienten fassen, üblicherweise lag die Auslastung um die 50, da jeder Patient sein eigenes Zimmer haben sollte. Behandelt wurden wahnwitzige Geisteskrankheiten sowie psychisch soziale Auffälligkeiten. Es gab eine eigene Abteilung für Alkoholkranke, welche regelmäßig zu Ausnüchterungskuren eincheckten. Den ersten Stock bewohnten die „Militärirren“, also schwer traumatisierte Personen. Die leidvollen Schicksale der geistig Abnormen hielt die bessere Wiener Gesellschaft freilich nicht davon ab, regelrechte Familienausflüge zu den „Dodln“ zu machen und „zum Narren necken“ zur Alsergrunder Rotunde zu pilgern, welche auch formgeschuldet den Beinamen Gugelhupf trug.

Abgelegen im hintersten Hof des Alten AKH-Geländes erstrahlt die einstige Anstalt für geistig Umnachtete wieder in neuem Licht und dient heute einem modernen Wissenstransfer auf gehobenem wissenschaftlichen Niveau.


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Metadaten
Titel
Renaissance des Wahnsinns
Publikationsdatum
20.09.2021
Zeitung
Ärzte Woche
Ausgabe 38/2021

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